Vortrag / Rede AIT- Skript.

1. AIT-Diskurs Intelligente Architektur – Die Versachlichung des Materials

Termin
1996

Veranstaltungsort
Leinfelden-Echterdingen, Deutschland

Veranstalter
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Kommunikation als potemkinsche Fassade

Was zwischen Menschen geschieht, wird als Kommunikation gekennzeichnet. Wenn etwas zwischen ihnen geschehen soll, mahnt man Verstärkung der Kommunikation an. Wenn etwas nicht verstanden wird oder zum Beispiel als Parteiprogrammatik nicht akzeptiert wird, erklärt man das als Folge mangelnder Kommunikation. Man habe die Programme nur schlecht verkauft, sagt dann der Kanzler und wechselt seine PR-Agenturen aus. Andererseits hat offensichtlich an Attraktion gewonnen, wer sich dazu versteht, Mißverstehen oder Ablehnung als Bestätigung dafür zu sehen, daß er etwas ganz Einmaliges zu sagen habe. Galt in anderen Zeiten die Exkommunikation als Drohung mit dem sozialen Tod und war auf jeden Fall zu vermeiden, häufen sich gegenwärtig die freiwilligen Aufkündigungen von Beziehungen. Einsame Wölfe, soziale Autisten, Aussteigereinsiedler, Sektierer durchstreifen ziellos die Städte. Häufig entsteht bereits der Eindruck, als sei die Zahl der Nichtmitmachenden, zum Beispiel als Nichtwähler, größer als die Zahl derer, die von Kommunikationsstrategen noch auf Gemeinsamkeiten verpflichtet werden können.
Diesen Trend als Zeichen für immer weitergehende Individualisierungsbemühungen zu lesen, hieße, die Autisten zu glücklichen Menschen zu erklären, denen endlich ein völlig selbstverwirklichtes Leben gelungen sei. Umgekehrt wird mehr daraus. Die so auffällige Deklaration, sich selbst exkommunizieren zu wollen, sollte als Versuch gewertet werden, endlich in den warmen Schoß der Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Hat man nicht gelernt, Selbstmordversuche als Hilferufe zu verstehen?
Wer ruft da gegenwärtig so verzweifelt nach Hilfe in der Unwirtlichkeit der Städte, im Chaos des Heterogenen, im Labyrinth von Metropolis? Offensichtlich, aber auch rein statistisch, sind es nicht die Bürger der Städte, sondern die Stadtplaner, die Architekten, die Lehrer der Völker, die Führer und Lenker. Zwar hörte man hie und da zu Fragen des Neu- und Umbaus von Berlin auch einige Stimmen aus dem Bauch der Stadt, aber offensiv führten die Debatten Architekten und ihre Bauherren, Politfunktionäre und Zeitungsintellektuelle. Warum klingt deren Hilfeschrei jetzt so viel verzweifelter als etwa in den zurückliegenden Jahrzehnten, in denen die Nachkriegswüsten in blühende Landschaften verwandelt werden konnten?

Damals kommunizierte man vor ruinösen Fassaden ausgebrannter Häuserblocks eine Reihe stimulierender Botschaften: Hinter uns verbrannte Erde, es gibt kein Zurück als den Weg in die Zukunft. Wir werden alles wieder aufbauen, wieder gutmachen, wir sind ein Volk von schamgebeugten, ohnmachtserfahrenen Habenichtsen. Nichts bindet uns so zusammen wie die Gleichheit im Elend und die freudige Erwartung auf eine Zukunft der Entsühnung, der Anerkennung und der glückenden Initiativen gegen Schuld. Und heute?

Niemand kann es jemand rechtmachen. Wer es versucht, wird aus reinem Selbstbehauptungswillen gezwungen, die Einsprecher als Leute zu bezichtigen, die nur neidvoll schielen. Gegen die Drohung, jegliches Interesse an dem Bauschicksal seiner Stadt aufzukündigen oder bestenfalls mit mutwilligem Aktionismus so viel Schaden zuzufügen wie nur denkbar, bleibt den Architekten, Bauherren und Politikern nur die machtvolle Geste, Territorien zu besetzen und die architektonischen Desaster gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen, indem man sie sachgerecht als Walten der sozialen Evolution beschreibt.
Die gegenwärtige Perspektive verkürzt sich darauf, immer Recht haben zu müssen, denn wehe dem, der sich nicht rechtfertigen kann. Was nicht funktioniert, wird funktionalistisch genannt. Was funktioniert, gilt als bloß banal. Rationalität? Das sei doch bloß eine andere Form von Unterwerfungsterror. Die wahre Freiheit sei nur noch dem gegeben, dem alles wurscht ist. Alles gehe, wie es nun mal geht, weil es so gekommen ist. Alles gehe, wenn es eben geht, und wenn nicht, dann nicht. Was aber geht, ist damit schon vergangen und interessiert uns sowieso nicht mehr.

