Im Stundenbuch des Herzogs von Berry betonen die Künstlerbrüder Limburg in leuchtenden Farben die Kostbarkeit eines jeden Augenblicks menschlichen Lebens, das in Erfüllung der geistlichen und weltlichen Pflichten des Tages, daher Stundenbuch, besteht. Zum Auftakt des Jahres feiert der Herzog die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft an seinem Hofe. Vor einem mächtigen Kamin mit loderndem Feuer, dessen Wärme ein runder Schirm reguliert, lädt der Fürst zur Tafel. Der links hinter dem Fürst stehende Zeremonienmeister bittet die Gäste mit dem lauten Ausruf „Tretet näher!“ herbei. Zwei Generationen nach Mussini entspricht Pintoricchio mit seiner Intarsie im Fußboden des Doms von Siena dem Wandel der Weltsicht des fünfzehnten Jahrhunderts. Er zeigt erfolgreiche Bürger beim Aufstieg zur Weisheit, zur Erfüllung des Lebens. Die Richtung scheint vorgegeben zu sein: Man kommt zum Ziel, indem man sich immer größere Anstrengungen auf der steinigen Straße des Lebens zumutet und sie meistert. Eine Gruppe von Bürgern diskutiert dieses Vorgehen mit Hinweis auf die Figur der Fortuna. Die wetterwendische Göttin des glücklichen Zufalls steht mit einem Bein auf einem schwankenden Kahn, mit dem anderen auf einer Weltkugel, auf deren Instabilität sich einzulassen artistische Fähigkeiten verlangt. Die selbstbewußten Kaufleute der oberitalienischen Stadtstaaten haben offensichtlich Bedenken, sich dem launischen Glück anzuvertrauen. Sie mußten erst lernen, mit den Zufällen zu rechnen, um sich gegen die Unbeständigkeiten abzusichern. Das Kalkül des Glücks wandelten sie in die Rechnung mit Wahrscheinlichkeiten um. Damit erweitern sie ihren Handlungsspielraum erheblich. Das Rechnen mit der Wahrscheinlichkeit ermöglichte ihnen, ihre mühseligen und kraftanstrengenden Reisen über steinigen Grund auf das Meer zu verlagern, auf dem über lange Strecken schwere Lasten schneller und leichter transportiert werden konnten. Als Pintoricchio sein Motiv ausführte, konnte er bereits auf die Erfolge von Vasco da Gama oder Kolumbus verweisen.
Abbildungen:
S. 24: Berg der Weisheit, Pintoricchio, Fußbodenintarsie im Dom zu Siena, 1505.
Das Leben gleicht einer Bergbesteigung: immer aufwärts, über steinigen Boden bis zum Ziel des Lebens, das als Weisheit personifiziert wird. Das Ziel ist nicht Anhäufung von Reichtum, den man am Ende doch hinter sich lassen muß, also wieder verliert, wie Krates. Die Palme der Weisheit wird Sokrates zugesprochen, dem Sammler des Weltwissens, der seine Seele bereicherte statt sein Konto zu mehren.
S. 25: Monatstafel, „Januar“ aus dem Buch „Die erfüllten Stunden des Herzogs von Berry“, Gebrüder Limburg, 1420.
Der gesamte Boden des Festsaals im herzoglichen Palast ist mit geflochtenen Strohmatten bedeckt. Dies kennzeichnet den Hof als Raum der Zivilisation, d. h. als einen Ort, an dem man Selbstbeherrschung und Gesittetheit zur Grundlage erfolgreicher Kooperation zwischen Menschen werden läßt.