Buch Ethik-Kodex 2000

Ethik-Kodex 2000, Bild: Titelblatt.
Ethik-Kodex 2000, Bild: Titelblatt.
Ethik-Kodex 2000 : Antworten auf die Frage nach dem Sinn ; Referate und Zusammenfassungen vom Welt-Ethik-Gipfel November 1999 in Kühlungsborn ; Themenkreis Neue Werte für das 21. Jahrhundert / hrsg. und bearb. von R. S. Tomek & Maik Hosang.

Erschienen
1999

Herausgeber
Hosang, Maik | Tomek, Reinhardt St.

Verlag
Fischer und Edition Tomek

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

ISBN
3-923135-46-7

Umfang
240 S.

Einband
kart.

Seite 142 im Original

Über die Ästhetik des Unterlassens

Wenn man sich die Geschichte der Kultur und der menschlichen Normen und Gesetze ansieht, bemerkt man etwas ganz Eigentümliches. Sie sind nämlich nicht Aufforderungen, etwas in einem bestimmten Sinne zu tun, wie es der Humanismus macht, tue das, folge dem, sondern sie sind alle Aufforderungen, etwas nicht zu tun, d.h. etwas zu unterlassen. Z.B. du sollst nicht haben wollen, was ein anderer hat, du sollst nicht betrügen, du sollst nicht stehlen etc.

Das Unterlassen als ein Nichttun ist etwas ungeheuerlich Aktives, was eine viel größere Willensanstrengung verlangt, als jede Ausrichtung auf ein Ziel. Die Frankfurter Kritische Theorie, die ja einmal eine Theorie, eine Kritik des Humanismus gewesen ist, begründet, warum wir nicht so sehr darauf achten sollten, was wir auf welche Weise durch Tun erreichen, sondern auf welche Weise wir etwas mit ungeheurer Anstrengung als ganz große Leistung nicht tun. Heute kann jeder Hanswurst mit hinreichenden Milliarden Mark eine Plutoniumwirtschaft etablieren, dazu gehört weder Verstand noch Willen oder irgendwas, gar nichts gehört dazu, außer Kapital. Aber zu verhindern, daß jemand ein neues, alle gefährdendes Tun entwickelt, das verlangt Kreativität, Einfallsreichtum etc. Man sieht, wenn man das einmal nebeneinander setzt, daß der eigentliche herausfordernde Handlungstyp der des Unterlassens ist. Alle Gebote aller Kulturen aller Zeiten sagen immer nur, auf welche Weise das Tun und das Unterlassen gesehen werden soll, d. h. welche Kenntnis erfahre ich über das Unterlassen als ein Tun durch die Analyse des Tuns. Die humanistischen Traditionen geben uns einen großen Rahmen von Normen, Vorstellungen und Zielen vor, immer besser, immer fortschrittlicher, immer höher, vor allem immer schneller etc.

Die Kritik an dem Humanismus ist die Kritik an der Vorstellung, daß man solche Normen in irgendeiner Weise festlegen kann, daß Konsens vom lieben Gott inspiriert ist. Das ist der eigentliche Beitrag der Kritik am Humanismus durch die kritische Schule. Jürgen Habermas gehört nicht dazu, um das gleich zu sagen, aber einst haben wir beide noch dazu gehört.