Die größten Leidtragenden dieses Zusammenbruchs der Kommunikation sind die Architekten. Wer glaubt, daß dieser Zusammenbruch seine größte Wirkung bereits mit der Auflösung des sozialistischen Lagers gezeitigt habe, irrt fatal. Auch der Westen ist der ständigen Konfrontation mit bedingungsloser Erwartung – der Erfüllung des entfesselten Wünschens, wie sie die Werbung propagiert – nicht gewachsen. Die Architekten und Städteplaner, die Sozialpolitiker und Therapeuten sind mit diesen noch nicht eingetretenen, aber unabdingbaren Konsequenzen der Wunschallmacht bereits konfrontiert. Sie alle werden in den Augen ihrer Klientel unglaubwürdig. Man traut ihnen nicht mehr zu, als Weihnachtsmänner aus dem großen Sack ihrer Gaben die Befriedigung der prinzipiell unbefriedigbaren Wünsche hervorzuzaubern.

Einst hatten zum Beispiel die Architekten dem bisher größten Versuch der Menschheit, das Paradies auf Erden dauerhaft zu schaffen, den sichtbarsten Ausdruck gegeben: Pyramiden nicht nur in einem Wüstenstreifen, sondern im wüsten Herzen jeder Siedlung; römische Triumphbögen nicht nur vor den Eingängen heiliger Bezirke, der Foren und Marsfelder, sondern vor jedem Sozialbau; Monumente des kollektiven Gedächtnisses nicht nur an Orten des einmaligen historischen Geschehens, sondern an jedem Arbeitsplatz. Der Olymp auf dem Dach des Leninmausoleums über dem Schrein des Heiligen bildete sich auf jeder Tribüne ab. Das war die sozialistische Universale vor jedermanns Augen – von der sozialistischen Nationale braucht man da gar nicht erst zu reden. Das alles ist hin, und nun triumphiert wieder die modernistische Universale? Da sollte man vorsichtig sein, denn jeder Meister der Moderne folgte der gleichen sozialen Programmatik wie die Sozialisten – im Westen wie im Osten.

Auch Mies bildete in seinen Fassaden ein schönes Ideal der Durchsichtigkeit sozialer Verhältnisse ab: das Gleichheitspathos des Rechtsstaats definierte das Stahlbaugerüst, und das Freiheitsverlangen machte die Wände gläsern; die Brüderlichkeit vereinte heterogenste Materialien: Holz, Marmor, Leder, Stahl und Glas, Zement und Backstein versöhnten sich formlogisch.

Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus, des sozialistischen Imperiums brach auch der Grund jeder Moderne ein: der zwingende Anspruch, in der Architektur die Gesellschaft zu reflektieren, ihre abstrakten Bedingtheitsgefüge abzubilden. Architektur ist nicht länger Bedeutungsträger, sondern schiere Faktizität wie die Natur. In ihr hat nur der beständige Wechsel Dauer. Sie manifestiert sich in der Besetzung von Territorien, in der Behauptung der Macht des Stärkeren; sie organisiert ihre Lebenseinheiten, ihre Überlebensgemeinschaften als Symbiosen des Zweckvollen. Wer da noch fragt "Warum das Ganze?", erhält zur Antwort: damit es Evolution gebe, denn alles geschieht, weil es möglich ist, und möglich ist alles, solange sich alles wandelt.

Damit ist die heutige Architektur beschrieben. Die Bauten stehen, wie sie stehen, wo sie stehen, und wer fragt, warum sie dort so stehen, erhält zur Antwort, daß man diese dumme Frage auch dann stellen könnte und stellen würde, wenn sie ganz anders (bzw. woanders) dastünden. Das relativiert jede Planung zu einer bloßen Wahl aus lauter Möglichkeiten, die alle gleichermaßen als völlig untauglich zu stigmatisieren wären. Also merkt man den Bauten an, daß ihnen kein Plan zugrundeliegt außer einem beliebigen. Ihre stärkste Rechtfertigung signalisieren sie als offensichtliche Aufforderung, sie gleich wieder abzureißen. Sie wurden als einstürzende Neubauten konzipiert unter der tröstlichen Versicherung, wenigstens ihre Materialien seien nahezu recyclebar. Auch in der Architektur erfüllt sich die evolutionäre Produktionslogik, derzufolge alles Geschaffene nur noch wertvoll ist, soweit es umstandslos wieder aus der Welt gebracht werden kann.

