Vortrag / Rede „Liebe Deine Stadt“

Preisverleihung für den von Architekten Ernst Nolte errichteten Gebäudekomplex Afri-Cola-Haus Köln

Termin
31.08.2005

Veranstaltungsort
Köln, Deutschland

Veranstalter
Liebe deine Satdt e. V.

Laudatio

Das Logo für die Aktion „Liebe Deine Stadt“ erinnert an die Auszeichnung für das geniale Rennpferd, das ganz einer Musilschen Prägung nachempfunden ist: „Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein.“ So lautet die Überschrift zu Kapitel 13, in dem es heißt: „Sein Geist sollte sich als scharf und stark beweisen und hatte die Arbeit der Starken geleistet.“

Köln wird in der Aktion „Liebe Deine Stadt“ aufgefordert, das alte Selbstverständnis einer heiligen Gottesstadt in der Gegenwart zu bekräftigen. Diejenigen, die meinen, daß der Begriff der Heiligkeit im Alltagsleben heute nicht in einer angemessenen Form ausgedrückt werden kann, irren sich wohl. Die Aktion „Liebe Deine Stadt“ bedeutet eigentlich, den Versuch zu unternehmen, sich so zu beatmen, zu beseelen oder enthusiastisch aufladen zu lassen, daß der Anspruch, Mitglied einer Himmelsstadt oder einer Gottesstadt zu sein, erfüllt wird. In der modernen Terminologie der Ästhetik ist das ziemlich einfach darstellbar und das Afri-Cola-Haus, an dem ich vor 20 Jahren mit Charles Wilp in wilden Zuckungen vorbeigezogen bin, hat dafür besondere Voraussetzungen. Wenn heute so gut wie jedermann, der nach Köln kommt oder in dieser Stadt wohnt, das Bewußtsein einer radikalen Häßlichkeit der Lebensumgebung hat, dann bedarf es nur eines kleinen Schritts, um die Tradition des heiligen Kölns einzuholen. Man hat sich nur einen kleinen Gedanken zu vergegenwärtigen: wenn man etwas als häßlich bezeichnet, dann muß man denknotwendig den Gegenbegriff zu häßlich, also schön, bilden. In der realen Konfrontation mit der Welt, die immer und überall fragmentarisch, fragwürdig, unvollkommen und nur auf Widerruf vorhanden ist, wird man, wenn man diese Qualifizierung des real Gegebenen ernst nimmt, darauf verwiesen, daß man, angesichts dieser realen Häßlichkeit, dieser realen Verlogenheit, dieser realen Unrichtigkeiten, die Begriffe des Guten, Wahren und Schönen ausbilden muß.

Niemand auf der Welt hat die Möglichkeit, einen Kanon des Schönen durchzusetzen, so viele Angehörige von Akademien sich auch dessen bedienten oder so viele fundamentalistisch gesonnene Diktatoren versucht haben, einen Kanon durchzusetzen. Dies ist schlichtweg zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig besteht darin die Sensation einer Erfindung der Gottesstadt in der Realität, nämlich die Möglichkeit, ohne die letztbegründende Autorität irgendwelcher Instanzen, die das Gute, das Wahre, das Schöne dogmatisch verbindeten, dennoch fortwährend auf das Gute, das Wahre und das Schöne verwiesen zu sein. Diese geniale Konstruktion wird mit Benedict von Nursia in die Welt gesetzt und bestimmt dann die Kultur des Mittelalters. Es handelt sich um den Antifundamentalismus schlechthin, der Köln auszeichnet und den man anhand des unglaublich nüchternen Realitätssinnes der Kölner erkennen kann. Sie geben sich auch keine Mühe, irgendeine Spottgestalt euphorisch zu überhöhen. Bestenfalls leisten sie sich einen zurückhaltenden dezenten Blick auf diese Erscheinung, aber niemals eine Behuldigung oder Behübschung, also auch keine Stadtbehübschung, keine Verschönerungsaktion der Welt. Diese ungeheuer nüchternen und realistischen Kölner, die gleichsam die Kraft aufbringen, den Dreck Dreck zu nennen, die Häßlichkeit Häßlichkeit zu nennen, das Böse Böse zu nennen oder das ethisch höchst Zwiespältige wenigstens auch als solches zu akzeptieren, sind damit enthusiastische Bekenner der Orientierung auf das Gute, Schöne und Wahre. Denn sie könnten sich der Realität der Gegebenheiten überhaupt nicht aussetzen, wenn sie zur Bestimmung des Häßlichen nicht den Begriff der Schönheit hätten.

Was Köln und damit eigentlich die europäische Kultur, soweit sie christlich geprägt ist, ausmacht, ist, daß sie aus der konkreten Erfahrung der Endlichkeit, der Häßlichkeit und des Scheiterns alle Hoffnung begründet. Wer realistisch genug ist, das Häßliche häßlich zu nennen, anstatt so zu tun, als sei es ganz etwas anderes, das Kaputte kaputt zu nennen, das Blöde blöde zu nennen, der hat auch die Fähigkeit, sich in den Begriffswelten, die ihm diese Urteile erlauben, mehr oder weniger theologisch geschult, aber inzwischen auch wissenschaftlich geschult, zu Hause zu fühlen. Das Afri-Cola-Haus ist eine Simulationsanlage für eine realistische Einschätzung des Kapitalismus als Mechanismus der Begründung von Scheitern als Vollendung oder der Begründung von Hoffnung. In Köln wäre niemand so dumm gewesen zu glauben, daß die Versprechen von Coca-Cola oder Hosenherstellern oder Waschmitteln sich durch das Trinken, Anziehen oder Verblenden realisieren ließen. Jeder Kölner weiß, daß er auf diese Scheinhaftigkeit, Widerrufbarkeit und Nichtigkeit angewiesen ist, um sie in der Erfahrung des Blödsinns und der leeren Phrasen der Versprechungen ständig auf das hin zu untersuchen oder zu bedenken, was das Gegenteil dieser Nichtigkeiten ist. Aber das ist eben nur begrifflich faßbar, jedoch nie real einforderbar. Ein Kölner, dem sie die letzte Autorität in Sachen der Gutheit, der Wahrheit und der Schönheit vorsetzen würden, würde mit karnevalesken Gesten, wahrscheinlich von obszönen Sprachgesten begleitet, auf diese Anmaßung fundamentalistischer Autoritäten reagieren. Das Afri-Cola-Haus war als reine Blendfassade und als Repräsentation der europäischen Tradition der Blendwerke die Voraussetzung für die Erfahrung der abgrundtiefen Absurdität dieses Kastens als Architektur. Diese Anlage ist überhaupt keine Architektur, sondern stellt ein irgendwie baulich zu Stande gekommenes Konglomerat dar, das geflissentlich vermied, die Gesetze der Proportion, der Materialgerechtigkeit oder der Diaphanie einzuhalten. Das Afri-Cola-Haus lieferte die Substanz für die Erfahrung, daß Architektur nicht in Baustoffen, Heimat nicht in Stein und gedankliche Erinnerungsarbeit nicht in Material realisiert ist, sondern ausschließlich in den Köpfen und den Fähigkeiten der Menschen. Charles Wilp zielte tatsächlich als gut theologisch-katholisch trainierter Künstler auf die Befeuerung des Enthusiasmus für die Engel. Dies hat er ebenfalls in seinen Photos realisiert. Das hieß bei ihm, daß er eingetreten ist für eine Form der realisierten Virtualität. Wie richtig da gedacht wurde, sieht man heute, wo ein Teil nichtkölnerisch-trainierter Alltagsidioten glaubt, man könne die Realität virtualisieren. Das ist natürlich Unfug, entweder ist es Realität oder es ist virtuell. Die virtual reality kann es überhaupt nicht geben. Der umgekehrte Weg ist der theologisch geforderte, nämlich das Gedankliche, Spirituelle, Kognitive in Zeichen zu realisieren. Deswegen müssen Zeichen auch als Zeichen erkennbar sein. Sie dürfen nicht vortäuschen, die Sache zu sein. Die Verpackung darf nicht vortäuschen auf irgendeine Weise auf das bezogen sein zu können, was im Inneren der Verpackung enthalten ist. Eine Beleidigung und eine Zumutung für die Intelligenz des normalen Menschen würde es sein, anzunehmen, daß das, was auf der Verpackung abgebildet ist, in irgendeiner Weise auf die Substanz des Inhalts bezogen sei. Jeder intelligente Mensch weiß, daß es eine unaufhebbare Differenz zwischen dem Schein, der Fassade und der materiellen Substanz oder dem Wesen der Sache gibt. Gerade diese Differenz ist das, wofür man sich interessiert, auch im Hinblick auf sich selbst. Der Unterschied zwischen dem, wie man sich selbst gerne sehen würde, wofür man sich hält und wie man sich selbst empfindet und der Art und Weise, wie man von außen gesehen und wahrgenommen wird, ist doch das Spannende.

Charles Wilp war ein typischer Vertreter der Pop-Agitation oder, wie wir das nannten, der Agit-Pop-Generation. Die Agit-Pop-Generation ist nicht zu verwechseln mit dem Agit-Prop, denn der wurde durch die Generation der 20er Jahre im Hinblick auf die Arbeiterkultur in Gestalt einer agitativen Propaganda vertreten. Der Agit-Pop dagegen versuchte, die Differenz zwischen der Vorspiegelung einer Erscheinung, einem Begriff oder einem Bild und der Substantialität einer Sache sichtbar zu machen. Charles Wilps Reklamen sah man ihre Übertriebenheit und ihre affirmative Überwältigungsstrategie an, insbesondere denjenigen für Afri-Cola. Mit Hilfe der affirmativen Überwältigungsstrategie versuchte man solange etwas in den Vordergrund zu schieben, zu behübschen und zu beraunen, bis jeder merkte, daß hier das Gegenteil gemeint war. Eine berühmte Kampagne der damaligen Zeit, an der Charles Wilp teilnahm, war der Kampf gegen den Paragraph 218. Die affirmative Strategie bestand darin, nicht mehr mit Politikern zu rechnen, nicht mehr zu fragen, ob es den Paragraph 218 geben könne oder nicht, sondern zu akzeptieren, was die Gerichte jeden Tag aburteilten. Man sorgte dafür, daß 10.000 Frauen sich selbst bezichtigten, gegen den Paragraphen 218 verstoßen zu haben. Der „Stern“ hat das organisiert und damit war die justiziable Sache unmöglich gemacht, denn die Gerichte konnten schlechterdings nicht 10.000 sich selbst anzeigende Frauen verfolgen. Das Justizsystem wäre gelähmt gewesen: ein ausgezeichnetes Beispiel für affirmative Strategien! Charles Wilp hat es mit seiner Art von Werbung und Propaganda für die Waren und für die Euphorie im Kapitalismus und für den Zusammenhang von Kapitalismus und Depression verstanden, zu zeigen, daß der ehrliche Kapitalist in seiner Werbung, durch den weiten Abstand zwischen der Überwältigung der ästhetischen Mittel und der Sache, stets dafür sorgt, darauf hinzuweisen, daß es hier nicht um die Wahrheit geht. Wilp hätte niemals zu der Aussage gegriffen, daß das, was er bewirbt und zeigt, dasjenige ist, was den Leuten verkauft wird. Dagegen hat er die Intelligenz erfordernde Fähigkeit zur Differenzierung verkauft und damit die Kompetenz, zwischen dem Schein und dem Wesen zu unterscheiden. Somit hat man den Leuten die Bestätigung für die eigene Einschätzung als intelligente Menschen verkauft. Man begann damals, mit Zustimmung selbst der Unternehmer, den Betrachter der Waren so zu professionalisieren, wie an anderer Stelle der Betrachter im Museum als Kunstbetrachter durch Besucherschulen, durch Führungen, durch Lesen von intelligenten Vor- und Nachwörtern trainiert wurde. Daraus folgt, daß nur der ein Profi ist, der das, was die Wahrnehmung unter den allgemeinen Bedingungen der Täuschbarkeit ihm präsentiert, für kritikwürdig hält. An dieser Stelle wurde Werbung oder Kunst zum Ausweis der Evidenzkritik. Es kann kein besseres Kennzeichen für die Leistungen von Kunst, Bildkunst oder Werbung geben als die Anleitung zur Evidenzkritik. Das, was man sieht, aber nur so aussieht „Als-ob“, ist eben nur dadurch verständlich, daß man realisiert, warum es das nicht ist, was es zu sein scheint oder zu sein behauptet.

Alle intelligenten Formen der modernen Kunstpraxis, der Werbung, des Wissenschaftstreibens sind auf Kritik an dem, was evident ist, angelegt. Für die Wissenschaften ist heute selbst der Wahrheitsbegriff nur noch eine Frage der Evidenz. Über einen anderen Wahrheitsbegriff verfügen sie überhaupt nicht. Deswegen unternahmen die Künste die Anstrengung, die Kritik der Wahrheit zu betreiben, was zugleich eine Kritik an der kapitalistischen Wahrheit wie an der wissenschaftlichen Wahrheit war, verbunden mit der Fähigkeit, auf grundsätzliche erkenntnistheoretische, wahrnehmungstheoretische oder ästhetische Probleme hinzuweisen. Von da ab wurde die Kunst, die Werbung, die Literatur, der Journalismus oder die Wissenschaft einer Strategie der Problematisierung unterzogen, weil mittlerweile jedermann bewußt war, daß für Menschen auf Erden Probleme nur lösbar sind durch das Erzeugen von neuen Problemen. Folglich konnte man sich als Künstler, als Werber oder als Wissenschaftler nicht mehr als Experte für Problemlösungen ausgeben, sondern ausschließlich als jemand, der das, was alle anderen für evident halten, zum Problem macht, der also durch Evidenzkritik zum Sachverhalt der Gespräche, der Bedenklichkeiten, der Orientierung der Menschen aufeinander wurde. Man muß sich bloß fragen, was Menschen veranlaßt, sich aufeinander zu beziehen. In dem Augenblick, wo man weiß, daß man mit seiner Weisheit nicht sehr weit kommt, muß man sich sogleich zu anderen hinwenden. Wenn jemand sich einredet, daß die Probleme lösbar seien, muß er anerkennen, daß er mit ihnen nicht mehr fertig wird. Darauf hin muß er sich bei anderen erkundigen, wie sie denn damit fertig werden, daß sie die absolute Wahrheit, Schönheit, Gutheit oder die Strategie der Orientierung auf die expertenhafte Problemlösung nicht mehr vorgeben können. Man muß dann die anderen fragen, wie sie denn ohne diese Behauptung leben können und mit welchen Strategien des Überlebens sie eigentlich hantieren. Charles Wilp hatte mit dem Afri-Cola-Haus ganz offensichtlich eine Simulationsanlage für die Differenz von Wesen und Erscheinung eingerichtet. Wenn man versucht, einen Einblick in die tatsächliche Struktur des Hauses zu gewinnen, registriert man, daß das Wesen dieser Architektur völlig unverstellt bleibt. Darin liegt gewissermaßen der potenzierte Ausdruck von totalem Chaos, von Häßlichkeit, von Unstrukturiertheit. Eine ganz bewußte Absicht steckt dahinter, nämlich die Erfahrung der Differenz zwischen dem auszudrücken, was da sichtbar ist und dem, was dahinter als Wesen dieser Erscheinung vorgegeben wird. In den 60er, 70er und 80er Jahren wurde, angeführt von den französischen Philosophen, die Orientierung auf die Differenzbildung und das Denken in Differenzen grundlegend. Allein die Voraussetzungen in den einzelnen Gemeinschaften der Menschen waren sehr unterschiedlich, um das wirklich aufzunehmen. Gemeinschaften wie Köln, die auf die theologische Tradition orientiert sind, die sich gerade in der Abwehr, in der generösen Lächerlichkeit, der sie sich auch selbst unterzogen, im Hohn, im Spott, in der wegwerfenden Geste, in der Vermüllung und im Dreck repräsentiert fanden, wurde das Denken in den Differenzen zu einem hervorragenden Mittel, sich gegen die Angebote fundamentalistisch-dogmatischer Behauptungen von Wahrheit, Gutheit und Schönheit durchzusetzen. Hier vor Ort war klar, daß die wirkliche Architektur unseres Weltverhältnisses unsere Gedanken sind. Die sozialen Fähigkeiten, sich miteinander zu verabreden und zu binden, zählen ebenso dazu. Die soziale Bindungsfähigkeit wird dadurch begründet, daß man bei dem andern sehen will, wie er oder sie denn mit den Problemen umgeht, die alle anderen auch nicht lösen können.

Was sich daraus für die Orientierung in der Existenz ergibt, kann man in Köln beobachten, das ein ganz besonderes Klima für solche Fragen bereithält. Es ist nicht aus der Luft gegriffen zu behaupten, daß die ungeheure Position Kölns bei der Entstehung der Avantgarde, der Agit-Pop-Bewegung und der Werbung Anfang der 60er Jahre auf der Fähigkeit der Kölner beruht, gewissermaßen an der Theologie geschult, sich tatsächlich auf die Realitäten einzulassen und sich deswegen dann umso umstandsloser auf das orientieren zu können, was mit den Heeren, großen Begriffen gemeint ist. In Düsseldorf glaubt man wirklich, man hätte etwas geschaffen, wenn man an einer Straße einen Kasten aus Marmor, Gold, Glas und derartigen Frisierwerten hinstellt. In Köln wäre das völlig undenkbar, da dort niemand auf so einen Blödsinn reinfällt. Jeder Kölner würde sich naturgemäß von dieser Düsseldorfer Anbetung einer untheologischen Modernität abwenden. Der Kölner würde sogleich versuchen zu zeigen, daß etwas nur aus der Differenz zwischen Erscheinung und Wesen heraus zu sein vermag und würde dem Düsseldorfer dann erklären, was dessen bedenkliche Attitüden in Hinblick auf Erscheinung und Wesen sind. Eine der größten Lemurengestalten hier in Köln, obwohl er in Düsseldorf sein Büro hatte, war Charles Wilp. Der hat immer bekannt, daß er in Düsseldorf das Geld verdiene, jedoch in Köln bekomme er die Ideen für das, was er denen in Düsseldorf verkauft. Er hatte die Vision von Köln als Basis für die neuen Eroberungen der Welt der „kosmischen Ideen“, in bewußter Anlehnung an Kandinsky. Er hat in Köln so eine Art von Weltraumbahnhof der neuen kosmischen Ideen organisieren wollen.

Eigentlich geht es um einen Appell an die soziale Intelligenz in Köln, den neuen Begründungszusammenhang von Vergeblichkeit, Fragment, Müll, Dreck, Scheitern und der Begründung der Hoffnungaufbauer zu etablieren oder vielleicht sogar die Stadt dieser neuen Begründung zu sein. Man stelle sich einmal vor, daß der Dom mit dem Material gefüllt würde, um das man sich unabdingbar kümmern müßte, dem Müll, der nicht ist, was er zu sein scheint, dem strahlenden Müll. Den kann man weder schmecken, noch tasten, noch fühlen, noch ansehen, was er seiner chemischen Substanz nach oder in physikalischer Hinsicht darstellt. Für die Evidenzkritik des Physikers bedeutet das, daß er keine Voraussetzungen hat, je auf das Wesen der Sache zu rekurieren. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit dem Begriff „strahlend“ auf die immer währende Differenz zu verweisen. Jedermann weiß, daß von Rom und Griechenland nur Ruinen überlebt haben, daß auf der Welt überhaupt nur die Ruinen ewig sind. So gesehen, mache man sich selbst möglichst schnell zu einer Ruine, um das eigene Überleben sicherzustellen, um überhaupt eine Chance zu haben, sich selbst auf Dauer zu stellen. Denn eigentlich haben nur das fragmentierte Bruchstück und der Müll das Vermögen, zu überleben. Man hat sich die Frage zu stellen, was eigentlich die Wirkung dieses Mülls ausmacht? Das, was wir mit dem Begriff des Strahlens bezeichnen, ist das, was die Dauer ausmacht. Dauer ist aber eine Eigenschaft, die man sonst nur den Göttern zuschreibt. Wenn man von 15.000 Jahren Halbwertzeit für normal strahlenden Müll in der leichteren Version ausgeht, dann ist man darauf angewiesen, eine Perspektive kultureller Dauer ins Auge zu fassen, die bisher noch keine andere Kultur erreicht hat. Weder die Griechen, noch die Ägypter, noch die Babylonier, noch die Hethiter konnten ein solche Dauer erzielen. Höchstenfalls auf 5.700 Jahre haben es die Juden gebracht oder der Vatikan auf 1.600 Jahre. Aber der Sache nach ist dort angelegt, worum es hier geht. Der neue Gott, das heißt das, was Dauer garantiert, was die Denknotwendigkeit von Schönheit, Gutheit und Wahrheit, aus der realen Erfahrung des Scheiterns, der Beschränktheiten, der Blödsinnigkeiten und der Falschheiten begründet, ist heute nur noch durch den Müll mit Verstandesgründen und mit Vernunft zu repräsentieren. Was man in Form des Abfalls, des Drecks und des Scheiterns erlebt, ist – übertragen auf die allgemeine soziale Ebene des Mülls – die einzige Garantie für die Dauer einer Kultur. Gott und Müll oder Stadt und Scheitern oder Schönheit und Häßlichkeit im Sinne einer realen Akzeptanz des Häßlichen zur notwendigen Orientierung auf den Begriff des Schönen, das gleiche mit dem Guten, Wahren, bedeutet eine Architektur der Gedanken zu etablieren, innerhalb derer man wieder reden kann von kultureller Dauer, von Zukunftsperspektive, von Ewigkeit. Denn 15.000 Jahre Halbwertzeit ist tatsächlich eine Ewigkeit, zumal im Vergleich mit allen historischen Kulturen – und das auch noch Verstandesbegründet und nicht nur geglaubt.

Von diesem Moment ausgehend hat man die Möglichkeit, tatsächlich wieder das zu denken, was einem bisher zu denken unmöglich schien: die Wahrheit, die Schönheit, die Gutheit, die Dauer, die Zukunft, die Perspektive, selbst die Ewigkeit. Die Umkehrung des Begründens solch großartiger Konzepte aus der realen Erfahrung des Scheiterns, der Häßlichkeit, der Begrenztheit, der Lüge ist das, was mit der Agit-Pop-Tradition verbunden war. Für die Agit-Pop-Tradition hat die offensichtliche realisierte Differenz zwischen dem Schein und dem Wesen eine besondere Bedeutung. Wo immer man hinsieht, hat man die Spuren einer solchen Vermüllung zur Begründung einer Kultur der Ewigkeit und der Dauer zu begrüßen. Zugleich handelt es sich um das, was vor 1.600 Jahren in der christlichen Welt als Innovation einsetzte, denn die begann nicht mit dem Triumph der göttlichen Apotheose oder mit dem Triumph einer übermenschlichen Leistungsfähigkeit, – das war antiker Hokuspokus –, sondern sie begann mit der Kreuzigung des Gottes, mit der Vermüllung, mit der Vermanschung, mit der Verdreckung, mit der Zerschlagung, mit der Pein und mit der Qual. Die Christenheit setzte genau mit dem an, was unseren Alltag im Leben heute ausmacht. Darin besteht auch die Bedeutung des Mottos „Liebe Deine Stadt“, daß man sich in der Lage sieht, diese Voraussetzung anzunehmen und daraus sich permanent auf das Gute, Wahre und Schöne, auf die Ewigkeit, die Kultur zu orientieren. Zeichenhafte Werke wie Literatur oder Kunst sind gleichsam die institutionellen, dafür eigentlich vorgesehenen Formen der Realisierung dieses Umkehrprinzips. Deswegen haben sich die Maler vom 13. Jahrhundert an, und nach ihrer Etablierung als Profession im Zuge des Entstehens der modernen Kunst im 16. Jahrhundert, vornehmlich des Themas der christlichen Ikonographie angenommen. Da wurde thematisch vorgegeben, was sie materiell als Gestalter von Bildern, von Literatur und von Musik selber betrieben.

Es ist die nicht zu leugnende reale Erfahrung der Häßlichkeit, der Begrenztheit, der Beschränktheit, der Verblödung, – vor allem die Proletarisierung der Spitzen der Eliten ist in Köln besonders weit fortgeschritten –, die das Sprechen über die Ewigkeit, das Sprechen über die Schönheit, das Sprechen über die Gutheit, mit rationalen und logischen Argumenten ermöglichen kann. Es handelt sich hierbei um keine Glaubensfrage. Müll ist der Gott, der wirklich Dauer stiftet. Daran braucht man nicht zu glauben. Da hält man einen Geigerzähler hin und weiß Bescheid. Scheitern ist die definitive Orientierung auf das Gelingen, gerade in dem Maße, wie sie selber unabweislich wird, denn man kann es nicht mehr leugnen. Genau daraus begründet sich die wirkliche rationale Hoffnung auf die Tatsache, daß man gemeinsam die Kraft aufbringt, dieser Realität stand zu halten. Damit ist es auch wieder möglich, sich auf den Himmel der Ideen, auf die kulturelle Wertigkeit, auf die Ewigkeit und die Dauer einzulassen. Darauf beruht die Mission des Afri-Cola-Hauses und darum verdient es wirklich eine Auszeichnung. Ich wünschte mir, daß ein jeder dieses Logo „Liebe Deine Stadt“ an seiner Haustüre anbrächte, um damit auf die realistische Erfahrung des Scheiterns, der Häßlichkeit und der Lügen aufmerksam zu machen. Man darf dann klingeln und fragen, inwiefern sich der Hausbewohner auf das Gute, Wahre und Schöne orientiere. Man käme darauf hin in ein Gespräch über das Gute, Wahre und Schöne, über die Ewigkeit, über Gott und die Kultur, denn man hat offensichtlich bekundet, daß man diesbezüglich eine rationale Begründung liefern könne. Mit dem Logo „Liebe Deine Stadt“ hat man auf die Realität des Scheiterns, der Häßlichkeit, der Blödigkeit, der Falschheit, der Lügen des Oberbürgermeisters verwiesen und zugleich signalisiert, daß man an einer Architektur seelischer Verbundenheiten und herzlicher Begründungen der Verhältnisse interessiert sei. Man muß sich nur einmal vorstellen, was los wäre, wenn nun ab morgen alle in Köln anfangen würden, in den Hotels, Bars, Lobbies, Cafés und Restaurants über die Großartigkeit der Ewigkeitskonzepte und über Gott und vor allem über die Verläßlichkeit der Dauer zu sprechen. Man würde sich ausschließlich auf die Wahrheit, die Schönheit, die Gutheit konzentrieren und alles andere für unerheblich erklären. Das Geschwätz über den Sex endete, stattdessen würde über die Liebe und über die göttliche Kraft, die sich daran manifestiert, gesprochen.
Der Afri-Cola-Bau ist gewissermaßen die Kathedrale, in der der Müll diese Art von Begründung für den Kapitalismus zur Sprache bringt. Hier ist deutlich demonstriert, daß alle kapitalistische Propaganda, aller Triumph der Wirtschaft, alle Beschaffung von Arbeitsplätzen und alles Glück der Menschen auf Erden Schwindel sei, was sowieso jeder täglich erfährt. Wieso empört man sich über den Schwindel der Lügnereien im Wahlkampf? Man muß schon ziemlich unterbemittelt sein, wenn man sich darüber noch beschwert, wo es doch ohnehin für jedermann evident ist. Stattdessen gilt es, auf die dankbare Idee zu kommen, daß jeder dieser politischen Gauner und Lügner zu einem Kompagnon in der Orientierung auf das Gegenteil zu machen ist. Im übrigen hat sich die pädagogische Erziehungsgesellschaft über jede Lüge zu freuen. Die Eltern sollten den Kindern nicht verbieten zu lügen, sondern sie sollten sich freuen, wenn ihr Nachwuchs gekonnt lügt. Denn dann können sie ihre Kinder für intelligent befinden und beobachten, daß sie ihr Gehirn vollkommen beherrschen und es nutzen können. Am bravourös lügenden Kind kann man sehen, daß es die Differenz zwischen Wahrheit und Falschheit erkannt hat und daß es in der Lüge dennoch auf die Wahrheit bezogen ist, und das obwohl weder die Eltern noch das Kind die Wahrheit kennen. Genau dies ist die Grundlage für das, was das Humanum eigentlich ausmacht. Indem man einander zu verstehen gibt, daß man zwar keine Ahnung habe und nichts wirklich könne oder beherrsche und auch nichts besitzte, nimmt man an der realen Erfahrung teil, die eine Begründung für das Humanum enthält. Deswegen orientiert man sich auf das Können, das Vermögen, das Haben und den Glanz der Welt, aber eben unter dem Aspekt einer bloßen Denknotwendigkeit, niemals aber in dem Versuch, dies in goldenen Kleidern, Schuhen, Goldstücken oder Bauten realisiert zu sehen, sondern ausschließlich als gedankliches Konzept. Die Leute trafen sich ungefähr um 350 n. Chr. im römischen Imperium und damit auch in Köln und befragten die christlichen Mönche, was sie denn eigentlich zu bieten hätten. Sie waren über das Angebot erstaunt, das aus einem verkrüppelten Heiland bestand, von dem sie gehört hatten, daß dessen Macht darin bestünde, daß er keine habe. Die Leute fragten sich zu recht, was denn das ganze Spektakel solle. Dann kamen die kleinen Mönche, – intellektuellen Wanderprediger wie wir heute – und verkündeten den Menschen die Erklärung, wie man dazu im Stande sein kann, mit rationalen Gründen die Hoffnung auf die Ewigkeit und auf das Reich Gottes begründen könne. Die Mönche machten verständlich, wie man in der Erfahrung eben dieser Fähigkeit zur Orientierung auf die Realität ein heiliges Köln erleben würde. Damals bestand die Realität des Lebens aus Kreuzigung, Vermanschung und Folter. Erst als das akzeptiert war und nicht mehr geleugnet wurde, hatten die Menschen überhaupt eine Chance, sich auf das Denknotwendige zu beziehen. Das Denknotwendige zu erkennen, war die Bedingung und zugleich der Beginn des Baus des heiligen Kölns, das heute noch durch die romanischen Kathedralen repräsentiert wird. Die romanische Kathedrale heißt immer, an der Differenz zwischen Himmel und Hölle, an dem Unterschied zwischen der peinhaften Erfahrung von ideologischer Überblendung, von eitler Hoffnung und von ausgemalten Paradiesen und umgekehrt, an der realistischen Fähigkeit zur Anerkennung des Scheiterns und des Elends zu bauen. Deshalb ergab sich daraus der Gedanke der Kunst, denn die Kunst erfüllt genau diese Differenz. Auf der einen Seite steht das Reich des Schönen und des ästhetischen Scheins, der aber nicht vorspiegelt zu sein, was er ist, sondern der auf der anderen Seite durch Evidenzkritik demonstriert, daß er gerade nicht ist, was er zu sein vorgibt.

Diese Erfahrung sollte heute nachvollzogen werden. Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß sie die Chance haben, in einer heiligen Sozietät, in der Colonia, d. h. in der Kolonie Gottes zu leben und damit innerhalb der Bedingungen und der Erfahrung des Scheiterns. Sobald man das produktiv macht, ist man als Künstler ein Profi. Denn Künstler sind nichts anderes als Leute, die ihr Scheitern, ihre Blödigkeit, ihre Dummheit professionell nutzen können. Ein Künstler ist ein Mann, der seine Beschränktheit managt und daraus etwas produktiv hervorgehen läßt. Der Künstler besitzt die Fähigkeit, seine Angst, seine Blödigkeit und seine Versagenserfahrung zum Thema zu machen, so daß alle anderen ihre Erfahrungen daran abarbeiten können. In diesem Sinne steht man dann in der Nachfolge Christi, d. h. in der imitatio Christi, indem man das Wissen mobilisiert, daß dem Begründungszusammenhang Dürers entstammt, also zu wissen, daß Dürer den Künstler aus dieser Imitationsfähigkeit abgeleitet hat. Auch derjenige, der heutzutage meint, er müßte Dürer im Sinne des Künstlers nachfolgen, ist dann über Dürer an die imitatio Christi angeschlossen. Er ist folglich in dem Gegenprogramm zum Fundamentalismus und zu der religiösen Wiederkehr der Wahrheitsbehauptungen aus Testamenten und Offenbarungsschriften aufgehoben. Dessen bedürfen wir in besonderer Weise, sonst werden uns die Behauptungen dieser fundamentalistischen Wahrheiten bald den Garaus machen.

Laudatio „Liebe Deine Stadt“

Laudatio „Liebe Deine Stadt“

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