Das Heilige Russland war versammelt von Alexander Newski über Sergij von Radonesh bis hin zu den Wunder wirkenden Ikonen der Gottesmutter. Die bedeutendsten Bildhauer hatten fast zwei Jahrzehnte an der Ausschmückung gearbeitet – unter ihnen der aus dem Baltikum stammende Peter Clodt von Jürgensburg. Der Kathedrale angeschlossen war auch eine Gedenkstätte und ein Museum für die im Vaterländischen Krieg Gefallenen, deren Namen dort verzeichnet waren.
Diese Kathedrale zu sprengen war mehr als ein Eingriff in das Stadtbild Moskaus. Die Zerstörung der Erlöser Kathedrale kann man als das Herausbrechen des markantesten Symbols des späten Russischen Kaiserreiches verstehen, als die Beseitigung der Dominante, die für den geistigen Führungsanspruch der russischen Orthodoxie über das Reich und die Stadt stand. In der verwickelten Baugeschichte kristallisierte sich die Suche Russlands nach einem Weg aus dem alten Zustand am Vorabend großer Erschütterungen – die Bauernbefreiung, die Industrialisierung hatten begonnen, die nichtrussischen Völkerschaften und Nationen machten sich auf ihren eigenen Weg. Die Kathedrale war auch nach der Revolution geöffnet geblieben, hatte trotz Verfolgung eine treue Gemeinde. Die Sprengung war wesentlicher Teil jenes Generalangriffs auf das alte Russland, der den Namen Kollektivierung trägt. Die Detonation am 5. Dezember 1931 war das Geräusch des Krieges, der im Lande tobte, mitten in der Hauptstadt. Es war buchstäblich der Kampf um die Hegemonie am Moskauer Himmel. Es ging um den Geist der Stadt und des Imperiums.
Arbeit an der Leere.
Phantasien für einen Jahrhundertbau
In diesem Kampf um die „architektonische Dominante“ setzten sich fast folgerichtig die Peripatien des Baus der Kathedrale fort. Das lag schon an der Logik des Orts: Ein gewaltiges Vakuum inmitten der Stadt war aufzufüllen. Eigentlich konnte die Leere nur zum Verschwinden gebracht werden durch einen Bau, der alles in den Schatten stellte und alle Erinnerungen zu löschen vermochte, und zwar nicht allein durch monumentale Größe, Volumen und Höhe, sondern durch den Geist des Bauwerks, das an die Stelle des gesprengten treten sollte. So seltsam es klingen mag: Die Bauherren waren Gefangene des Ortes, und vieles, was nach 1931 mit und um die Baustelle herum geschah, trug die Züge von Überbietungszwang und Übertrumpfungsgeste. Die Gigantomanie, die sich im Verlauf der verschiedenen Wettbewerbe durchsetzte, zeigte deutliche Züge der Flucht: der Flucht aus dem Schatten des gesprengten Vorgängerbaus.
Die Geschichte der Wettbewerbe für den Bau des Palastes der Sowjets ist wiederholt und detailliert beschrieben worden, obwohl bis heute die wirkliche, auf Quellen gearbeitete Entwicklung der Entscheidungsprozesse nicht dargestellt ist. Sie konzentriert sich im Wesentlichen auf die ästhetische Seite, auf die Konkurrenz der Stile, Konzeptionen, und sieht im Gesamtverlauf den Beleg für die These, dass sich die Macht und Stalin persönlich die Künstler, die Architekten und Baumeister gefügig gemacht hätten. Das ist nicht falsch, aber auch nicht sehr überzeugend. Es gibt keine Macht des Utopischen an sich, sondern nur eine Konstellation, in der das Utopische übermächtig, ja notwendig wird. Und vor allem: kein Projekt ohne die Künstler, ihre Begabung, ihre Phantasie und ihre Entschiedenheit, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.