Wir können keinerlei Beziehungen auf diese gegebenen Normen substantieller Art herstellen, d. h., selbst wenn wir uns auf die Götter beriefen oder die höchste Inspiration, den größten Konsens zwischen allen besonders intelligenten Menschen, mit den weisen Menschen, den Experten. Wenn man diese Normenkritik hinnimmt, von welcher der Humanismus behauptet, es sei tödlich - denn wenn ich die Normen, auf die ich mich ausrichte, kritisiere, habe ich sozusagen kein Ziel, ich verliere das Ziel - so stimmt ganz das Gegenteil: Wenn ich die Normen kritisiere, gewinne ich Praxis jenseits der Ideologie der Normen, der Ethik in dem klassischen Sinne. Warum? Weil dann immer klar ist, was ich zu unterlassen habe als ein Tun, und das kann ich sofort positiv formulieren. Wie Erich Kästner sagte: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es". Oder:
"Das Gute, mein Freund, so viel steht fest, ist stets das Böse, das man unterläßt." [Wilhelm Busch] Es ist unmöglich, wissenschaftstheoretisch, philosophisch oder theologisch oder wie auch immer zu begründen, welches eine Norm sein soll, welche die ganze Menschheit zu akzeptieren habe. Aber es ist ganz leicht möglich, mit allen Menschen herauszufinden, was denn das Nichtwünschenswerte ist, das zu unterlassen ist, das Böse also zum Beispiel, das Stehlen, die Korruption. Alle wissen das, in allen Kulturen. Also kann man sich auf diese Vorgaben von Nichtnormativität, das war das Resultat der Kritik, sehr leicht einlassen.
Ich habe versucht, eine solche Ästhetik des Unterlassens für die Kunst zu machen. Worauf es hier jetzt aber eigentlich ankommt, ist, daß die in diesem Bereich gewonnenen Einsichten von der ganz simplen Praxis des künstlerischen Arbeitens her kommen. Die meisten naiven Menschen glauben, der Künstler hat etwas im Kopf und das bringt der auf die Leinwand; hier steht dann das fertige Bild, das wird nur noch übersetzt. Während ein wirklicher Künstler ja umgekehrt, eben nicht normativ arbeitet, kein vorgegebenes Ziel, keine vorgegebenen Normen hat, die er erfüllt und ausführt.

Sondern er entwickelt selbst in dem Tun eine Begründung für das, was dabei herauskommt, um es unterscheiden zu können.

Wie übersetzt man nun diese Erfahrungen mit einer Qualifizierung von Nichttun? Also z. B. beim Künstler ist ein ganz entscheidender Punkt, nicht weiterzumachen. Jeder Künstler weiß, die entscheidende Erfahrung ist, er muß aufhören, er wird psychopathisch, wenn er pausenlos weiter Linien, Formen, Farben auf dies selbe Bildfeld schmiert oder er ist psychopathisch, wenn er es pausenlos in den Papierkorb wirft. Ihm steht also eine eindeutige Erfahrung voraus, aufzuhören, d. h. also zu unterlassen, damit weiterzumachen und zu glauben, er könnte immer noch besser, immer noch perfekter, noch schöner, noch angepaßter, etwas erreichen. Jeder, der das mal gemacht hat, sei er Michelangelo oder ein Raffael, weiß, daß es nicht geht. Daß man da nicht Fortschritt kennt, in der Kunst ist der Begriff Fortschritt noch nie aufgetaucht. Jeder Künstler ist in dem Maße Bestandteil der Geschichte, wie er eine Unübersteigbarkeit demonstriert, nämlich einen höchsten Grad an Problematisierung. D. h. Raffael ist unübersteigbar durch Michelangelo, weil Raffael ein Problem der Kunst so gestellt hat, daß es eben prinzipiell nicht lösbar ist. D. h. Raffael konfrontiert jeden Rezipienten und jeden Kollegen, jeden Schüler mit einer prinzipiellen Unlösbarkeit der Probleme, die Künstler behandeln, eben dieser Normativität beispielsweise.

