Buch Die Zweite Moderne

Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart

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Am Ende des 20. Jahrhunderts weisen Tendenzen in den Künsten und der Architektur auf eine "Zweite Moderne" hin, wobei Videofilm und Video-Installation eine besondere Rolle spielen. Kontrovers diskutieren namhafte Vertreter der Kunstszene und renommierte Wissenschaftler, Philosophen und Publizisten wie E. Beauchamp, H. Belting, P. Iden, W. Rihm oder P. Sloterdijk die Stellung der Kunst der Gegenwart.

Erschienen
01.01.1996

Autor
Klotz, Heinrich

Verlag
Beck

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3-406-40742-0

Umfang
190 S.

Einband
broschiert

Modernität und digitale Revolution

Medienkunst präsentiert sich in aller Regel als Behauptung des Neuen und Aufhebung der Tradition. Zugleich versteht sie sich als technische Ermöglichung zentraler Utopien der Avantgarde. Deren soziale Programmatik soll als technisch generierte Interaktivität die Passivität des Rezipienten wie den Herrschaftsgestus des Produzenten überwinden. Wie auch immer wir diesen Begriff Medienkunst fassen – als Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit oder in Anlehnung an den aktuellen Sprachgebrauch als digitale Ästhetik -, so definiert sich Medienkunst - ob in kritischer Überbietung oder als Verwirklichung im technischen Vollzug – jedenfalls als Fortführung und Überbietung der Avantgarde.
Das gilt insbesondere für ihre Ästhetik der Zeit, mit der eine entscheidende Differenz zu den vermeintlich statischen Medien der Vergangenheit, in der Regel sogar ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel behauptet wird. Eine spezifische Auffassung der Zeit ist aber nicht allein ein Problem neuartiger technischer Möglichkeiten der Medien, sondern impliziert immer auch eine bestimmte Auffassung der Historie, ist also notwendig eine Aussage über Geschichtlichkeit. Das mangelnde Bewusstsein dieser Ambivalenz ist allerdings das Defizit der Medientheorie und -kunst.

Medientheoretiker behaupten: Geschichte sei in der universellen Dynamik (Virilio) aufgehoben, und Medienkunst würde eben die Kunstgeschichte aufheben. Wenn nun auch diese Chronokratie (Weibel) als unmittelbarer Effekt der Technikgeschichte verstanden wird, übernimmt man damit ein Geschichtsmodell bzw. ein System der Unterscheidungen von Altem und Neuen, das im folgenden zur Disposition steht. Unsere These ist, dass jeder sinnvolle Umgang gerade mit jenen neuen Techniken genau die Einsicht in das Gegenteil, die Notwendigkeit zur permanenten Neuaneignung der Geschichte erzwingt.

D. h. die Strukturen der digitalen Informationstechnologie verändern das Bild des geschichtlichen und damit kunstgeschichtlichen Prozesses selbst. Bevor also konkret nach neuen Handlungsoptionen des Künstlers als Resultat der ‚digitalen Revolution‘ gefragt werden kann, - also beispielsweise inwieweit die interaktive Entgrenzung von Kunst und Leben den technischen Vollzug einer zentralen Utopie der Moderne ermöglicht -, gilt es zunächst, einige wesentliche Unterscheidungen hinsichtlich des hier vorherrschenden Zeit- und Geschichtsmodells vorzunehmen.

Solche Differenzierung lässt sich aber in einer zentralen Frage bündeln: Was heißt es angesichts der ‚digitalen Revolution’, modern zu sein, bzw. warum und wie können wir heute modern, also wortwörtlich zeitgemäß sein, d. h. eine Zweite Moderne entwickeln?

Wenn wir die Zweite Moderne vornehmlich mit Blick auf veränderte Kommunikationstechnologien, also mit Blick auf bisher unbekannte Formierungen von Öffentlichkeit und Publikum betrachten, ergibt sich: Die Rezipienten bedienen sich mehr und mehr eben jener Bild- und Textgebung, die auch die Künstler und Wissenschaftler nutzen. Deswegen bleiben für das Publikum die Kriterien der Unterscheidung nicht mehr äußere Krücken des Verstehens. Wer etwas anspruchsvoller über einen leistungsfähigen Computer kommuniziert, muss sich auf die Logiken der Bild- und Textproduktion einlassen: ein entscheidender Schritt in der Professionalisierung des Publikums. Wer als zeitgenössischer Künstler diese modernsten Medien anwendet und darin wahrgenommen werden will, muss sich in höherem Maße disziplinieren als jemand, der durch die schiere Demonstration von Materialmächtigkeit Räume besetzt. Sobald sich Kritik und Geschichtsschreibung darüber klar zu werden haben, welche Leistungen die neuen Medien auf welchem Wege erzeugen, wird ihr Verständnis für die spezifischen Leistungen der vermeintlich traditionellen Künste erheblich geschärft. Ihnen wird klar werden, dass Modernität nicht als mutwillige Absetzbewegung von Traditionen bewertet werden sollte, sondern einen anderen Zugang zu dem vermeintlich Altvertrauten erschließt.

Seit Hans Robert Jauß, Hans Ulrich Gumbrecht, Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck ihre Rekonstruktionen der Geschichte des Begriffs ‚modern‘ vorlegten, ist unbestreitbar, dass der Begriff ‚Moderne‘ nicht mehr als Epochenkennzeichnung sinnvoll verwendet werden kann. Vielmehr bezeichnet Moderne respektive Modernität die Differenzierung von Zeiterfahrung. Insofern hätte sich die Projektbeschreibung einer Zweiten Moderne auf die Kategorie der Modernität zu konzentrieren (Hans Belting), denn diese ist historisch durchgängig in Gebrauch. Wenn Modernität als Zeiterfahrung allen Menschen mit historischem Bewusstsein zukommt, haben wir viele sogenannte kulturelle Errungenschaften anders einzustufen. Sie verdanken sich zu einem viel höheren Anteil als bisher angenommen dem evolutionär hervorgebrachten Weltbildapparat des Menschen; dessen Operationsweisen besser kennen zu lernen, bemühen sich die Neurowissenschaften. Die Bedingtheit unserer Wahrnehmung und Bewusstseinsbildung sowie die Kommunikation der autonomen neuronalen Systeme über alle Formen der Sprache, auch für die Bewertung von künstlerischen und wissenschaftlichen Produktionen in Rechnung zu stellen, heißt bis auf weiteres, der Hominisierung des Menschen (Heiner Mühlmann) größere Aufmerksamkeit als der kulturellen Humanisierung zu widmen.