Buch Bilder in Bewegung

Traditionen digitaler Ästhetik

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Erschienen
1999

Herausgeber
Hemken, Kai-Uwe

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3770152395

Umfang
240 Seiten

Einband
Broschiert

2 b) Ästhetik

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts - seit Baumgarten und Meyer - bezeichnet man dezidierterweise den Selbst- und Fremdbezug von Menschen auf drei seit der Antike in Einheit gesehenen Ebenen: der ästhetischen, der ethischen und der epistemologischen.

Die ästhetische Ebene des Selbstbezugs manifestiert sich in der notwendigen Differenz zwischen zentralnervlicher Prozessierung und dem Organismus, den sie steuert und durch den sie zugleich kontrolliert wird. Pointiert: Ein Gehirn ohne körperliches Trägersubstrat ist nicht funktionsfähig; ein Organismus höherer Entwicklungsstufe ohne Steuerung ebensowenig.

Die ästhetische Ebene im Fremdbezug des Individuums besteht in der unaufhebbaren Differenz zwischen Individuum und Umwelt, zu der auch andere Individuen seiner Art gehören. Diese Umwelt muß wahrgenommen, die Wahrnehmungen müssen zu Bewußtsein verarbeitet und das Bewußtsein muß zur Aktivierung aller anderen intrapsychischen Prozesse genutzt werden. Diese intrapsychischen Leistungen sind in der Umwelt des Individuums zu repräsentieren, damit sie auf ihre Realitätstauglichkeit hin beurteilt werden können. Solche Repräsentationen intrapsychischer Prozesse in der Umwelt der Individuen werden als »Sprachen« verstanden, wobei die Repräsentationen visuell oder auditiv wahrnehmbar sein müssen für andere, insbesondere für Individuen der gleichen Art. Die Verbindung von intrapsychischen Prozessen (verkürzt Bewußtsein genannt) mit den Lebensäußerungen und Lebensformen anderer Individuen (verkürzt Kommunikation genannt) wird durch sprachliche Repräsentation ermöglicht (verkürzt als Zeichengebung aller medialen Ausprägungen verstanden).
Die ästhetische Ebene des Selbst- und Fremdbezugs der Individuen wird also durch das Verhältnis von intrapsychischem Prozedieren und dessen Repräsentation in Zeichen bestimmt. Die Fähigkeit zur Zeichengebung ist mit dem Ausdruck von Lebendigkeit eines Organismus synonym. Sie ist naturevolutionär entstanden. Ihre Spezifik liegt in der spezifischen Unterschiedenheit von Individuen verschiedener Arten wie in der Spezifik individueller Entfaltung dieser naturevolutionär entstandenen Basis organismischen Lebens.

Baumgarten entdeckte - und die Biologen der Erkenntnis heutigen Tags bestätigen es -, daß die natürlichen Befähigungen zur Wahrnehmung und Bildung von Bewußtsein bereits Kategorienschemata unterliegen, die das intrapsychische Prozedieren in einem sehr hohen Maße autonom bestimmen. Wie weit diese Autonomie reicht, wurde zuerst am Phänomen der optischen Täuschung erwiesen; aber die Philosophen bemühten sich generell seit vorsokratischen Zeiten, die Täuschbarkeit des Prozedierens von Kognitionen (etwa als Begriffsbildung durch naive Substantivierung von Eigenschafts- und Tätigkeitswörtern) aufzudecken. Baumgarten beschrieb, daß bereits bloße Wahrnehmung Erkenntnisleistungen, wenn auch minore, ermöglicht.

Kant und Nachfolger versuchten, die Schemata von Kategorien unmittelbarer Anschauung und vermittelter Begriffsbildung zu enträtseln. Generell gelang das erst, als man nicht mehr philosophisch-abstrakt, sondern in der empirisch-experimentellen Überprüfung der Theoreme von Künstlern, Psychologen, Evolutionsbiologen und Neurophysiologen zeigen konnte, daß Synthesis, also der Selbst- und Fremdbezug von Lebewesen, bereits durch deren Evolution ermöglicht wird und nicht das Resultat von theologischen oder philosophischen Begriffskonstrukten ist.

So verschob sich das Interesse an der Kantschen Fragestellung, wie Synthesis überhaupt möglich sei, zur Frage, wie bei gegebener Synthesis Optimierungen des Selbst- und Fremdbezugs von Individuen im Lernen, in Entwicklung immer spezifischerer Anpassung gewährleistet sind.