Michelangelo ist wiederum unvergeßlich, weil er ein Problem formuliert, daß niemand durch etwas besser, etwas schöner machen, noch besser perspektivisch, zweiaugenperspektivisch, nicht nur monoperspektivisch, machen kann. Also wir haben die Kunstgeschichte als Einzelbereich der Gesellschaft, in der es unmöglich ist, von Optimierungen zu reden, von Fortschritt zu reden, und trotzdem ist es eine permanente Geschichte von großen Leistungen, die ja wohl alle wenigstens der Wahrnehmung nach, der Attraktion nach, zugeben werden. Außerdem ist es auch in vieler Hinsicht beispielhaft. Für die Ökologen, die es interessiert: Es gibt keine weniger irreversiblen Handlungen als die der Kunst. Diese ist von vornherein auf Reversiblität angelegt, man muß sie nicht einmal angucken, es wird offensiv dafür geworben, schauen Sie neben das Werk, schauen Sie nicht hin, lassen Sie sich ja nicht in den Sog bringen. Sie sind nicht verpflichtet, ins Museum zu gehen oder was auch immer. Also in hohem Maße auch für andere Bereiche beispielhaft. Wenn man die jetzt alle zusammenfaßt, alle diese Beispiele, dann kommt man auf eine Vorgabe, die im 18. Jahrhundert entstanden ist und die in diesem Jahrhundert, glaube ich, das erschließendste, anschlußfähigste, das explikativste Theorem überhaupt darstellt. Im 18. Jahrhundert, das brauche ich aus Bildungsgründen nicht nachzuvollziehen, im 18. Jahrhundert hatte das für bestimmte Regionen in Europa eine Bedeutung. In Österreich war dies z. B. eine besonders deutliche Formulierung dieses Imperiums, "Tu felix austria nube", aber im 20. und zwar wiederum, weil es ein Amerikaner in die Hand genommen hat, nämlich der Wilson, wird dies anders. Nun, wieso kommen wir darauf? Weil Wilson Kantianer war, zumindest hat er Kant studiert. Wilson wußte also, was eine Ethik ist. Ethiken sind Systeme der Eichung von Handlungen der Individuen einer Gruppe oder der Kultur, die diese Ethik verfolgt. Es heißt, es wird meßbar, einschätzbar, bewertbar, wie das, was einer tut, im Kontext selber auftritt.

Normale Kulturen, bei uns bis etwa Anfang dieses Jahrhunderts, kennen nur ein einziges Eichungssystem, wenn es um die letzte und höchste Wertigkeit geht, und das kennen Sie auch alle, Kopf ab oder eben nicht. D. h., die Eichung wurde existentiell, der Ernstfall von Tod oder Leben. Alle Kulturen aller Welt operieren völlig gleich. Ein Diktoriumssystem, d. h. ein System der Eichung und Bewertungen, also auch ethischer Vorstellungen von oben nach unten, ist dafür aufgebaut, mit Anrufen der Götter, Anrufen der Existenz, der Gruppe, Anrufen des Staates, des Bündnisses, etc.

So funktionierten alle Diktoriumsysteme; z. B. bei unserer humanistischen Tradition führte das dazu, daß das sakralste Bauwerk der Kulturen die Stadtmauer war, nicht die kirchlichen Tempel. Das ist nie vorgekommen, das Sakralbauwerk war die Festungsmauer, das war die lebensraumdefinierende Einheit. Das hat sich ja auch wohl bewährt, wenn Sie noch vor dem 18. Jahrhundert sich vorstellen, wie da der Ausdruck für dieses Diktorium im Politischen, Theoretischen, Sozialen gepflegt wurde. Denken Sie an den Leviathan von Thomas Hobbes, wo alle kleinen Männchen sozusagen als kleine Monaden, oder Atome, eine Figur des Herrschers bilden. Da wurde Ihnen deutlich gesagt, worum es geht, nämlich du unterlegst dich diesem Eichungssystem mit ja oder nein, du gehorchst oder bist ausgeschieden, du stimmst zu oder akzeptierst oder wirst geköpft und so fort und so fort. Also, das ging immer in allen Kulturen ziemlich gut.

In diesem Jahrhundert ging es eben nicht mehr gut, weil dieses System nicht mehr funktioniert. Es hat eine gewisse Tragödie, daß das, warum es nicht mehr funktioniert, ausgerechnet von den konservativsten Leuten in diesem Jahrhundert entdeckt wurde, nämlich von Carl Schmitt oder Jünger oder solchen Leuten, die es dann ja bedauert haben, daß es mit dem Kopfab nicht mehr klappt. Nun, was hat Wilson gesagt, als Kantianer, zum Eichungssystem, im existentiellen Ernstfall leben zu bleiben oder zugrunde zu gehen?

