Magazin FOCUS 26/1996

Focus 26/1996, Bild: Titelblatt.
Focus 26/1996, Bild: Titelblatt.

Erschienen
1995

Erscheinungsort
München, Deutschland

Issue
26/1996.

Mit der Natur rechnen.

Interview mit Stephan Sattler

Vor drei Jahren haben Sie in einem Interview der Führung des Daimler-Benz-Konzerns vorausgesagt, sie werde in kurzer Zeit mit großen Verlusten rechnen müssen. Ihre Prognose traf ein. Wie kommen Sie als Ästhetiker zu solchen Behauptungen?

Brock: Zwischen dem, was Menschen denken, sich vorstellen, wünschen oder planen, und dem, was sie in ihren Handlungen und Taten davon umsetzen, besteht eine unaufhebbare Differenz. Nichts von dem, was sie denken, läßt sich hundertprozentig in Handlungen verwirklichen.
Das heißt: Menschen müssen mit dem Scheitern ihrer Pläne rechnen. Die Führung von Daimler-Benz – nicht untypisch für das Denken vieler Wirtschaftsführer – schien mir nun damals gerade diesen entscheidenden Sachverhalt nicht wahrhaben zu wollen.

Sattler: Was haben solche Einsichten aber mit der Ästhetik zu tun?

Brock: Die Ästhetik hat es nicht nur mit den schönen Dingen der Welt zu tun, wie viele glauben. Sie muß sich vielmehr mit der Natur des Menschen befassen, mit seinem Weltbildapparat, wie Konrad Lorenz das genannt hat. Wie nehmen Menschen die Welt wahr? Wie verarbeiten sie ihre Wahrnehmungen?

Sattler: Heben Sie damit nicht die Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auf?

Brock: Man muß sich mit den Voraussetzungen der Ästhetik beschäftigen, und das ist nun mal die Natur des Menschen, also das, was vorgegeben ist, und nicht das, was ich mir ausdenke. Unser Gehirn, unser Nervensystem machen unseren Wahrnehmungsapparat erst möglich. Ein Ästhetiker, der die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung arrogant übergeht, schwebt im luftleeren Raum.
Schon die Künstler des 15. Jahrhunderts haben sich mit dem Problem der Wahrnehmung – wie sie funktioniert – beschäftigt. Leonardo da Vinci war die grundlegende Differenz zwischen seiner Wahrnehmung und dem, was er wahrnimmt, vollauf bewußt. Lange vor den Naturwissenschaften, vor der Entdeckung des Phänomens der optischen Täuschung, wußte er, wie groß der Unterschied zwischen Vorstellung und Wirklichkeit sein kann.
Künstler kannten immer schon das Problem, wie viel oder wie wenig sie von ihren Vorstellungen verwirklichen können. Diejenigen, die etwas taugen, werden zu Experten des Scheiterns. Sie machen die Erfahrung, wie sehr Menschen mit ihrer Natur rechnen müssen und wie unmöglich es ist, durch Kraftakte des Willens die Natur hinter sich zu lassen.

Sattler: Ist Ästhetik für Sie eine Universalwissenschaft?

Brock: Ästhetik ist eine Basiswissenschaft, wenn man darunter folgendes versteht: Sie hat sich mit unserem Wahrnehmungsapparat zu befassen, sie muß zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit unterscheiden, und sie muß beurteilen können, wie Menschen ihre Wahrnehmungen in Zeichen, Bildern, Gesten und Texten verarbeiten und wie Menschen kommunizieren.

Sattler: Ein gewaltiges Programm!

Brock: Das einem aber vorgegeben ist, wenn man die Arbeit der Künstler seit dem 15. Jahrhundert, die Erkenntnisse der Ästhetik seit dem 18. Jahrhundert, der Anthropologie seit dem 19. Jahrhundert und die neuesten Forschungen über die Gehirnfunktionen ernst nimmt. Der Mensch ist Teil der Natur, ist den Logiken der Natur unterworfen. Auch seine kühnsten Konstruktionen und Gedanken bleiben von der Natur abhängig.

Sattler: Warum betonen Sie "die Natur" so stark?

Brock: Weil in den westlichen Kulturen der Wille, das freie Verfügen über die Natur übertrieben wird. Der Mensch ist nicht Herrscher der Natur, vielmehr muß er immer mit ihr rechnen. Er kann aus ihr nicht aussteigen. Als Ästhetiker halte ich mich an die Anthropologen-Regel: Man muß den Menschen helfen, mit ihrer Natur fertig zu werden. Darum ist für den Ästhetiker die neuere Hirnforschung, aber auch die Molekularbiologie so wichtig. Sie wecken das Bewußtsein, daß alle unsere Kulturleistungen vor allem Funktionen unserer Natur sind.

Sattler: Worin besteht nun Ihr Unterricht als Ästhetikprofessor?

Brock: Ich unterrichte keine Künstler oder Produzenten, sondem Zuschauer, Rezipienten. Ich betreibe Rezipienten-Professionalisierung. Was heißt das?
Heutzutage wird jeder mit einer Flut von Appellen überschüttet. Der Streit geht um das Gute, das Schöne, das Wahre, wie es einmal hieß. Meinen Studenten oder den Teilnehmern meiner Besucherschulen, etwa während der documenta in Kassel, aber auch den Betrachtern meiner Ausstellungen versuche ich vor allem eines zu vermitteln: Lernt die Regeln des menschlichen Wahrnehmungsapparats, mißtraut allen Lehren, die der Wirklichkeit irgendeine Ideologie überstülpen wollen.

Sattler. Sie lehren also die Praxis der Urteilskraft?

Brock: Ich kämpfe gegen eine Haltung, die der hegelianische Satz so ausdrückt: "Wenn die Wirklichkeit nicht mit der Theorie übereinstimmt, um so schlimmer für die Wirklichkeit." Diese kopflastige Überheblichkeit, diese Naturverachtung ist typisch für unsere Intellektuellen-, Politiker- und Künstlerszenen. Darum erscheint Deutschland heute doch so wirklichkeitsuntüchtig. Die Natur ist unsere Wirklichkeit. Sie hat uns mit Fähigkeiten ausgestattet, die für alle Menschen gleich sind. Ohne diese Erkenntnis können Kriege zwischen Kulturen oder der Haß zwischen Individuen nicht unter Kontrolle gehalten werden.

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