Buch Transformationen. Schauplätze der Energie.

Erschienen
1992

Herausgeber
ABB Kraftwerke AG

Verlag
Edition Braus

Erscheinungsort
Heidelberg, Deutschland

ISBN
3894660872

Umfang
108 S

Licht – Kraft – Werk.

Die Fotografie als Lichteratur.

Texte zu Fotografien folgten lange einem bestimmten Kanon der Argumentation. Selbstverständlich – so hieß es beschwörend – sei die Fotografie ein ganz eigenes Medium künstlerischen Arbeitens wie die Malerei oder die Grafik. Allerdings hätten die Fotografen (in der Absicht, Bilder zu schaffen) die Bildgattungen und Konzepte der Maler überwiegend bloß nachgeahmt. Zwar stünde mit der Fotografie ein neues Medium zur Verfügung, aber keine neuen Bildideen oder Bildwertigkeiten. Zudem könnten Fotos als Bildobjekte nicht derart überwältigend wirken wie Malereien, weil deren physische Präsenz allein schon den papierenen Fotos überlegen sei.
Seit Friedrich Kittler 1986 in seiner grandiosen Untersuchung über technische Aufschreibsysteme wie Grammophon, Film, Typewriter darlegte, daß unsere ästhetische Produktion mit Beginn der Neuzeit nicht mehr von den Kunstavantgarden, sondern von den technischen Erfindungen entscheidend herausgefordert wurde, hat sich auch unser Blick auf Fotografien und unser Sehen durch und mittels Fotografien verändert. Denn dieses technische Aufschreibverfahren ist im wörtlichen Sinne Lichtschrift oder lighterature, wie Werner Nekes die Fotofiguration resp. Filmbildchimären nennt.

Licht wird Gestalt durch Belichtung, Licht verbildlicht die Gestalten – nicht nur im technischen Sinne als manifeste Reflektion der molekularen Oberflächen von Objekten, sondern auch als Gedanke, als anschauendes Betrachten, als "Klären", eben als Reflektion.

Mit dieser Doppelleistung von Licht als Beleuchten und Erleuchten hat man zwar schon vor der Erfindung der Fotografie gerechnet. So haben die Programmatiker der gotischen Kathedrale alle irgendwie umsetzbaren architektonischen Finessen erörtert, um den Bau möglichst "licht" auszulegen, mit diaphanen, durchscheinenden Wänden, damit die Gläubigen in die Sphäre des himmlischen Jerusalems eintauchen konnten. Das paradiesische Licht sollte gebannt werden, moduliert durch die Farben der Glasfenstermalerei.
Das Licht war auch Medium der Wandlung von Materie in Geist von Baukörpern in den Spiritualleib, als die barocken Lichtmaschinen, die atmenden Steine über den Grundrissen sich schneidender Ovale errichtet wurden: Schwungmassen, die, von Licht bewegt, das Sehen berauschten und den Gläubigen aufwärts schleusten in die Verklärung.
Das verklärende Licht in ein aufklärendes zu überführen, gab dem 18. Jahrhundert seinen Namen. Die englischen resp. französichen Begriffe für die Aufklärung bezeichnen ganz unmittelbar den Zusammenhang von Erhellen und Erkennen. Die Klarheit des Denkens setzte sich deutlich ab von der Blendung durch die Fülle und Stärke barocker Sonnen, der Sonnenkönige und Lichtmystiker.
Aber in allen diesen Ekstasen der Verklärung und der Erleuchtung wurde das Licht "nur" verkörpert – es wurde nicht selber Gestalt, gab sich nicht selbst Gestalt. Das ist erst seit der Erfindung der Fotografie möglich, deren mediale Autorität gerade darin bestand, daß sich das Licht selber gestaltete und nicht erst vom Maler, Bildhauer oder Baumeister gestaltet werden mußte.
Die Lichtgestalt der Fotografie wurde als objektiv verstanden, gerade weil sie keiner Künstlerhand bedurfte, sondern nur der Objektive, die das Licht focussierten, und der tabula rasa, der leeren Fläche, der "Platte", auf der die Fluchten des Lichts fixiert werden konnten.
Kittlers Ansatz gemäß mußte man (nach Erfindung der Fotografie) jemanden fotografieren, wenn man ihm ein Licht aufstecken wollte – ihn also auf sich selbst fixieren, ausrichten wollte. Wie leistungsfähig die Selbst-Kennung durch das Fotoportrait ist (eine tatsächliche Reflektion), spürt wohl jeder, indem er immer erneut schockartig gewahr wird, wie wenig er in sein Fotoportrait paßt (selbst und gerade als "Paßfoto"). Die Erfahrung der "Objektivität" des Fotoportraits liegt in der sichtbaren Differenz von Selbstbild und dem Foto als Bild selbst, weil wir uns ein Bild von uns machen, das gerade nicht von uns abgespalten – also nicht objektiviert und fixiert werden sollte. Aber das Gestalt gebende Licht ist eine unerbittliche Autorität – dem Maler entkommt man, dem Fotografen nicht!
Auch die Maler entkamen der Fotografie nicht – weder als Portraitisten noch als Landschaftsmaler. Sie begannen, Portraits nach fotografischen Vorlagen/Vorstudien zu malen; das erbrachte offenbar nicht nur gewisse Arbeitserleichterungen (die tagelangen "Sitzungen" der zu Portraitierenden vor dem Maler fielen weg), sondern führte auch zu neuen Sehweisen, die erst mit der Fotooptik entstanden (z. B. zur Differenzierung von "Bildschärfen" und zur Ausbildung neuer Konfrontationsdistanzen). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tragen die Maler nicht mehr auf ihren Hutkrempen brennende Kerzen, um ihren Bildern Licht zu geben. Sie gehen hinaus mit der Staffelei wie mit einem Fotogerät. Die Freilichtmalerei verdankt sich dem Lichtkult und dem Lichtraum der Fotografie. Auch die Freikörperkultur folgt der demonstrierten Macht des Lichts in der Fotografie; der Körper läßt sich von Licht beschriften, aufladen und zeichnen (Lichtbräune), das signalisiert Gesundheit, Kraft, Ausstrahlung, da sich alles Leben dem Lichte verdanke.