Für das Kollektiv heißt das, am Schicksal des Krieges setzen wir Amerikaner es außer Kraft, denn wir gehen nach Europa in den I. Weltkrieg unter der Bedingung, daß wir Krieg führen, um den Krieg zu beenden. Er deklarierte also unter dem Gesichtspunkt der Nichteichung am existentiellen Ernstfall, Leben oder Tod bedeutet Kriegführen, die Verhinderung eben dieser Eichung. Es gab nicht mehr die Möglichkeit, einen Krieg zu führen für Amerikaner, um andere Leute tot zu machen, um Frauen zu rauben, um Territorium zu nehmen oder was immer, sondern es war nur funktionabel im Hinblick auf die Vermeidung des Krieges. Dieses Gebot des Verbots des Ernstfalls, also der höchsten Eichung an der Existenzfrage, haben wir im Kosovo wiedergesehen. Die deutsche Bevölkerung jedenfalls hat es nicht verstanden, wenn Herr Außenminister und Herr Verteidigungsminister den Leuten sagten, die NATO geht nach Kosovo, um ausschließlich Krieg zu führen zur Beendigung des Krieges zwischen Serben und Albanern.
Da wußte man nicht, vereiern die uns jetzt, machen die dummes Zeug mit uns, was ist das eigentlich für eine merkwürdige qualifizierte Handlung? Ich führe Krieg, um Krieg zu beenden? Was soll das eigentlich bedeuten? Nun, das werden wir gleich nochmal sagen, was das bedeutet:

Eben Eichung am verbotenen Ernstfall in der Parallele zur Eichung am gebotenen Ernstfall. Der gebotene Ernstfall war: Was, du Schwein, willst dich hier nicht unterwerfen, die Rechtsordnung nicht anerkennen? Kopf ab, ausgegliedert, verkomme, du Individuum oder Subjekt, du kannst jetzt für dich allein nicht leben, wenn du ausgegrenzt wirst, wirst du zum sozialen Tod verurteilt.
Nun war es nicht nur Herr Wilson alleine, der so vorging, sondern parallel zu Wilson hat etwa Schumpeter, einer der weltweit bedeutendsten Nationalökonomen in diesem Jahrhundert, dieses Theorem für die Wirtschaft entwickelt mit der berühmten Formulierung von der schöpferischen Zerstörung.

Schumpeter sagte, der Manchesterkapitalismus ist nicht mehr brauchbar, wir können sozusagen das wirtschaftliche Verhalten der Individuen nicht mehr am existenziellen Ernstfall der Vernichtungskonkurrenz messen, weil das ganze System gefährdet wird. Also, der neue kapitalistische Typus der Konkurrenz ist nicht mehr der, der den Gegner, den Konkurrenten vernichtet, sondern der den Konkurrenten erst herbeizieht und aufrecht erhält. Diese schöpferische Zerstörung heißt nicht mehr Konkurrenz als Zerstörung des Konkurrenten, Eliminieren, Ausscheiden etc., sondern es ist das Schöpferische an der Konkurrenz, eine Möglichkeit der Eichung des eigenen Erfolges, der eigenen Handlungen mit Bezug auf den andern. Es geht um den Wettbewerb, um Vorherrschaft am Markt, aber nicht um den Preis der Auslöschung. Schumpeter hat das postuliert und um nur ein Beispiel zu sagen, die intelligenteste Anwendung dieses Postulats ist ausgerechnet bei der Gründung der Deutschen Fußballbundesliga in Gang gesetzt worden.

