Buch Die Welt zu Deinen Füßen

Den Boden im Blick: Naturwerk - Kunstwerk - Vorwerk

Die Welt zu Deinen Füßen, Bild: Titelseite. + 6 Bilder
Die Welt zu Deinen Füßen, Bild: Titelseite.

Den Boden im Blick
Warum küßt der Papst den Boden?
Warum werden rote Teppiche ausgerollt und Blumen gestreut? Wurden Sie auch schon mal ermahnt, hübsch auf dem Teppich zu bleiben oder hat man Ihnen bereits die Welt zu Füßen gelegt.

Offensichtlich hatte der Boden, auf dem wir stehen, immer schon eine elementare kulturelle Bedeutung. In Antike und Mittelalter bildete man kosmische Ordnungsvorstellungen, Weltmodelle und die Ornamente der Schöpfung auf dem Boden ab. Die Aufmerksamkeit für den Boden schwand gerade dadurch, daß man ihn in den modernen Zivilisationen von Unrat und Unebenheiten befreite, ihn betonierte und aphaltierte. Die zivilisatorische Uniformierung unserer Böden hat inzwischen eine Gegenbewegung hervorgerufen.
In Architektur und Design richtet sich heute der Blick wieder auf den Boden.

Zu den Trendsettern in diesem Bereich gehört der Teppichbodenhersteller Vorwerk, der mit Künstlern wie Robert Wilson, Rosemarie Trockel und Jeff Koons völlig neue Wege in der Bodengestaltung beschreitet.

Der bekannte Alltagsästhetiker Bazon Brock nimmt in zwölf Kapiteln je einen Entwurf aus Vorwerks Flower Edition zum Anlaß, um an Beispielen aus der Kunstgeschichte, der Architektur und Kultivierung der Natur die Welt zu unseren Füßen zu thematisieren.

Erschienen
01.01.1999

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Vorwerk-Teppichwerke in Hameln

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-4483-X

Umfang
239 S. : überw. Ill. ; 29 cm

Einband
Pp.

Seite 190 im Original

[Über Leichen gehen]

Im Jahre1831 wurde im Pariser „Salon" ein Werk des Malers Eugène Delacroix von den beachtlichen Maßen 2,60 m x 3,25 m ausgestellt. Heinrich Heine berichtete über das vielbeachtete Gemälde: „Eine Volksgruppe während den Juliustagen ist dargestellt, und in der Mitte, beinahe wie eine allegorische Figur, ragt hervor ein jugendliches Weib, mit einer roten phrygischen Mütze auf dem Haupte, eine Flinte in der einen Hand und in der andern eine dreifarbige Fahne. Sie schreitet dahin über Leichen, zum Kampfe auffordernd, entblößt bis zur Hüfte, ein schöner, ungestümer Leib, das Gesicht ein kühnes Profil, frecher Schmerz in den Zügen, eine seltsame Mischung von Phryne, Poissarde und Freiheitsgöttin.“ Delacroixs „Die Freiheit auf den Barrikaden“ wurde zur Ikone der „Linken“.
Den Franzosen schmeichelte, daß die Freiheit schlechthin mit „Marianne" als Verkörperung“ der Nation. Die linke Intelligenz sah sich in der Rolle von Vorkämpfern der Freiheit bestätigt, weil sich der Künstler Delacroix in der Gestalt des seinen Zylinder in die Schlacht tragenden Bürgers ausdrücklich selbst als Freiheitskämpfer porträtiert hat. Alexander Dumas d.Ä. Berichtete 1864, ein Jahr nach dem Tod von Delacroix, in seiner Rede zur Gedächtnisausstellung, er habe den Maler, einen Fanatiker des Kaiserreichs am 27.7.1830 am Pont d'Arcole in großer Angst vor dem heranrückenden Volk angertoffen. So geht das eben mit Leuten, die sich post festum zu Avantgardisten von Umwälzungen verklären, die sie tatsächlich vor Angst schlottern ließen. Immerhin ist in der Mimik des Selbstporträts noch etwas von Zweifeln zu spüren, die diesen Avantgardisten des Widerstands geplagt hatten. Er folgt nicht mit glühenden Augen dem Ruf der Freiheit; er auch vielmehr über den vor ihm liegenden Leichenteppich hinweg auf den Ausgang solcher Unternehmungen vorauszusehen. Delacroix unter dem Bürgerkönig Louis Philipe prompt seine Karriere als Liebling des Regimes fortsetzte - mit zahlreichen öffentlichen Aufträgen und Auszeichnungen als Offizier der Ehrenlegion - galt er dem gleichen Volk, dem er in seiner „Freiheit“ gehuldigt hatte, bei der Revolution von 1848 selbst als Repräsentant der zu stürzenden Bourbonendynastie. Sogar gegen das Freiheitsbild Delacroixs wandte sich die Wut der 1848er-Revolutionäre. Diese Leute hatten offenbar nur allzu genau das bedenkliche Konzept des Bildes verstanden. Denn der Sturmlauf des Volkes bewegt sich auf den Bildbetrachter zu, der unmittelbar vor den vordersten Reihen der Gefallenen zu stehen scheint - ein Eindruck, der durch die Größe des Gemäldes noch verstärkt wird. Der Betrachter steht also selbst der Volksbewegung entgegen - als eben der Bürger, dem die Revolution zum unterhaltsamen Spektakel wird. Delacroix orientierte sich beim Bildaufbau an zeitgenössischen Presseskizzen der Aufstände. Nur die künstlerische Qualität des Bildes hindert uns daran, es selbst als Zeugnis des Sensationsjournalismus zu werten. Aber Delacroix war ein hartgesottener Profi der Bildkunst, der sich, wie Baudelaire 1863 bemerkt, „nicht zum politischen Sentimentalismus unserer Zeit bekehren ließ; er haßte den Pöbel genauso wie die bürgerlichen Bilderstürmer, die im Jahre '48 an einigen seiner Werke Gewaltätigkeiten begingen." Insofern ist das Bild ein Manifest auch der Bereitschaft von Künstlern, für ihre Werke über Leichen zugehen.

Abbildung:
S.191: Die Freiheit für das Volk, Eugène Delacroix, 1830, Musée de Louvre, Paris.

Zitat S.190:
„Ich kann nicht umhin, zu gestehen, diese Figur erinnert mich, an jene peripatetischen Philosophinnen, an jene Schnellläuferinnen der Liebe oder Schnellliebende, die des Abends auf den Boulevards aufschwärmen.“ (Heine, Heinrich: aus Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 1831.)