Beitrag zur Kolumne ‚Die siebziger Jahre‘ aus M, Januar 1970. Die Aktionen des ‚Komitées zur Abschaffung des Todes‘ fanden statt 1970 im Hamburger Kunsthaus im Rahmen der Ausstellung ‚Künstler machen Pläne, andere auch‘ und 1970 im Rahmen des ‚Fluxus-Festivals‘, Köln.
Im Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit."
Das klingt schön und feierlich - ist aber nicht das Papier wert, auf dem der Satz gedruckt ist.
Allerdings scheint auch niemand darauf erpicht zu sein, daß ein solcher Satz ernst genommen würde. Denn im Vergleich zu dem, was heute bereits 'Recht auf Leben' heißen könnte, sind unsere Kliniken nichts weiter als Anstalten legaler Tötung.
Das einzusehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen, hindert uns die immer noch starke Ideologie des medizinischen Fortschritts.
Die Ideologie des medizinischen Fortschritts sagt, daß alles getan wird, um den Patienten zu helfen. Das mag für die einzelnen Ärzte subjektiv auch zutreffen: Sie gehorchen dem abgelegten Eid, ihr ganzes Wissen in den Dienst der Heilung des Patienten zu stellen.
Allerdings haben diese Ärzte keinen Eid abgelegt, der sie verpflichtet, dafür zu sorgen, daß sie genügend wissen. Dieses Wissen bereitzustellen, kann nicht Sache Einzelner sein. Die gesamte Gesellschaft muß ihre Arbeitskraft dafür einsetzen.
Die Ärzte wissen das. Dennoch hat man bisher selten gehört, daß Ärzte gegen eine Gesellschaft protestieren, die es einzelnen genialen oder schöpferischen Wissenschaftlern überläßt, ihre Probleme zu lösen. Die Lösungen dieser noch so Genialen können nur zufällig sein und sie kosten unendlich viel Zeit. Ein Verdacht ist auszusprechen: es kommt dieser Gesellschaft gar nicht darauf an, den Tod zurückzudrängen.
"Das kriegerische Morden muß aufhören", postulieren die Sonntagsredner, und ihre Zuhörer applaudieren eifrig. Dieselben Zuhörer nehmen es aber hin, daß das Töten täglich weitergeht in den Krankenhäusern.
Es dürfte wohl klar sein, daß ein krebskranker fünfzigjähriger Buchhalter so wenig bereit ist zu sterben wie ein achtzehnjähriger Soldat.
Man sagt, der Soldat sterbe unnütz, Kriege müßten nicht sein. Der fünfzigjährige Buchhalter stirbt demnach nicht unnütz, er stirbt, weil er sterben muß. Er stirbt aber genauso an den Folgen gesellschaftlicher Gewalt wie der Soldat. Denn die Gesellschaft weigert sich, seinen Tod abzuschaffen.
Gerade unter den Ärzten wütet die Ideologie, die besagt, daß wir ja alle sterben müssen, und daß man deshalb nicht viel Aufhebens machen sollte um solche Fälle.
Das ist eine Täuschung, denn bisher sterben fast alle Menschen als solche Fälle. Der Hamburger Internist Professor Arthur JORES hat festgestellt, daß kaum ein Mensch stirbt, weil seine natürlichen Kräfte aufgezehrt sind. JORES sagt klipp und klar: "Wir sterben, weil wir krank sind, weil unsere Lebensprozesse gestört sind."
Also sterben wir alle eines unnatürlichen Todes, genauso wie die Soldaten. Wir werden umgebracht im Namen einer Ideologie.
Der Soziologe Werner FUCHS stellt in seinem Buch 'Todesbilder in der modernen Gesellschaft' fest, daß die Anrufung des ewigen und unüberwindlichen Todes nur von der Ewigkeit bestehender sozialer Verhältnisse überzeugen soll.
Der Hinweis auf die Naturnotwendigkeit des Sterbens begünstigt die Fortdauer des gewaltsamen Todes. Der Verdacht, daß sich in unseren Krankenhäusern fortsetzt, was wir auf den Schlachtfeldern zu verhindern suchen, nämlich die Tötung von Menschen durch die Gesellschaft, darf als begründet angesehen werden.