So verwandeln denn auch die großflächigen Glasfassaden der modernen Architektur das Rauminnere in eine fotografische Präsentation; als würde jedermann zu jedem Augenblick fotografierbar in jeder Phase der Arbeit, in jeder Haltung und Regung.
Die weißen Wände, die nackten Flächen der Wohnräume spannen sich wie große Bahnen von Fotopapier aus, auf denen das vom Licht geführte Sehen zum Ereignis wird. Die Welt wird sichtbar, insoweit sie Foto wird, also ins rechte Licht gerückt werden kann. Und wo das natürliche Licht dazu nicht ausreicht, durchschwemmen Kaskaden des Kunstlichts die Städte und Nächte. Der Blick auf die Welt folgt dem Licht, und insofern überall beliebig das Licht angeht, wird alles sichtbar, weil es fotografierbar wird.
Wir vergessen heute nur allzu leicht, wie die Fotooptik unseren Blick auf die Welt veränderte, ihn schulte und differenzierte. Nicht nur das Maß der Sichtbarkeit der Welt wurde in heute kaum noch erfaßbarer Weise erhöht; die Welt wurde auch durch die Fotografie dort ansehungswürdig, wo sie nie bildwürdig war – selbst in den kleinsten Unerheblichkeiten dessen, was zum Betrachten gar nicht gemacht worden war.
Wenn man einen Bestandskatalog der Welt z.B. anhand von Malereien erstellte und ihn mit einem Bestandskatalog anhand von Fotografien vergliche, käme man zu dem Schluß, die Welt habe ihre Erscheinungsform um ein Vielfaches erweitert und zudem ihre Maßstäblichkeit beliebig verändert.
Groß und klein, nah und fern, Einzelheit und geschlossene Form, Mikro- und Makrogestalt werden Fragen des Formats oder der von der Fotografie gewählten Ausschnitte, deren Kompositionen musikalischen Strukturen und Verlaufsformen näherstehen als denen der Malerei, weil sich mit der Fotografie auch unser Zeitsinn wandelte.
Nichts hat Zeiterfahrung, sowohl als Zeitverlauf wie als Geschichte der Zeit, derart geprägt wie die fotografische Analyse von Bewegung. Zum ersten Mal wurde die kontinuierlich fortlaufende Bewegung in ihre einzelnen diskreten Momente zerlegbar; in den Mehrfachbelichtungen gelang der Aufbau eines Kontinuums aus diskreten Momenten. Und "Zeitgeschichte" ermöglichte die Fotografie, indem sie die einzelnen Phasen der Bewegung fixieren konnte und aus ihnen jedes einmalige Ereignis nach Wunsch und Wahrnehmungsinteresse jederzeit zu rekonstruieren vermochte als Zusammenfügung der einzelnen Phasenfotos. Geschichtserfahrung machte man wie der Fotograf: als beglaubigtes Schaffen von Ereignissen durch deren fotografische Entwicklung in Sequenzen, Kontrasten und Formaten.
Philosophen dachten wie Fotografen – Husserl z. B. "entwickelte" seine Phänomenologie mit zentralen Begriffen der Fotografie, unter denen die "Abschattung" der Wahrnehmung genau den Vorgang der Bildwerdung der fotografierenden Phänomene aufhellt. Gerade weil die Fotografie nicht einfach die Welt als Bild wiederholte – oder bloß verdoppelte –, sondern sie erst in die Sichtbarkeit hob (sie ansichtig werden ließ), zögerte man lange Zeit, Fotos z. B. als Beweise vor Gericht anzuerkennen. Seit aber die Richter wissen, daß sie die verhandelten Ereignisse genauso zum Phänomen werden lassen, wie die Fotografie die Welt zum Phänomen werden läßt (je nach Wahl der Ausschnitte, des Maßstabes, der Lichtführung und der Tiefenschärfe), seither wird jedes Urteil zur Momentaufnahme der Lebenswelt von Menschen, aufgenommen von den Richtern als Fotografen mit dem Apparat der Justiz. Der Richter wird zum Autor des verhandelten Falles und jener gerichtsnotorischen Taten, die das menschliche Handeln zum Phänomen erheben. Ohne Richter keine Ereignisse, ohne Fotografen keine Welt der Phänomene, ohne anschauende Betrachtung keine betrachtbare Welt, die durch Bildreflektion aufgehellt, geklärt und erkannt werden konnte, wobei "Erkennen" als Verwandlung der Bilder zum Weltbild durch Reflektion, durch ein Zurückwerfen der Bilder auf Bilder, durch "Überblendung" zustande kommt.
Der Fotograf richtet die Welt ein, er richtet über ihre Erscheinungsformen (Format, Ausschnitt, Tiefe, Kontrast etc.), autorisiert durch das Licht der Welt, das sich selbst den Bildern direkt einschreibt (diese Autorisierung wird dem Maler nicht zuteil).
Jedes Foto ist ein Kontinuum vieler Bilder, die alle zu sich quasi periodische Selbstähnlichkeit haben – aus einem Negativ lassen sich zahllose Bilder entwickeln, die alle in gleichen Formaten, in gleicher Objekthaftigkeit zum Phänomen der Wahrnehmung erhoben werden können: das ist der Malerei nicht möglich – oder nur in Nachahmung der Fotografie und durch Übernahme ihrer Verfahren (z. B. A. Warhol).
Entscheidend für die Durchsetzung der Fotografie als Medium der Verbildlichung von Welt war die Tatsache, daß auch Laien mit dem Fotoapparat zu Autoren von Weltbildern werden konnten.
Die Malerei blieb immer ein exklusives Medium der Kunstproduktion. Die Fotografie professionalisierte die Laien in der Kunstrezeption; sie machte Laien zu produktiven Betrachtern, deren Sehen schöpferisch wurde, weil ihre Sichtweisen und Bilderfahrungen sofort wieder Fotobild werden konnten. Das schulte enorm die Fähigkeit, zwischen Medium und Information resp. Mitteilung zu unterscheiden. Aus der Erfahrung dieser Diskrepanz ergab sich auch für Laien die Möglichkeit, durch Unterscheiden zu urteilen, also kritische Aufmerksamkeit für die Eigenleistungen der Bildtechnik Foto zu entwickeln – also Bildwelten und Weltbilder durch Reflektion zur Einheit zu bringen und nicht mehr nur naiv als Leistung jedes Bildes vorauszusetzen. Auf diese Leistung richten sich – nach meinem Empfinden – alle Arbeiten von Henrik Spohler aus. Seine Fotografien lassen erkennen, wie heute professionalisierte Kunstrezeption (die reflexive Wahrnehmung der Welt) und professionalisierte Kunstproduktion (Fotografie als völlig eigenständige Lighterature) sich wechselseitig bedingen: die reflektierte Wahrnehmung wird erst als objektiviertes Fotobild produktiv – und die Lichteratur beweist ihre Kraft in der Herausforderung der Wahrnehmung zur Ausrichtung – zur Inszenierung des Blicks auf die Welt. Henrik Spohler ist ein sehr eigenwilliger Richter und Ausrichter unseres Blicks auf die Welt, weil er die Autorität des Lichts für jedes seiner Fotos geltend macht. Das Licht erfüllt die Leere des Chefschreibtischs als Klarheit und Eindeutigkeit der Position. Hier wird sichtbar, daß Funktionen den Arbeitszusammenhang bestimmen, nicht ihre zufälligen Verkörperungen in einem Funktionsträger. Deshalb stigmatisieren oder kritisieren diese Fotos auch nicht das Tischensemble der Entscheiderutensilien als bloßes (klein- oder großbürgerliches) Dekor, sondern erhellen die Arbeit der Entscheider oder Organisatoren als eine im wesentlichen geistige Leistung, die nicht illustriert werden kann, sondern die sich als immer bereits erbrachte, als erledigte manifestiert. Auch unsere Blicke in die Konferenzzimmer treffen nicht auf konkrete Menschen, sondern auf Konstrukte ihrer Arbeit, auf Kunstwerke (als gemalter Denkraum, Ereignisort der Operationen und als gebaute Form der Ordnung, die sich als Koordination von geometrischen Architekturen ins Bild projiziert). Führung ist hier wohl als Vision des Vollbrachten, des immer schon Geleisteten eingeschrieben; Schaffen als ein Wegschaffen, Ordnen als ein Freiräumen, damit sich etwas Neues ereignen kann, das "einleuchtet".
