Buch Musealisierung als Zivilisationsstrategie

Arbeitsheft zum Symposium „Musealisierung als Zivilisationsstrategie“, das am 24. November 2009 stattfand.

Musealisierung als Zivilisationsstrategie, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte. + 6 Bilder
Musealisierung als Zivilisationsstrategie, Bild: Titelseite. Gestaltung: Gertrud Nolte.

Was ist ein Produzent ohne den urteilsfähigen Konsumenten, was vermag der Arzt ohne einen therapietreuen Patienten, was der Künstlerohne einen verständnisfähigen Betracter und Zuhörer, was richtet der Politiker aus ohne einen kritikfähigen Wähler, was nutzt die Predigt, wenn sie nur auf tumbe-taube Ohren stößt?

Durch Wissen klagend - 

durch Klagen leidend - 

durch Leiden wissend

Agnosce, dole, emenda

Erschienen
2008

Herausgeber
Brock, Bazon | Bauer, Christian

Verlag
Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften (VDG)

Erscheinungsort
Weimar, Deutschland

ISBN
9783897396746

Umfang
1. Aufl. 2009, 120 Seiten, 3 Abb. s/w

Einband
Broschur

Seite 42 im Original

Lambert Wiesing: Die Aufhebung des Bildes im Museum

Museen und Bilder haben eine große Gemeinsamkeit: Sie zeigen! Sowohl das, was ein Bild macht, als auch das, was ein Museum macht, wird gemeinhin als Zeigen bezeichnet. Die Frage ist nur: Ist in beiden Fällen mit „zeigen“ dasselbe gemeint? Ist das Zeigen mit Bildern der gleichen Art wie das Zeigen mit Museen? Besonders kompliziert wird die Situation, wenn man an das Bild im Museum denkt, wenn also die beiden Arten des Zeigens in ein gegenseitiges Abhängigkeits- oder Wechselverhältnis treten, wenn es in einem Museum zu einem Zeigen des Zeigens kommt.

Schaut man sich die diesbezügliche Forschung an, so ist die Situation mehr als ernüchternd: Obwohl man vergeblich einen Text suchen wird, der von Museen handelt und nicht den Begriff des Zeigens auf Schritt und Tritt verwendet, so wird man kaum einen Text finden, der explizit die Frage stellt, was es denn heißt, daß in einem Museum zeigende Bilder gezeigt werden. Aus einer philosophischen Perspektive, die sich bekanntlich für den Sinn von Begriffen interessiert, ist das ausgesprochen unbefriedigend: Wenn die zentrale Leistung eines Museums darin besteht, daß etwas gezeigt wird, wie kann es dann sein, daß nicht die Frage diskutiert wird, was es heißt, daß ein Museum etwas zeigt? Was ist Zeigen und insbesondere, was heißt es, mit einem Bild etwas zu zeigen? Es ist einen Versuch wert, eine Antwort auf diese Fragen zu geben.

Der Begriff des Zeigens ist doppeldeutig: Er bezeichnet sowohl ein simples optisches Sichtbar-Machen als auch eine besondere semiotische Art des Verweisens, deren Funktionsweise es zu beschreiben gilt: Ein Gegenstand zeigt genau dann etwas, wenn dieser Gegenstand erstens von jemanden dazu verwendet wird, um sich mit ihm auf etwas zu beziehen, wobei das Besondere ist, daß zweitens das, worauf man sich mit ihm bezieht, beim Zeigen mittels Anwendung einer Regel durch das Aussehen des zeigenden Gegenstandes bestimmt wird. Das Besondere beim Zeigen ist, daß das, worauf verwiesen wird, nicht allein durch eine Regel im Vorhinein festgelegt ist, sondern daß die Regel nur besagt, wie aus dem Aussehen des zeigenden Gegenstandes der gezeigte Gegenstand bestimmt werden kann. Die Regel legt nicht die Referenz fest, sondern die Art, wie aus dem Aussehen des Zeichens die Referenz ermittelt werden kann – diese Besonderheit findet sich nur bei zeigenden Zeichen, denn keineswegs jedes Zeichen zeigt etwas: Nur beim zeigenden Zeichen wird die Referenz sozusagen jedes Mal vom Verwender mittels der Anwendung einer Sinn-Regel aus dem jeweiligen Aussehen neu berechnet.

Was für das Zeigen prinzipiell gilt, gilt auch für das Zeigen von Bildern in Museen – allerdings in besonderer Form: Wird ein Bild in einem Museum gezeigt, so kommt es zu einer bemerkenswerten Transformation des Sinnzusammenhangs, welche ausschließlich in Museen beobachtet werden kann; es kommt zu einer regelrechten Aufhebung des Bildes im Museum – und zwar in den drei klassischen Bedeutungen des Wortes „aufheben“: negare, conservare und elevare.

Negare: Das Museum, welches ein Bild zeigt, negiert die Einmaligkeit und Definitivität eines jeden anderen Sinnkontextes. Kein Museum legt fest, für welche symbolische Bezugnahme ein Bild verwendet werden soll. Doch die Negation des Sinns geschieht weder durch eine Substitution eines bekannten Sinnes durch einen neuen bestimmten Sinn, noch ist das Museum ein bloßer, sinnentleerter Show-room, der das Bild als ein sinnfreies Objekt zeigt. Die Negation eines jeden bestimmten Sinnes als einziger Sinn geschieht im Museum bei einer gleichzeitigen Bewahrung von Sinn, weshalb der Begriff des Aufhebens so passend ist.

Conservare: Das Zeigen von zeigenden Bildern in Museum negiert das Vorhandensein eines einzigen konkreten Sinnes des Bildes, aber konserviert jeden bekannten und unbekannten Sinn als einen möglichen Sinn des Bildes und erhält so jeden Sinn in einer transformierten, eben höheren, nämlich in einer freigestellten Form als einen Sinn für eine mögliche Verwendung des Bildes als Zeichen. Anders gesagt: Es wird nicht ein zeigendes Bild sichtbar gemacht, sondern es wird gezeigt, daß dies Bild zeigen kann. Die Potentialität des Bildes als Zeichen wird ausgestellt.

Elevare: Museen zeigen nicht zeigende Bilder, sondern sie zeigen die Möglichkeiten, wie Bilder zeigen können. Dies ist ein Schritt, der bei aller Entmachtung gegebener Ansprüche und unterstellter Sinnhaftigkeit dennoch stets die Wirkkraft eines zeigenden Bildes konserviert: Aus dem Zeigen des Bildes wird durch das Zeigen im Museum ein gezeigtes Zeigen, und das heißt in erster Linie die Erkenntnis, daß Bilder zum Zeigen verwendet werden müssen und können. Deshalb ist die Aufhängung von Bildern im Museum eine regelrechte Aufhebung des Bildes:

Nur das Museum ist ein institutioneller Ort, der dem Betrachter erlaubt und ihn dazu auffordert, ein Bild nicht als ein wirkliches, sondern als ein mögliches Symbol zu sehen: Man sieht Bilder, die nicht etwas zeigen, sondern man sieht Bilder, die etwas zeigen können.