Denn diese Gesellschaft hätte schon die Möglichkeit, den Tod abzuschaffen, und das heißt, Menschen erst dann sterben zu lassen, wenn ihre Lebenskräfte tatsächlich erschöpft sind.
"Reg Dich nicht auf, Mensch, ich weiß gar nicht, was Du willst", ranzte mich neulich ein Student an, "Dein Schwanz ist doch schon unsterblich. Lege den Samen auf Eis, dann ist das Problem gelöst."
Nun, damit ist das Problem noch lange nicht gelöst. Es wäre nur der jetzige Zustand für alle Zeiten gesichert.
Die Geschichte der Gesellschaft ist die Geschichte der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur. Immer weiter wird die Einflußnahme der Natur auf das Leben der Menschen zurückgedrängt. Die sogenannten Naturgesetze werden durch die Arbeit der Gesellschaft aufgehoben. Das heißt, daß diese Gesetze zwar weiter bestehen, daß aber die Gesellschaft Mittel gefunden hat, sich gegen diese Naturgesetze zu behaupten.
Wenn sich ein Rehbock einen Lauf bricht, dann läßt ihn ein freiwaltendes Naturgesetz krepieren. Wenn wir einen Arm gebrochen haben, gehen wir zu einem Doktor, der durch sein Wissen das Walten des Naturgesetzes verhindert: Er heilt den Arm.
Alle gesellschaftliche Arbeit besteht in einer solchen Aufhebung der Naturgesetze.
Und alle Naturgesetze sind von der gleichen Art. Deshalb kann es als sicher gelten, daß es kein Naturgesetz gibt, das nicht durch die Arbeit der Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden kann. Naturgesetze bestimmen unseren Tod, den unnatürlichen, den gewaltsamen.
Weil es nur davon abhängt, ob wir durch gemeinsame Anstrengung diese Gesetze außer Kraft setzen wollen, und wir dazu nicht willens sind, kann man mit Recht behaupten, daß die Gesellschaft uns umbringt.
Die Gesellschaft aber sind wir selber. Es bleibt unverständlich, warum wir nicht die politischen Entscheidungsinstanzen zwingen, die wirklichen Probleme anzupacken.
Daß so etwas möglich ist, beweist die Weltraumforschung. 1961 forderte Präsident KENNEDY die amerikanische Gesellschaft auf, daran zu arbeiten, daß noch vor 1970 der erste Amerikaner auf dem Mond landen könne. Damals kannte man weder die Materialien, die den Belastungen solcher Weltraumreisen gewachsen sein würden, noch hatte man das technische Wissen dafür. Alles mußte erst erarbeitet werden, weil die Politiker entschieden hatten, daß die gesellschaftliche Arbeitskraft für dieses Ziel eingesetzt werden sollte.
Warum entscheiden wir nicht, unsere gesellschaftliche Arbeitskraft für die Abschaffung des Todes einzusetzen? Es ist mit den wissenschaftlichen Methoden der Systemtheorie vorherzusagen (und zwar auf den Tag genau), wann wir zum Beispiel das Problem Krebs lösen könnten. Unter dem Einsatz aller dafür notwendigen Mittel ist das Problem des Krebes in achtzehn Monaten zu lösen. Das gleiche gilt für andere Krankheiten.
Langsam scheinen sich hier und da solche Gedanken durchzusetzen. Es gibt zum Beispiel die 'Gesellschaft zur Erforschung der Zukunft e.V.' in Itzehoe bei Hamburg, die die Abschaffung des Todes zu ihrem Programm gemacht hat. Leider zwingen die strengen Standesvorschriften der Mediziner und Rechtsanwälte solche Wissenschaftler, sich im Verborgenen zu halten. Die Angst vor der organisierten Macht ihrer reaktionären Kollegen ist zu groß.
Innerhalb der 'Gesellschaft zur Erforschung der Zukunft' gibt es ein 'Komitee zur Abschaffung des Todes'. Es sieht im Augenblick seine Aufgabe darin, die Bevölkerung auf die Barrikaden zu bringen. Es möchte den Aufstand von Millionen Patienten anbahnen, die von der Gesellschaft einfach zum Tode verurteilt werden. Da alle Patienten solche Todeskandidaten sind, glaubt das Komitee fest daran, daß es zu diesem Aufstand kommen wird.