Der Wettbewerb um den Palast der Sowjets suchte den Himmel zu schließen, der mit dem Fall der Kathedrale eingestürzt war. Es war eine Phase intensivster Suche und einer atemberaubenden Arbeit an der Überwindung der Leere. Es war, als hätte Andrei Platonow in seinem 1929/30 verfassten Roman Die Baugrube diese Situation bereits gespürt. Er ließ dort einen Ingenieur über ein gewaltiges Neubauvorhaben sinnieren: „In einem Jahr würde das gesamte Proletariat die kleinkapitalistische Stadt verlassen und von dem neuen Monumentalbau Besitz ergreifen. Nach weiteren zehn oder zwanzig Jahren würde ein anderer Ingenieur im Mittelpunkt der Welt einen Turm errichten, in dem die Werktätigen der ganzen Erde eine ewig währende glückliche Bleibe fänden. Pruschewski war durchaus in der Lage zu planen, wie ein solches Bauwerk in Bezug auf die Statik und Mechanik, künstlerische Architektonik und wohnliche Zweckmäßigkeit auszusehen hätte, schwierig fand er es dagegen, vorherzusehen, in welcher seelischen Verfassung sich die Bewohner des in weiter Ebene gelegenen Hauses befinden würden, und noch weniger konnte er sich die Menschen im Turm des Weltganzen leibhaftig vorstellen.“ Dabei hatte alles viel einfacher angefangen: Am Anfang gab es nur die Idee, einen „Palast der Arbeit“ zu bauen. Sergei Kirow hatte auf der Festveranstaltung zur Gründung der UdSSR am 31. Dezember 1922 im Bolschoi Theater proklamiert, dass die Union ein neues Gebäude brauche, wenn in Zukunft all ihre Deputierten zusammenkommen wollten. Als repräsentatives Gebäude sollte es offen und transparent sein, über Funkstationen mit der ganzen Welt verbunden, mit Haltemasten für Zeppeline. In einer Ideenskizze von 1924 sind alle Funktionen eines solchen Gebäudes genannt: „Stabsquartier der Weltrevolution, Stabsquartier der III. Kommunistischen Internationale, Zentrum der Weltunion der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Alle internationalen revolutionären Kongresse, die Allunions-Kongresse der Räte und der Russischen Kommunistischen Partei, Konferenzen und Massenversammlungen werden in diesem Gebäude stattfinden. Das Proletariat aller Länder wird sein Erbauer sein … Generationen roter Baumeister aller Länder werden sich anregen lassen von diesem Denkmal. Es wird wie ein gigantischer Magnet alles in sein Kraftfeld ziehen und die Formen der Häuser, Straßen, Plätze und Städte auf sich ausrichten.“
In der Zeit des Wiederaufbaus begnügte man sich jedoch mit Provisorien wie dem Bolschoi-Theater, dem Konservatorium, aber in der Zeit des Großen Umbruchs nach 1929 kam die sowjetische Führung auf die Idee zurück, lud – mit Schreiben vom 17. April 1931 – führende sowjetische Architekten wie Alexej Schtschussew, Wladimir Schtschuko, die Brüder Alexander und Viktor Wesnin, Nikolai Ladowski und andere ein, die Grundlinien für einen Allunions-Wettbewerb zu formulieren.
Standort für dieses Gebäude, das dem „Charakter der Epoche“ entsprechen sollte, war bis dahin noch immer ein anderes Grundstück – nämlich nördlich des Kreml und des Roten Platzes, zwischen Ochotnjy rjad, Bolschaja Dmitrowka und Twerskaja. Eine hochrangig besetzte Jury, die dem Zentralexekutivkomitee der UdSSR, also der Regierung, unterstellt war, wurde gebildet, die eingereichten Entwürfe wurden in der Allunions Bauausstellung gezeigt und öffentlich diskutiert. Die Istwestija vom 13. Juli 1931 veröffentlichte aber nicht nur ein präzisiertes Programm für den weiteren Wettbewerb, sondern nannte auch einen neuen Standort – Viktor Balichin, Mitglied der avantgardistischen Vereinigung neuer Architekten, hatte ihn vorgeschlagen: die Christi-Erlöser Kathedrale.