Da hat man gesagt, Kritik am Humanismus, also klar, wir treiben Sport, nicht mehr weiter, höher, schöner, sondern wir treiben Sport, um Geld zu verdienen. Wenn wir aber Sport, z. B. Fußball treiben, um Geld zu verdienen, dann ist die innere Logik des Widerspruchs zu dem, was wir da tun, wenn wir, weil wir das meiste Geld haben, allen anderen die besten Akteure wegkaufen. Es bricht die ganze Liga als Veranlassung von Sport und Kommerzialisierung in sich zusammen, weil kein Publikum mehr zahlen wird, wenn die besten Leute immer nur in zwei Mannschaften spielen. Also schöpferisch zerstören. Schumpeter triumphiert in der Bundesliga, als man gesagt hat, was, du Schwein, aus kommerziellem Interesse kaufst du die besten Leute weg, das darfst du, wenn du uns eine Summe gibst, mit der wir bei andern die Besten kaufen können. Sie kennen doch die berühmte Ablösesumme. In dem Augenblick war der Wettbewerb zwischen den Vereinen möglich, ohne daß das rein wirtschaftliche Interesse sie in die Vernichtungskonkurrenz zieht, weil, die Vernichtungskonkurrenz auf dieser Ebene würde bedeuten, die Liga fällt weg und niemand zahlt mehr Eintrittsgeld oder Werbung für das Zuschauen auf dem Fußballfeld.

Dann wurde das im medizinischen Bereich durchexerziert. Das hat sogar Gesetzesrang. Es gibt eine Dame, Uta Würfel von der FDP, die unsterblich geworden ist, als sie nämlich 1973 vorgeschlagen hat, die Eichung am verbotenen Ernstfall in der Medizin so zu formulieren: "Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker". D.h., sie hatte zum ersten Mal entdeckt, daß die Eichung am Ernstfall selbst in der Medizin bedeutet, daß jede Therapie krank macht, denn wenn ein Arzt als Therapeut mit bestimmten Mitteln eine Herzinsuffizienz heilt und zwar nachweisbar heilt, bedeutet das mit 100prozentiger Sicherheit Niereninsuffizienz nach 6 - 8 Monaten. Mit anderen Worten, es war entdeckt worden, am Ernstfall der Therapie, Tod oder Leben des Patienten, oder toter oder lebender Schlappschwanz, oder Viren, oder was immer, daß Therapie nur dann funktioniert, wenn sie Wirkungen hat, hat sie aber Wirkungen, macht Therapie krank.

Also wußte man, man darf das ärztliche Verhalten nicht mehr am Ernstfall, sondern am verbotenen Ernstfall definieren. Du, Arzt, hast ein Verbot zu befolgen, unterlasse durch Therapie, jemanden krank zu machen und dieser Satz "Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker", ist dieser ruhmreiche Ausdruck, der ja den letzten Rang bekommen hat, zu wissen, worum es eigentlich geht bei der Eichung am verbotenen Ernstfall. Das, was den Arzt leitet, ist die Vermeidung des Ernstfalls, und es ist in diesem Fall besonders tragisch, durch gutes Tun, durch tatsächlichen Erfolg beim Heilen jemanden krank zu machen. Jede Therapie, die wirksam ist, hat Nebenwirkungen, die nicht kontrollierbar sind und wenn mehrere sind, weil man mehrere Dinge an sich hat, dann werden die Nebenwirkungen zu den Hauptwirkungen, und das war in dieser Erkenntnis als Verbot der Eichung am Ernstfall und als Gebot der Eichung am verbotenen Ernstfall ausgedrückt.

Nun, warum ist das überhaupt entdeckt worden? Weil, als Wilson, als Schumpeter und andere zwischen 1911 und 1921 diese Theoreme ausformuliert haben, die übrigens zum Völkerbund geführt haben, und in den Präambeln noch drin stehen, als Erfahrung, z.B. als Krieg zur Beendigung aller Kriege, Carl Schmitt und einige Konservative sich fragten, ja verdammt noch mal, warum funktioniert das dann nicht mehr mit dem Humanismus, mit der Hierarchie der höchsten Werte und der Drohung mit dem Tode etc., was ist da eigentlich passiert? Und dann hat das Carl Schmitt als erster systematisch untersucht, dann ist durch Meyer, einer der Schmitt-Schüler, deutlich gemacht worden, warum das so ist.

