„Erde ist der Acker, das Feld, aber auch die belastete Umwelt. Erde ist der Kloß, aus dem Gott den Menschen formte, aber auch der Acker, in den Abels Blut versickerte. Erde ist der Inbegriff der Fruchtbarkeit und des Lebens, aber auch, als ‚verbrannte Erde’, apokalyptisches Bild“, schreibt Dieter Göltentboth anläßlich des Ausstellungsprojekts „Erde-Zeichen-Erde“ 1992, in dem Marianne Greve mit ihren „Erdbüchern“ vertreten war. Erdbibliotheken (wie Pflanzen- und Baumbibliotheken) gibt es als Form der Sammlung seit dem 17. Jahrhundert. Daß den Erdböden in vielfacher Hinsicht ihre Geschichte, unsere Geschichte und die Schöpfungsgeschichte eingeschrieben sind, veranlaßte dazu, diese Dokumente wie andere in Bibliotheken zusammenzufassen, um sie zu bewahren und zu entschlüsseln. Sobald wir diese Dokumente verstanden haben, werden sie zu heiligen Schriften. Das äußerte sich nicht immer nur in anrührenden Gesten wie denjenigen, mit denen noch heute etwa schwedische Regimenter zu Jahrestagen der Schlacht von Lützen Erde von der Stelle nach Hause tragen, an der Gustaf Adolf 1632 fiel. Aus dieser pietätvollen Erdentnahme konnte auch eine wahre Landnahme entstehen. Der spätere NS-Minister Walther Darré propagierte seit 1930 die Formel „Blut und Boden“ zur Rechtfertigung der Erweiterung des Lebensraums: „Das Konzept von Blut und Boden gibt uns das moralische Recht, so viel vom Land im Osten zu nehmen wie nötig ist, um eine Harmonie zwischen unserem Volkskörper und dem geopolitischen Raum herzustellen.“ Auffällig ist die Ansammlung der Prunkgeräte auf dem quadrierten Steinfußboden im Galeriebild van Dycks. [Abb. S. 100/101] Hätte man die kunstvollen Objekte als einzelne zeigen wollen, wäre es sinnvoller gewesen, sie isoliert voneinander, auf dem Boden verteilt dem Betrachterblick zu offerieren. Offensichtlich aber sollten nicht die einzelnen Resultate der Kunstfertigkeit, sondern die Form ihrer Aneignung im Besitz des Kunstsammlers demonstriert werden. Haufenbildung ist eine Struktur der Versammlung. Die Sammlung, der ganze Haufen, ist mehr als die bloße Summe addierter Teile. Im 17. Jahrhundert beginnt man zu sehen, was Anhäufung, Versammlung als Sammlung, leistet: durch das Zusammenstellen der einzelnen Elemente entsteht eine Beziehung zwischen ihnen, die als sinnhafter Zusammenhang den einzelnen Werken nicht eigen ist. Man entdeckte ein Beziehungsgefüge auch zwischen Dingen, die nach Art und Herkunft kaum etwas miteinander gemeinsam haben. In den Kunst- und Wunderkammern wurden eben nicht die einzelnen Dinge ihrer Kuriosität wegen versammelt; vielmehr stellte man in ihnen Sinnzusammenhänge aus. Das demonstrative Selbstbewußtsein der Galeriebesucher resultiert nicht nur aus dem Besitzerstolz und der Verfügungsgewalt. Die Sammler werden weit über die Leistung der einzelnen Werke hinaus zu Stiftern von Sinn. Im übrigen konnte man durch Schichtung in der Ansammlung begrenzte Flächen optimal nutzen. Der Raum über dem Boden erweitert sich um alles, was darauf ist.
Abbildungen:
S. 100/101: Anthonis van Dyck, Atelierbild von 1640.
Van Dyck zeigt die Ansammlung von Bildwerken und Luxusgerätschaften in den Formationen von Haufenbildung und Reihung.
S. 101: Marianne Greve, Erdbücher, ab 1983 fortlaufend.
Die Künstlerin sammelt in buchförmigen Plexiglasbehältern Erdformationen aus allen Weltgegenden, jeweils so geschichtet, wie sie am Ort vorkommen.
[S. 102:]
In der islamischen Welt ist das Prinzip des pars pro toto am deutlichsten in der Gestaltung der Gebetsteppiche auszumachen. [Abb. S. 102, Nr. 1] Der Gläubige hat fünfmal täglich auf reinlichem Boden, ausgerichtet auf die heiligen Stätten Mekka und Medina, seine Gebete zu verrichten. Gebetsteppiche, in drei Standardgrößen hergestellt, konkretisieren die Ausrichtung auf die Heiligtümer, soweit sie eine gestalterische Repräsentation jener Raumnische aufweisen, die in der ersten Moschee von Medina (um 700) den Standort des Imam markierte. Die Apside ist aus der antiken Architektur als Auszeichnung des Standorts der etruskischen Könige oder aber der römischen Konsuln auch in die christlichen Basiliken übernommen worden. Die islamische Apside, die Mihrab, wurde durch vorgeblendete Säulen und Giebel als Tor ausgewiesen, das in die Sphäre der Weisheit oder der himmlischen Gefilde führt. Die Mihrab orientiert in den Moscheen die Gläubigen auf Mekka und darf, nachdem sie einmal angelegt wurde, auch bei Umbauten nicht verändert werden. Aus der Konfrontation des Gläubigen mit dem Mihrab-Tor zum Himmel wurde im Arabischen auch für das Alltagsleben die allgemeine Grußformel „Salam alaikum“ – „Das Heil Gottes umschließe Euch“ – abgeleitet. Das können wir an den seit der Antike bis in Goethes Weimarer Haus vermittelten Tradition nachvollziehen, in den Boden vor der eigenen Haustüre die Inschrift „Salve“ einzubringen [Abb. S. 102, Nr. 2]; denn in dieser Grußformel steckt der Hinweis auf das heilige Gastrecht und die Schutzfunktion des Gastgebers für den Gast genauso, wie der Hinweis auf Christus als Salvator Mundi, als Heilsstifter der Welt. Immer wieder wurde versucht, kultisches und häusliches Ritual, öffentliche und private Sphäre aufeinander zu beziehen. In zwei Hinsichten wurden diese Versuche historisch wirksam: in der Stiftung einer zivilen Religion durch die Freimaurer und in der Etablierung des zivilen Kultorts ,,Museum“, des Tempels der Kunstgläubigen. Zu Beginn des 18 . Jahrhunderts entstand in England die Vereinigung der „Freemasons“, die bei der Aufnahme in ihre Logen ein bis heute geheimnisumwittertes Zeremoniell zu absolvieren hatten. Darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Die obige Abbildung [Abb. S. 103, Nr. 2] legt nahe, daß die zu Initiierenden einem auf dem Boden liegenden Bildprogramm konfrontiert wurden, das (wie die Gebetsteppich-Mihrab) auch auf den Urtempel, in diesem Fall den Salomonischen, orientiert. Die Sieben Stufen zur Weisheit werden von Säulen flankiert. Auf der durch Fensternischen markierten Wand des Tempels sind die Insignien der Freimaurer positioniert, die den Instrumenten, mit denen Baumeister arbeiten, nachgebildet sind. In anderen Darstellungen wird auf dem Teppich eine Schrittfolge angegeben, die der Einzuweihende zwischen Flammenschalen gehen muß: „Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden, Wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden; Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann, Schwingt er sich aus der Erde himmelan. Erleuchtet wird er dann imstande sein Sich den Mysterien der Isis ganz zu weihn“ – soweit die „zwei Geharnischten“ in der „Zauberflöte“. Mozarts Oper förderte, wie auch viele andere Kunstwerke des 18. Jahrhunderts, die Freimaurerei als eine Vernunftreligion für zivilisierte Menschen. Imi Knoebel legt auf den Boden des musealen Ausstellungsraums eine Vielzahl von Paketen seiner Bildtafeln, die nicht mehr als Augenkitzel wirken sollen, sondern den Gedanken an den „Bau“ des Kunstwerks wachzurufen haben. [Abb. S. 103, Nr. 1] Senkblei, Richtscheit und Zirkel repräsentiert er in der Zurüstung der Tafeln als vollkommene geometrische Körper. Daß die Orientierung auf Kunstwerke im Privathaus – pars pro toto – Bezug zum Offizialbau der Kunst, dem Museum, haben soll, veranschaulicht Alan Clairet, indem er auf dem Boden des Museums Fridericianum in Kassel grundrißgetreu den Parkettboden eines bürgerlichen Wohnraums auslegt. [Abb. S. 102, Nr. 3] Parkettböden im Bürgerhaus stehen für die Aura von Offizialbauten im Privaten.
Abbildungen:
S. 102:
Nr. 1: Osmanischer Gebetsteppich des 17. Jahrhunderts mit Auszeichnung der Mihrab, der Wandnische in Moscheen, die die Richtung nach Mekka weist.
Nr. 2: Bodenintarsie mit dem lateinischen Gruß „Salve“ im Weimarer Goethehaus – mahnt an die Schutzfunktion des Gastrechts wie an den Erlöser der Welt.
Nr. 3: Alan Clairet, By the same token, Eichenfurnier, Paneele 35m2, Installation Documenta IX, 1992.
Als die Bürger ihre Wohnräume parkettierten, übertrugen sie Raumanmutungen von Repräsentationsbauten ins Private.
S. 103:
Nr. 1: Imi Knoebel, Genter Raum, 1980, Installation im Museum van Hedendaagse Kunst, Gent.
Die Arbeit spielt auf die Werkstatt als Ort des Bildbaus an; der Betrachter wird zum Baumeister.
Nr. 2: Initiation eines englischen Freimaurers, 1809.
Eine bloße Vermutung über Freimaurerrituale, denn das tatsächliche Ritual bleibt das Geheimnis der Initiierten.