Aids der Wünsche – Die Verpackung als Verhüterle
„Darf ich es als Geschenk einpacken?“ fragt die Verkäuferin im Blumenladen. Ja, wird denn der herrliche Strauß erst durch die Verpackung zum Geschenk? Sagt das Geschenk durch die Verpackung „Ich bin ein Geschenk“ – oder sagt der Schenkende: „Ich schenke Dir hier etwas, meine Dankbarkeit, meine Aufmerksamkeit.“
Schenkt man denn eigentlich Geschenke – oder ist nicht vielmehr das Geschenk nur eine Verpackung der geschenkten Zuneigung?
Und das verpackte Geschenk? Soll die Verpackung das Geschenk nur größer erscheinen lassen, kostbarer, als es wirklich ist? Das hätte doch eigentlich nur derjenige nötig, der sich wenig Mühe gab, mit dem Geschenk seine Annäherung an den Beschenkten ausdrücken zu können. Ist also die Verpackung eine unfreiwillige Enthüllung eines allzu untauglichen Geschenks?
„Dieses Mal feiern wir aber Weihnachten ohne allen äußerlichen Firlefanz, ohne festlich verpackte Geschenke und so“, verkündeten aufgeklärt kritische Jungakademiker; „ist ja sonst bloß ein Fest des Konsumrausches anstatt das der familiären Nähe und der freudigen Verkündung.“ (1) Als sie dann am Heiligen Abend einander gegenüberstanden, fühlten sie sich hilflos, beschämt und sehnten sich nach den vertrauten Gesten, mit denen sie früher ihre Geschenke einander überreicht hatten. Wie entlastend waren diese Gesten gewesen; sie signalisierten, daß man, nur auf die schöne innere Welt der Wünsche und Visionen gestellt, sich den anderen doch nicht eröffnen kann, auch wenn man es ganz ehrlich meint und herzliche Worte findet. Die Worte, das bloße Aussprechen der Zuneigung reichen offensichtlich nicht aus; sie scheinen nur noch eine Ankündigung für das zu sein, was dann leider nicht mehr folgt. Nie mehr Weihnachten ohne Weihnachtsverpackung, meinten die Weihnachtskritischen. Die Verpackung scheint doch mehr zu sein als eine konventionelle Äußerlichkeit.
„Bitte unterstützen auch Sie Christos Projekt, den Reichstag in Berlin zu verpacken“, bitten Rundbriefe der Freunde Christos. Die Verpackung erst thematisiert das Verpackte; ohne Verpackung keine Erwartung, ohne Erwartung keine Auseinandersetzung – mag die nun zur Bestätigung oder Enttäuschung der Erwartung führen.
Der noch gar nicht so alte Kasten „Reichstag“ wurde über Jahre als Denkmal Deutscher Geschichte und als Mahnmal für das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot zur Schau gestellt. Sichtbar scheint seine Bedeutung erst durch die Verpackung zu werden, die das Bedeutende den Augen entzieht und als Leerstelle formuliert, in die wir unsere Visionen hineinprojizieren können. Erklärt sich der Widerstand gegen Christos Projekt aus dem Mangel an solchen Visionen, aus der Furcht vor Auseinandersetzung? Wie versteht sich aber dann der stets wiederholte Hinweis der Projektgegner, Christos Verpackung beschönige mit einer Kunstwerkaura die nackte Wahrheit der Geschichte, die sich im Reichstagsgebäude manifestiere? Der Bau selbst sei doch Verpackung der geschichtlichen Kräfte und der politischen Visionen eines Volkes, sagen sie; und was für welcher! Aus Ruinen sprechende Visionen! Dann hätte man den Reichstag ja als Ruine stehen lassen können. Die restaurierte Hülse, die zurechtgefummelte Fassade vor einem leeren Kern könnte gerade durch die Verpackung einen Teil ihrer historischen Wahrheit wiedergewinnen, die als nackte Tatsache niemanden zu überzeugen vermag. Unsere verständlichen Wünsche, daß es in der Geschichte Fortbestand und Dauer geben möge, werden durch Christos Verpackung zum Thema erhoben: Wir bannen unsere Angst vor den ständigen Veränderungen gerade durch die provisorische Verpackung, die uns sagt, noch sei ja nichts endgültig entschieden.