Bis zum Dezember 1931 wurden 272 Entwürfe eingereicht, darunter 24 von ausländischen Architekten. Das Museum für bildende Künste (ab 1937: Puschkin-Museum) zeigte zwischen 1931 und Juni 1932 die preisgekrönten Entwürfe: also fast gegenüber dem Standort der gesprengten und in Trümmern liegenden Christi-Erlöser-Kathedrale.
Krieg, Nachkrieg,
Ende des Ausnahmezustands
Es ist keine Frage, dass der Palast der Sowjets fertiggestellt worden wäre, vermutlich in Planfrist, wie vorgesehen und auf dem 18. Parteitag 1939 von Molotow noch einmal bekräftigt: „am Ende des 3. Fünfjahrplanes“, d.h. 1942. Im Sommer 1938 war bereits mit der Montage der Stahlkonstruktion des Turms begonnen worden. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion hat diesen Plan wie den der Rekonstruktion Moskaus überhaupt zunichte gemacht. Der Palast der Sowjets war ein wichtiger Orientierungspunkt für angreifende deutsche Bomber geworden, die Baustoffe und der Stahl wurden jetzt für anderes gebraucht: für die Verteidigung der Hauptstadt. Die Kommission für den Bau des Palastes wurde nach Swerdlowsk evakuiert, wo sie an weiteren Varianten arbeitete. Nach dem Krieg kam es zu einer Wiederaufnahme des Projekts unter veränderten Bedingungen und an anderem Ort: erst auf den Leninbergen, dann auf dem Territorium des Kremls selbst. Boris Iofan hat sich bis zum Ende seines Lebens mit Modifikationen, Anpassungen an die veränderte geschichtliche Situation herumgeschlagen. Aber die „Entstalinisierung“ Chruschtschows versetzte dem Jahrhundertbau den Todesstoß. Aus der Baugrube wurde ein Freibad, das bis zum Ende der Sowjetunion fleißig genutzt wurde. Der Palast der Sowjets existierte nur noch im Negativ: als Bezugspunkt, als imaginäre Mitte, auf die sich die Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre errichteten sieben Hochhäuser Moskaus bezogen.
So ist der Palast der Sowjets wenigstens indirekt präsent geblieben bis zu dem Zeitpunkt, da er abgelöst wurde von einem neuen Zentralbau: der zwischen 1995 und 2000 wiedererrichteten Christi-Erlöser-Kathedrale. Die Verwandlung der größten Baustelle der UdSSR und des Jahrhundertbaus in ein Freibad symbolisiert den Übergang von einer Gesellschaft, die ohne Jahrhundertbauten nicht leben konnte, in eine Gesellschaft, die es ertrug oder hinnehmen musste, mit einem banalen Bad im Zentrum zu leben. Das himmelstürmende Projekt war die Verkörperung einer in permanenter Mobilisation befindlichen Gesellschaft. Seine Einstellung markiert den Übergang von einer utopiebedürftigen zu einer Formation, die gegenüber Utopien indifferent oder sogar resistent geworden war. Die „Dialektik der Aufklärung“ hatte eine sonderbare Bewegung zurückgelegt – von der heroischen Überspannung der Phantasie in die Niederungen einer Normalität, die auch ohne heroische Gesten leben kann. Ob der Neubau der Christi-Erlöser-Kathedrale am Ende des 20. Jahrhunderts mehr zeigt als die Wiedergewinnung einer städtebaulichen Mitte oder vielleicht sogar als eine alt-neue imperiale Geste zu verstehen ist – es wird sich zeigen.
Aus Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008, S. 697-699 u. 706f.
(Titel: ursprünglich nicht von Karl Schlögel)