Und was kommuniziert diese Architektur, wenn sie nicht mehr Abbild und Vorstellung bewegender Formideen, verewigter Stilisierungskraft oder Bezeichnung des Guten, Wahren und Schönen sein kann? Eben die Naturgeschichte, wie sie sich in Termitenbauten, Bienenstöcken, Korallenriffs oder in Horstkolonien manifestiert. Generell scheinen sich mehr und mehr Menschen, zumal mit Blick auf die Zukunft, aus ihrer kulturellen Autonomie gegenüber der Natur zu verabschieden indem sie akzeptieren lernen, daß ihre herrischen kulturellen Konzepte offensichtlich gar nicht ihre sind, sondern sich aus der Tatsache ergeben, daß Menschen von Natur aus Kultur- und Sozialwesen sind und daß sich deshalb die Gesetze der Evolution leider auch im sozialen und kulturellen Leben zur Geltung bringen. Wem das als sozialdarwinistische Kapitulation vorkommt, sei daran erinnert, daß die Moderne generell, also nicht nur in grüner Wandervogeligkeit, stolz darauf war, die Natur zur Lehrmeisterin zu nehmen. In zahlreichen Ausarbeitungen von Ozenfant bis Ungers wurde aus der Parallelisierung von Natur- und Kulturformen, der Biomorphie, die Sicherheit begründet, mit der Architekten behaupten konnten, das Angemessene, das Zulässige und das Wahrscheinlichste zu wählen, um so dem normativen Dogmatismus des jeweils für gut, wahr und schön Gehaltenen zu entgehen. Modernes Bauen als Postulat war damit auch immer schon ökologisches Bauen und damit ein Bauen für eine Gesellschaft im "natürlichen" Gleichgewicht.

Dergleichen "sozialistisch" oder wenigstens "sozial" zu nennen, ergab sich offensichtlich aus dem Zwang, die Überlegenheit des Modernen als des "Neuen" und "Anderen" zu beweisen, denn es hätte zu mehr als bloßen Mißverständnissen geführt, wenn der Anspruch, alles ganz anders zu machen, mit dem Hinweis auf die Natur der Kulturen begründet worden wäre. Aber worauf gründete sich das Konzept der naturdurchwirkten Gartenstädte, wenn nicht auf der Einsicht, was dem Menschen von seiner Natur aus angemessen, billig und kalkulierbar ist? Darauf beruhen auch die Konzepte der "nachhaltigen Entwicklung" in der Diskussion zwischen Stadtkernverdichtern und Umlanderschließern – genauso wie die Konzepte der sozialen Reintegration von Leben und Arbeiten, von familiären und Single-Existenzen, von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten – wie auch die Konzepte der modernen Rekultivierung durch Umnutzung.

In der römischen Antike war unser Kulturbegriff nicht aus der Entgegensetzung von Kultur und Natur, sondern aus der kulturell optimierten Nutzung der Natur begründet. Kultivierung der Natur hieß, die Menschen zu lehren, mit ihrer Natur sinnreicher umzugehen, sich also besser in die Natur zu fügen. Dieses Optimierungskonzept entspricht seinerseits Evolutionsstrategien, auf denen die Symbiosen von Lebewesen beruhen.

Die Moderne war als nunmehr rund 250 Jahre alte Epoche, so wird einvernehmlich behauptet, von einer wissenschaftlichen Hinwendung auf die Natur geprägt. Aus dieser Hinwendung ergaben sich die Möglichkeiten, technische Instrumente zu bauen – und nicht aus einer souveränen Verleugnung der Natur. Über lange Perioden schien man aber behaupten zu wollen, die Resultate naturwissenschaftlichen Arbeitens ließen die Natur für das Menschenleben immer unbedeutender werden. Man wollte mit Technik über die Natur triumphieren. Einer der Triumphe firmierte unter dem Namen der Hygiene gegen den natürlichen Schmutz und die Bedrohung durch das natürliche Gewimmel von Kleinstlebewesen oder Pseudolebewesen – als ob nicht jede Katze und jeder Fischotter, jeder Vogel oder Affe Perfektionisten der Hygiene seien.