Warum? Weil das höchste Maß dieser Bewertung, d.h. Tod, die Verhängung der Todesstrafe, inzwischen zum Gegenstand der Unterhaltung geworden ist. Wenn das Höchste im Eichungssystem einer Kultur nicht mehr dem hochrangigen Sakralbau der Stadtmauer, der grundlegenden Existenz über Leben und Strategie vorbehalten ist, sondern zum Unterhaltungsgegenstand wird, dann taugt das Eichmaß nicht. Die höchstrangigen Anrufe mit Verhängung der Götterstrafe usw. sind jeden Tag als Krimi im Fernsehen, 20.000 mal kann man weltweit pro Tag Leichen produziert sehen. Wie soll das noch als ultimo ratio der Begründung der Eichung funktionieren? Weil dieses Hochrangige zum Gegenstand der Unterhaltung geworden ist, taugt diese Eichung eben nicht mehr. Und weil die Eichung am Ernstfall, Kopf ab, nicht mehr taugt, kann man daraus nur schließen, dann müssen wir alle kulturellen Handlungen am verbotenen Ernstfall, am nicht mehr möglichen Ernstfall eichen, und das ist das Eigentliche, was sich in diesem Jahrhundert vollzieht.

Sehen wir jetzt auf den Kosovo-Krieg noch einmal zurück, dann bedeutet das, sie müssen mit Nachdruck als NATO zum Kosovo gehen mit dem Wilsonschen Diktum: Wir eichen unser Verhalten am Verbot der Kriegsführung, wir führen Krieg, um das Verbot der Kriegsführung. Da müssen Sie an jede kleine Rakete einen Zettel machen, liebe Freunde, Entschuldigung, wir müssen mal eben, um den Krieg zu verhindern, Krieg führen. Hier schmeißen wir ein paar Bomben ab, die werden Brücken zerstören, aber unsere Versicherungsagenten sind schon unterwegs, wir geben die Garantie, daß das später alles sehr viel besser und sehr viel neuer und sehr viel moderner aufgebaut werden wird. Jede dieser Handlungen ist nicht ernst gemeint, es ist ja gar nicht so, wie es auszusehen scheint, sondern wir sagen euch dies eigentlich immer. Daraus ergab sich dann dieses gewisse Mißverständnis bei der Bevölkerung, denn der wurde zugemutet, nicht mehr, einer führt Krieg und der hat Gründe dafür, er will das Territorium haben, er will die Weiber haben, er will die Erdölquellen haben oder will irgendetwas haben, sondern wir haben kein Motiv außer dem Krieg gegen den Krieg.

Also kommt dabei erstens heraus, wenn wir Ethiken im 20. Jahrhundert formulieren wollen als Summe der Erfahrungen für das 21. Jahrhundert, müssen wir uns klar machen, daß wir bei dem Kanon, den wir aufstellen müssen, ausschließlich in Formulierungen dessen operieren können, was wir zu unterlassen haben.

Zweitens, daß wir keine Normen aufstellen, sondern nach dem Muster von Wilhelm Busch verfahren, d.h.: Das Gute, soviel steht fest, das ist stets das Böse, das man unterläßt. Wir folgen einer bestimmten Orientierung, um das, was wir für schädlich, für böse, für kontraproduktiv, für krankmachend halten, um darauf unser Verhalten als Verhindern, als Unterlassen auszurichten.
Drittens, wir müssen in hohem Maße bestimmen, was für ein Handlungstypus Verhindern, Unterlassen eigentlich darstellt, wo hier bisher in Verfolgung großer humanistischer Ziele mit hohen Normen immer gesagt wird, die erste Tugend ist, erreiche das, noch besser, noch höher, noch weiter, noch mehr. Das war ja der Humanismus schlechthin. Also, wie kommen wir da raus? Indem wir das Eichungssystem, und jede Ethik ist ein Eichungssystem, in das wir uns selber stellen, daran entwickeln, wie weitgehend es uns bereits gelingt, aus der Irreversibilität, aus der Nichtaufhebbarkeit der Konsequenzen unseres Handelns, in die Reversibilität umzusteigen, d.h., gewisserweise in die Folgenlosigkeit. Und wie gesagt, dafür gibt es nur ein historisch belegbares Beispiel und das ist die Kunst.