Wem dieses Neue evident erscheinen soll, zeigt Spohler in der Serie der Mitarbeiterportraits. Er zeigt sie als Individuen, als die Einzelnen, die Persönlichkeit genug sind, um Standpunkt beziehen zu können; sie sind nicht durch ihre Funktionen gekennzeichnet, sondern in der Konfrontation mit ihnen; sie sollen die Funktionen erst noch erfüllen. Sie blicken dieser Aufgabe entgegen in der Erwartung, die sie einzulösen haben werden. Und der Betrachter, der diese Erwartungen repräsentiert, sieht ihnen an, daß er seine Erwartungen zu korrigieren haben wird. Vor diesen Mitarbeitern werden alle Funktionen wieder in Verkörperungen überführt. Der Geist des Hauses muß sich zeigen, er muß Gestalt werden, um autorisiert zu sein.
Die Serie der Industrielandschaften bietet starke Beweise für die erhellende Kraft des Lichts: sichtbar wird die Welt als zweite, von Menschen geschaffene Natur, der wir aber immer noch so begegnen wie der ersten. Wir überformen unseren Schauder vor der Gewalt unserer abstrakten Ordnung und Gestaltung mit der Projektion von Gefühlen der Erhabenheit – wie vor stürzenden Hochgebirgsmassiven oder vor dem Anblick von Wüsten, Karsten und Salzsteppen. Ergriffenheit durch Ohnmachtserfahrungen stimuliert die Gewalt des Lichts, als seien wir bereits jenseits unserer Möglichkeiten, selber noch zu agieren. Das Licht bannt uns in der Ortlosigkeit, weil wir aus diesen Orten nicht in andere fliehen können; kein anderer Ort, nirgends!
Dagegen erscheinen die Fotos vom inneren Gelände der Fabrik als vertrauliche Bühnen vertrauter Abläufe und kalkulierbarer Handlungen, Handlungen des Tages- und Nachtlichts, der Jahreszeiten, der Arbeits- und Ruhezeiten. Zeit jedenfalls als Akteur in der Kontinuität der Übergange von Hell und Dunkel, von Sichtbarkeit und Vorstellbarkeit, von Vorher und Nachher, von Plan und Ausführung. Zeit als Lebenszeit der Bauten und Dinge, denen sich die Zeit in Spuren des Verfalls und der Rekonstruktion ursprünglicher Gestalt einschreibt. Zeit als Wandlung und als Struktur, Zeit als Prozeß und Dauer. Diskrete Momente, die Zwischenräume des Kontinuums: Übergänge in die Wiederholung!
ln der Serie der Fotos von Werkstücken, Werkzeug, Werkplätzen wird die Lichtschrift in alle Dimensionen ihrer Lesbarkeit zugleich vorangetrieben: die Maßstäbe wandeln sich von Bild zu Bild, die Konfrontationsdistanzen wechseln schnell, die Horizonte schrumpfen, die Bildausschnitte rapportieren die einzelnen Objekte zu einer endlosen Zahl von gleichen.
Das Teil eröffnet das Ganze, das nur gedacht werden kann, aber sich nicht zeigt oder gezeigt werden könnte. Nur das Einzelne ist unabweisbar vorhanden – zweifelsfrei – formenstark und gestaltenreich, so daß dem Blick nicht die Welt ausgeht. Der Blick wird immer treffen, weil immer etwas in den Blick gerät, das durch den Blick verwandelt wird, überführt in die Erscheinung, die nicht grundlos bleibt, solange das Licht den Grund des Sehens bietet. Henrik Spohlers Fotografien eröffnen solchen Grund.

siehe auch: