Online Bazon Brock zum Israel-Gedicht des Nobelpreisträgers Grass

Erschienen
08.04.2012

Erscheinungsort
München, Deutschland

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„Grass hat in gravierender Weise Kontrollverlust erlitten“…

Interview mit FOCUS-Online-Redakteur Daniel Steil

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bezeichnet das Israel-Gedicht von Literaturnobelpreisträger Günter Grass als „ekelhaft“. Für Liedermacher Wolf Biermann ist es eine „literarische Todsünde“. Der Ästhetik-Professor Bazon Brock spricht nun im FOCUS-Online-Interview davon, dass Grass nicht mehr „Herr seiner Sinne“ sei.

FOCUS Online: Herr Professor Brock, wie kommen Sie zu einer solchen Annahme?

Professor Brock: Es ist wirklich bedenklich, wenn jemand meint, die Welt existiere nur, wenn er sie durch seine eigene Aussprache anerkenne. Das heißt: Grass sagt, er müsse das Schweigen brechen, um zu sagen, von Israel gehe eine Gefahr für den Weltfrieden aus. Obwohl seit 40 Jahren vor allem die islamischen Staaten, zuletzt die Türkei und die gesamte deutsche Linke das sagen. Es geht also hier ganz offensichtlich eine psychiatrische Auffälligkeit mit jemandem durch. Das Erste, was ich dachte, war: Grass ist nicht mehr Herr seiner Sinne. Grass folgt keiner politischen Debatte, sondern er sieht sich als allmächtig nur durch sein eigenes Diktum. Das ist ein gefährlicher Wirklichkeitsverlust.

FOCUS Online: Sehen Sie die Zeilen von Grass überhaupt als Gedicht?

Brock: Grass nennt es ein Gedicht. Er tritt als Literat auf und desavouiert eine ganze Gattung. Denn wenn das ein Gedicht sein soll, was er da runterschmiert, dann gibt es überhaupt keine Dichtung mehr. Da sind ja Holper-Stolper-Formulierungen drin wie „… wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muss ...“. Selbst auf dem Dorf würde ein Leitartikler einer Ladeneröffnungszeitung einen solchen Unsinn nicht mehr schreiben. Das ist die Kapitulation vor der Fähigkeit, irgendeinen Gedanken zu formulieren. Das ist der Verlust der Souveränität, etwas Anspruchsvolles zu meistern.

FOCUS Online: Denken Sie, er hat die Zeilen absichtlich so formuliert?

Brock: Nein! Er hat in gravierender Weise Kontrollverlust erlitten. Weil er selber ein durch und durch totalitärer Charakter ist, ist es bei ihm wirklich Natur geworden, anzunehmen, wenn er etwas sage, dann habe das Bedeutung. Er denkt: Wenn ich, der Nobelpreisträger, spreche, dann interessiert ihn das, was die anderen bereits seit 40 Jahren sagen, einen Dreck. Dieses Symptom ist durch jahrzehntelanges Hofieren durch alle Medien und die Verleihung des Nobelpreises an Grass entstanden, der größenwahnsinnig und allmachtswahnsinnig geworden ist. Der darin typisch deutsch ist, dass er diese Allmachtsvorstellung nutzt, um zu sagen, ich will doch bloß die Welt retten, während ihr anderen sie einfach nur vernichten wollt. Das ist wirklich eine traurige Kuriosität.

FOCUS Online: Was hat Grass gesellschaftlich angerichtet?

Brock: Das interessiert ihn nicht. Wer sich selbst in den Mittelpunkt stellt und wie Kaiser Wilhelm sagt: Was Kunst ist, bestimme ich – im Falle von Grass: Was ein Gedicht ist, bestimme ich –, der nimmt auf die Gesellschaft keine Rücksicht.

FOCUS Online: Sie kritisieren scharf. Hätte Grass denn eine Chance gehabt, auf etwas aufmerksam zu machen?

Brock: Wenn er auf den tatsächlichen Punkt gestoßen wäre, bei dem es in dieser Aktion gegangen ist, dann hätte er auch eine Chance gehabt. Aber es ist höchst bedenklich, dass er diesen Punkt nicht gesehen hat. Er hat es also nicht durchdacht oder er konnte es nicht durchdenken. Es war einfach ein Reflex, kindisch und blöd.

FOCUS Online: Was wäre der Punkt gewesen?

Brock: Das Kernstück hätte sein müssen: Warum schenkt Israels Ministerpräsident Netanjahu US-Präsident Obama bei dessen letztem Besuch eine Festrolle mit dem Buch „Esther“, das die Diaspora der Juden am persischen Hof schildert? Grass hätte schreiben können, was es bedeutet, wenn sich ein Volk auf Literatur berufen muss, wie etwa die Deutschen auf das Nibelungen-Lied, um Nibelungen-Treue zu beschwören. Das wäre eines Literaten würdig gewesen.

FOCUS Online: Netanjahu hat Obama auch Aufzeichnungen des US-Außenministeriums übergeben, die 1944 erstellt wurden und aus denen hervorgeht, dass trotz Bitten von jüdischen, polnischen und anderen Exilanten das KZ Ausschwitz nicht verhindert wurde.

Brock: Es gab nur sechs Eisenbahngleise nach Auschwitz. Wenn diese gesprengt worden wären, hätte es Auschwitz nie geben können. Roosevelt, Stalin und Churchill haben das systematische Töten von Juden trotz klarer Beweise nicht unterbunden. Sie hätten diese Gleise sprengen können, doch sie haben es nicht getan. Netanjahu gibt Obama damit zu verstehen, dass die Amerikaner damals den Holocaust nicht verhindert haben und sich damit mitschuldig gemacht haben. Hier stecken also die großen Dimensionen in diesem Fall und die hätte ein Grass erkennen müssen. Doch mit seinen Zeilen ist er in der Widersinnigkeit geendet.

FOCUS Online: Auf welche aktuellen Ereignisse spielte Netanjahu mit dieser Botschaft an?

Brock: Die klare Botschaft, die hier überbracht wird, ist, dass es eine solche Situation wie Auschwitz nie weder geben darf. Damit wird eine neue Dimension eröffnet, weil Netanjahu klar sagt, dass auch die Amerikaner Schuld am Holocaust haben. Netanjahus Botschaft ist klar: Amerika muss den Präventivschlag mit Israel gegen den Iran führen oder glaubhaft versichern, dass die Iraner keine Atombombe bauen. Doch mit diplomatischen Mitteln wird das nicht funktionieren. Das funktionierte schon in Indien, Pakistan und Nordkorea nicht. Deshalb wird es auch nicht im Iran funktionieren. Und der Iran hat als erklärtes Ziel die Vernichtung von Israel. Deshalb gibt es von Netanjahu eine klare Botschaft an die amerikanischen Freunde. Das hätte der Literat Günter Grass erörtern können, als eine Stimme unter Millionen Stimmen. Offenbar hält er solche Nachbarschaft seiner nicht für bedenkenswert.