Nichts ist so unverwüstlich wie die Verpackung; kommt es also gerade auf sie an? Das jedenfalls scheinen jene jungen Frauen zu meinen, die gerade vor Gericht heftig bestreiten, mit ihrer „optisch auffälligen Bekleidung“ auf ihre attraktiven Körper aufmerksam machen zu wollen. (2) Einige Männer scheinen das nicht verstanden zu haben. Wozu diese aufreizende Verpackung, fragten sie und handelten entsprechend, wenn die Verpackung nicht auf das Verpackte verweisen soll und vor allem darauf, daß es ausgepackt werden möchte? Jetzt haben sie die Bescherung! Die Ermahnung des Richters: „Mehr Dialektik, meine Herren,“ ist ihnen wenig hilfreich, denn auch die Dialektik von Oberfläche und Tiefe, von Erscheinung und Wesen legt ja nahe, durch die Oberfläche an das unter ihr Liegende heranzukommen; auch die bloß dialektisch stimulierende Verpackung reizt, den Inhalt anzueignen. Nein, sagen die Frauen, durch unsere Verpackung führen wir euch vor Augen, was nur als Wunschvorstellung, nicht aber als ein Tun Erfüllung erlaubt. Erotik durch Verpackung, nicht sexuelle Befriedigung durch nackte Tatsachen, die am Ende stets ein Risiko bleiben, sei es das der Zerstörung oder das der Langeweile durch Gewöhnung. Im Zeitalter von Aids, meinen die Frauen, hilft die Dialektik von Verhüllen und Enthüllen nicht mehr weiter. Die Vermeidung des zerstörerischen Ernstfalls, die Kondomisierung der Wünsche ist gefordert. Gilt das nicht längst schon für alle Bereiche unserer Kultur?
Die Verpackungen sind nicht mehr schöner Vorschein der nackten Wahrheit, auch nicht die der nackten Waren. Die Verpackungen verhelfen vielmehr den Waren zu einer erotischen Aura, zur Kraft des Wünschbaren, das aber prinzipiell nicht mehr durch den Gebrauch der Waren gelöscht werden kann. Erotik schafft Distanz, thematisiert die unüberbrückbare Differenz von Wunsch und Erfüllung. Inhalt und Form, Gestalt und Funktion der Waren sind nicht mehr identisch, können es nicht sein; sollen es nicht sein. Die einstigen Ideale der Gestaltung dienen nur noch als kritische Dimension, als Verhüterle, nicht aber als zu erfüllende Programme der Gestaltung. Wir haben zu leben mit der unaufhebbaren Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, von Form und Inhalt. Die Verpackung darf auch nicht mehr zwischen Ware und Käufer, zwischen Gestalt und Funktion, zwischen Oberflächenerscheinung und chemisch/physikalischer Struktur vermitteln. Die Verpackung stellt sich zwischen sie, hält auf Distanz, schafft Differenz und verhindert so den Terror angeblich zwingender Übereinstimmung von Produktion und produziertem Produkt; sie verhindert also die totalitäre Behauptung der Wahrheit als vollständig gesicherter Identität von Wesen und Erscheinung der Produkte; die eben können Menschen nicht garantieren. Unkontrollierbare Nebenwirkungen gibt es nicht nur bei Medikamenten, sondern bei allem, was Menschen hervorbringen. Also Verzicht auf die Wahrheit? Ja, das fördert die Vorsicht des Produktbenutzers ganz entscheidend! Wird damit die Verpackung nicht zu etwas bewußt Falschem? Ja, aber nur das Falsche ist als solches, als offen Erkanntes und Eingestandenes noch wahr.
Die stets geforderte wirklich „ehrliche“ Verpackung ist die verantwortungsbewußt falsch gestaltete, die nicht mehr die ohnehin illusionäre Identität von Wesen und Erscheinung des Produkts behaupten will. Die Verpackung ist das Kondom gegen die unbeherrschbaren Folgen naiven Gebrauchs von Produkten und Meinungen. Aufklärung tut not über die sozial erworbene Immunschwäche gegen den Ideologiezauber mit der Identität von Gestalt und Funktion der Produkte. Diese Aufklärung fördert die Verpackung, wenn sie darauf besteht, eigenständiger schöner Schein zu sein.
• (1) ZEIT-Magazin 50/88.
• (2) Brock – Seminar WS 85/86 – Rekonstruktion einer Gerichtsszene: Wegen sexueller Nötigung angeklagte Männer verteidigen sich mit dem Hinweis, die Frauen hätten mit aufreizender Kleidung und ebensolchen Gebärden die inkriminierten Handlungen angestrebt.
siehe auch:
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Aids der Wünsche – Die Verpackung als Verhüterle – Abschnitt in:
Die Re-Dekade
Buch · Erschienen: 1989 · Autor: Brock, Bazon