Im Sinne der westlichen Geschichte von 1400 bis in die Gegenwart. Absolut reversibel, komplett folgenlos, wogegen sich viele Künstler natürlich immer wieder wehren, wenn man ihnen sagt, die höchste Tugend deiner Arbeit als Künstler ist, das du keine Folgen hast. Dann sagen sie: "Was, ich will doch die Welt verbessern, ich bin doch Humanist." Dann ist er schon wieder auf der Ernstfall-Seite und muß scheitern.

Viertens, keine Legitimation durch Berufung auf Diplom, auf Delegation, auf Einschaltquoten etc. Wenn ein Künstler sagt, aber ich habe doch kein Diplom, da lachen alle, und wenn einer sagt, ich mach' es so, wie Hunderttausende andere auch, lachen auch alle. D. h., er muß tatsächlich nur an seinem eigenen Beispiel bewertet werden, er hat ja keine Sanktionsgewalt, er kann weder das Zuhören belohnen, noch das Wegsehen bestrafen. Dies ist also tatsächlich ein Individuum, das da spricht. Wenn man das so zusammenfaßt, glaube ich, hätte man eine Chance. Das Beispiel der Kunst, generalisiert auf das Theorem des verbotenen Ernstfalls, wurde grundlegend bei Schiller als das "Spiel" benannt, wurde dann nur noch zugelassen auf der Ebene des Spiels.

Es wurde ästhetischer Schein genannt und so fort, also strikt unterschieden gegenüber der Sphäre der Irreversibilität.

Wenn man das tut, kann man möglicherweise für einen zukünftigen ethischen Kanon, der aber nicht normativ, sondern nichtnormativ ist, tatsächlich mit guten Gründen zeigen, daß wir völlig ohne Fortschritt "höher, weiter, schneller, mehr etc" auskommen.

Weil ja die Kunstgeschichte existiert und niemand, aber auch absolut niemand sagen würde, daß sie bestimmt ist durch ein Besser, ein Höher, ein Schneller, ein Weiter, ein Mehr oder was auch immer. Die Künstler waren alle in ihren Zeiten jeweils die Individuen, deren Probleme so formuliert sind, daß niemand darüber hinauskommt.

Das würde auch jetzt mein Abschlußwort bedeuten, daß diese Probleme, von denen wir hier sprechen, eben nicht mehr daraufhin untersucht werden, wie wir sie lösen können, sondern daraufhin, daß wir der Bevölkerung zeigen können, diese Probleme sind prinzipiell unlösbar, wie die Todesfrage, die Gottesfrage etc. Erst in dem Augenblick, in dem wir nicht mehr intendieren, die Lösung für das Problem zu finden, werden wir Leute mit einer Realitätserfahrung konfrontieren, die sie nicht mehr an Experten delegieren.
Die humanistische Expertenkultur ist zu einem hohen Maße Verursacher eben jener Haltungen und Erwartungen der Bevölkerung, die Probleme formuliert, um sie lösen zu lassen. Aber, wie die Kunst ebenfalls zeigt, es gibt nicht ein einziges wichtiges Problem des Menschen, das je gelöst worden ist. Probleme wurden bisher gelöst, indem man neue Probleme schafft. Jedes Problem ist die Schaffung neuer Probleme und es gibt eine Regel: "Sind die Nachfolgeprobleme kleiner im einzelnen, dann wird die neue Regel zugelassen, sind sie aber größer im einzelnen, dann nicht." Man kann in der Weltgeschichte zeigen, es hat noch nicht (siehe Therapie in der Medizin) eine einzige Problemlösung gegeben, die nicht durch das Schaffen größerer Probleme gelöst worden wäre, als es das Ausgangsproblem gewesen ist. So zusammengefaßt, gäbe es meiner Ansicht nach am kontrollierbaren Beispiel der Kunstgeschichte eine Möglichkeit, auf einen nichtnormativen Kanon ausgerichtet zu sein.