Einen Aspekt der Antworten heben wir hervor, soweit er die ästhetische Ebene des Selbst- und Fremdbezugs kenntlich macht. Obwohl alle autonom in sich geschlossenen Bewußtseinssysteme nach gleichen naturevolutionären Bedingungen operieren, gewährleisten sie ihre Plastizität weitgehend durch das Verhältnis von intrapsychischem Prozedieren und sprachlicher Vergegenständlichung dieser Prozesse. Beispiel: Man kann ein Gefühl, einen Willen, eine Vorstellung, einen Gedanken (mit Ausnahme willkürlicher Definition mathematischer Eindeutigkeit) niemals in vollem Umfang in Zeichengefügen repräsentieren, und man kann dieselben zerebralen Leistungen in sehr unterschiedlichen Zeichengefügen repräsentieren. In der Wahrnehmung und weiteren Verarbeitung dieser Zeichengebungen durch die Kommunikation der anderen Individuen führt diese ästhetische Differenz oder Nichtidentität unabdingbar zu eigenständigen Inkorporationen der repräsentierten fremdpsychischen Prozesse. Trotz aller kategorialen Vorprägung von Wahrnehmung und Bewußtseinsbildungen der Individuen einer Art entsteht durch die notwendige Verkörperung sprachlicher Repräsentation ein Überschuß an Aktivierungspotentialen, die nur einhergehend mit riskanter Einschränkung der Wahrnehmung oder Verlust von Plastizität durch dogmatische Stillstellung neutralisiert werden können.

In gewissem Umfang sorgt auch das limbische Regulativ für die Aufrechterhaltung des semantischen Überschusses, indem es die Individuen zwingt, nicht über Gebühr auf die Wahrnehmung luststeigernder Zeichenangebote fixiert zu bleiben oder unlustverursachende nicht fahrlässig auf längere Zeit auszublenden.

In der Ästhetik hat sich für die Kennzeichnung des semantischen Überschusses der Begriff »Tücke des Objekts« bzw. Tücke der Ambivalenz und Ambiguität von Zeichengefügen aller Medialitäten eingebürgert. Theodor Vischer hat Mitte des 19. Jahrhunderts seine Studien auch im künstlerischen Selbstexperiment auf die ästhetische Tücke des Verhältnisses von Bewußtseinssystem und Kommunikation hin ausgerichtet. In seinem Roman »Auch Einer« führt er auf die Schlußfolgerung hin, die mir heute die produktivste Bestimmung der ästhetischen Differenz zu sein scheint: nämlich die von Luhmann herausgearbeitete strikte Eigenständigkeit von Bewußtseinssystemen und Kommunikation. Allerdings unterscheidet sich Luhmanns Ansatz von dem Vischers und aller in seiner Nachfolge praktizierenden Künstler immer noch deutlich, denn die Konsequenz aus der Autonomie von Bewußtseinssystemen und Kommunikation und ihrer Kopplung in jedweden vergegenständlichten Zeichengefügen (Sprachen) läge darin, den Begriff des Verstehens völlig aufzugeben oder ihn aber völlig neu zu definieren.

Kommunikation wäre als evolutionäre Erfindung überflüssig, wenn in irgendeiner Weise die Adäquation von intrapsychischem Prozedieren zu sprachlicher Entäußerung über Verstehen garantiert werden könnte - selbst wenn man nicht die bekannten Formen der Adäquationen als Wahrheit behaupten würde (diesem Problem begegnet man bei der Kennzeichnung der epistemologischen Ebene von sprachlicher Kopplung zwischen Bewußtsein und Kommunikation).

Das Verstehen käme immer schon zu spät. Es ist nur epimetheisch post festum brauchbar, um zu lernen, was in der Kommunikation schief gelaufen ist, sich also als ein unproduktives Mißverstehen herausgestellt hat.

Darüber hinaus resultiert aus der zerebralen Funktionslogik die Möglichkeit, jede ästhetische Differenz und damit das semantische Überschußpotential willkürlich zu erweitern: im kommunikationsstrategisch sinnvollen Lügen, also einer mutwillig abweichenden Repräsentation vom intrapsychischen Prozedieren (dieser Sachverhalt kennzeichnet die ethische Dimension des Selbst- und Fremdbezugs). Pointiert:
Wir müssen kommunizieren, weil wir uns und unsere Welt prinzipiell nicht verstehen können.