Das Erklären und Führen von Kriegen ist seit der Staatstheorie von Jean Bodin das unveräußerliche Souveränitätsrecht jeder Gesellschaft und ihrer staatlichen Repräsentanz. Verallgemeinernd heißt das: Kulturen eichen das Verhalten ihrer Mitglieder an deren Bereitschaft und Fähigkeit, als Soldat oder Hilfsdienstleistender der entscheidenden Durchsetzung von Souveränität in der Führung von Kriegen zur Verfügung zu stehen - daraus leitete sich noch die Einführung der Wehrpflicht in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ab.
Schon im 16. Jahrhundert gab es Versuche, andere Strategien der Durchsetzung von Souveränität als die Kriegsführung und die Drohung mit dem existenziellen Ernstfall für jedes Individuum zu bevorzugen. Die Habsburger in Österreich proklamierten "Bella gerant alii, tu felix Austria, nube - Andere mögen ihre Streitigkeiten durch das Führen von Kriegen ausfechten, wir Österreicher erledigen das durch Heiratspolitik".
Man wollte die Risiken, die mit der Durchsetzung der Ernstfalleichung für die eigene Bevölkerung verbunden sind, umgehen und dennoch zum Erfolg kommen.
Wenn sich, des Risikos wegen, die Eichung der Behauptungsfähigkeit einer Kultur am existenziellen und kriegerischen Ernstfall verbietet - wie läßt sich dann die unumgängliche Eichung am zu vermeidenden, am verbotenen Ernstfall der auslöschenden Vernichtung von Individuen und Gemeinschaft entwickeln?
Dafür gab der amerikanische Präsident Wilson mit seiner Begründung für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg ein erstes entscheidendes Beispiel: Wilson, der sich während seines Studiums intensiv mit Kants Schriften beschäftigt hatte, deklarierte: eine moderne Demokratie, wie die USA sie repräsentieren, führt nur noch Krieg zur Beendigung des Weltkriegs, ja zur Beendigung aller Kriege.
Dieses Vorgehen der USA, gerade durch Führen eines Krieges die Beendigung eines Krieges zu erreichen, wurde auch ausdrücklich verwendet, um die kriegerische Intervention der NATO im Kosovo zu legitimieren. Die Herren Fischer, Scharping und Co. gaben immer wieder zu Protokoll, daß die NATO kriegerisch interveniere, um den Krieg zwischen Serben und Albanern zu beenden. Fischer und Co. versicherten, daß selbstverständlich die in der NATO zusammengeschlossenen Staaten verpflichtet seien, die von ihnen angerichteten Schäden postwendend zu beheben. An jeder Rakete oder Bombe, die in der Bundesrepublik Jugoslawien abgeworfen wurde, klebte gleichsam ein Versicherungszertifikat: "Sorry, aber wir bauen, was wir zerstören mußten, gleich hinterher neuer und damit schöner auf, als es zuvor gewesen ist." Die militärische Operation war also offenbar nicht auf den Ernstfall der Zerstörung, die Vernichtung von Leben der Gegner ausgerichtet, sondern genau auf das Verbot von Verlusten an Personen und Sachen, und wo sie unumgänglich waren, verpflichtete man sich, die Schäden zu beheben.
Zum ersten Mal wurde den Bürgern der NATO-Staaten unumstößlich klar, daß es beim Krieg als Eichung am verbotenen Ernstfall nicht nur auf die Vermeidung der Tötung von eigenen und gegnerischen Soldaten und Zivilisten ankommt, sondern auch auf die Wiederherstellung des Status ante quo. Angemerkt sei, daß auch in der kriegerischen Eichung am verbotenen Ernstfall erhebliche Risiken stecken; so könnte ja irgendein "böses Regime" einer maroden Gesellschaft auf den Gedanken kommen, einen Krieg zu provozieren, um sich anschließend von den Gegnern eine leistungsfähige Infrastruktur aufbauen zu lassen. Und diese Regimes hätten damit nicht einmal nach innen Legitimationsschwierigkeiten, soweit sie die vormoderne Eichung ihres kulturellen Zusammenhangs selbstverständlich immer noch am existenziellen Ernstfall ausrichten. Zu einem guten Teil sind heutige Fluchtbewegungen aus solchen zumeist sakralrechtlich verfaßten Gesellschaften durch das bewußte Kalkül provoziert, die modernen Demokratien im Westen müßten ihnen nach deren Selbstverständnis die Sorge für vertriebene Minoritäten abnehmen.