Im übrigen möchte ich Herrn Falin sagen: Die einzigen Genies in ihrem Bereich Politik/Militär, die das verstanden hatten, waren amerikanische und russische Generäle, die 63 und 64 ausgerechnet haben, daß das Zünden dieser theoretisch 70-fachen Auslöschungskapazitäten nicht dazu führt, daß alles menschliche Leben auf Erden ausgelöscht sein würde. Die Kränkung der amerikanischen, russischen Atomgenies bestand darin, daß, ich weiß es noch wörtlich, "ein paar Kaffern", so haben die gesagt, übrig bleiben würden, d. h. irgendwo in Ozeanien, in Afrika bleiben ein paar Leute übrig. Was für ein Skandal! Wir, die diese Energiequelle geschaffen haben, löschen uns aus, die menschlichste Großhirnrinde geht verloren und diese Idioten bleiben übrig. Das war der Grund, weswegen die Bombe nicht fiel, weil bewiesen werden konnte, daß sie die Welt der Menschen nicht völlig auslöschen wird. Das ist die große Tat gewesen von mathematisch operierenden Experten, eine wunderbare Geschichte. Das ist eine Methode der Effektivierung des Gelächters, der Souveränität in dem Umgang, weil sie sich nicht mehr auf Besserwissen von Normen, auf Mehrwissen als alle andern stützen müssen. Wir kennen die Normen auch nicht, wir wissen auch nicht, was das Ziel ist, aber wir wissen, was vermieden wird und das wissen alle Menschen gleichermaßen. Das teilen sie in der Tat in allen Kulturen. Das ist ja das, was Herr Uexküll vorhin ansprach als Resultat einer vergleichenden Studie. Sie teilen alle genau die Feststellung über das, was zu vermeiden ist, was ein zu großes Risiko ist, was ihren Gruppenzusammenhang gefährdet, was ihr Überleben gefährdet usw. usw.

Und dadurch, daß das teilbar ist, können wir uns darauf berufen. Also ich plädiere sehr dafür, den Handlungstypus des Unterlassens für eine ethische, nichtnormative Bestimmung des Handels auszuarbeiten und den Kanon des nichtnormativ Bestimmten, zu Unterlassenden auszuschreiben, und sich dabei ausdrücklich am Beispiel der Künstler zu orientieren. In der Kunstgeschichte gibt es das: Nie ein Problem gelöst, höchste Tugend der Reversibiltität, Beiläufigkeit, keine Entsorgungsprobleme, Museen als Container wunderbar - alles, was produziert wird, kommt da in die Kiste, wird zugemacht, dunkel, aus, keine Folgen, keine Grundwasserschäden - nichts, nichts. Geniale Erfindung und das ist das 18. Jahrhundert. Die Museen diesen Typs gibt es erst seit 1820, sie waren eine Konsequenz der Enteignung der Aristokratie. Das ist übrigens auch die Weisheit dieser berühmten asiatischen Ohnmachtsgesten, der Ohnmacht der Macht und die Macht der Ohnmacht, gewesen; in seligen Zeiten, an die man gar nicht mehr zu denken wagt. Aber wir müssen jetzt im Übergang zum nächsten Jahrhundert diese Ebene des Normativen zu Gunsten des Nichtnormativen aufgeben. Das heißt, auch die Kritik des Humanismus mit seinem Ziel des immer Besseren, Höheren, Weiteren, Mehr etc. zu Gunsten der Effektivität des Unterlassens [und] deren Verknüpfung mit dem Gebot vom schöpferischen Ernstfall oder vom Verbot der Eichung am Ernstfall einführen.

Dann kann man, glaube ich, ohne je etwas besser wissen zu müssen, ohne je zu prätendieren, man sei der liebe Gott, ohne Macht zu haben, eine effektive Eichung der Handlung einzelner und Gruppen vornehmen. Denn Ethik ist nichts anderes als die Eichung des Verhaltens von Individuen durch andere, auf die sie in einer Kultur und einem Gruppenzusammenhang bezogen sind.

siehe auch: