Vortrag / Rede Medialität der Geschichte - Historizität der Medien

Tagung im Kulturzentrum Konstanz

Termin
07.11.2002

Veranstaltungsort
Konstanz, Deutschland

Die Geschichte des Nichtgeschehenen

Eröffnungsvortrag zur Tagung Medialität der Geschichte – Historizität der Medien am 07.11.2002 im Kulturzentrum Konstanz

Die Geschichtswissenschaft, und um die scheint es bei dieser Tagung ja im weitesten Sinne zu gehen, ist in geradezu obsessiver Weise heimgesucht vom Gespenst des Ereignisses und damit des Geschehenen. Wenngleich jeder Psychoanalytiker diesbezüglich dem Herren Patienten eine schwere manische Fixierung attestieren würde, werkelt der uneinsichtige Historiker unverdrossen weiter an seiner Obsession für das Ereignishafte und quält seine mehr oder weniger geneigte Zuhörer- und Leserschaft immer wieder aufs Neue mit dem, was geschehen ist – gerade so, als ob wir alle nicht längst wüssten, dass es geschehen ist. Dabei ist doch das Einzige, was der Historiker wirklich über die Ereignisse, also im Hinblick auf Ort und Zeit berichten kann, eben die Tatsache, dass sie stattgefunden haben. Und das Manko der Geschichtswissenschaft, die sich ja aus einem anderen Verständnis als dem der Kommunikation, nämlich aus alten hermeneutischen Traditionen ableitet, ist bisher eben, dass sie für die Darstellung des Historischen nur auf das Faktisch-Reale zurückgreifen, aber als faktisch-real nicht würdigen kann, was nicht geschieht, daher also auch keine historischen Fakten, Spuren oder ähnliches hinterlässt. Historiker sind ja auf die Dokumentation des Geschehenen angewiesen. Es liegt aber im Wesen des Ereignishaften – und ist daher notwendigerweise zu beachten – dass das, was geschieht, nur eine mögliche Alternative unter verschiedenen darstellt, wie dies ja alltäglich beobachtet werden kann bei jemandem, der sich entscheidet. So dass wir uns individualpsychologisch oder im Rahmen allgemeiner Alltagsverständigung jederzeit darauf berufen können und müssen, das tatsächlich Geschehende unter Berücksichtigung auf das, was nicht geschehen, was unterlassen, was unterdrückt wurde, zu bewerten: Welche Möglichkeiten hätten bestanden, sich zu verhalten? Was hätte unterlassen werden können oder wäre besser unterlassen worden?

Bevor nun das allgemeine Wehgeschrei aus den festlich geschmückten Zunftsälen hereinbricht – nämlich, dass derartige Alltagstrivialitäten doch mitnichten Gegenstand einer derart ehrwürdigen Disziplin sein könnten – sei den Historikern ins Stammbuch geschrieben, dass gerade die Geschichte mindestens so stark durch das Unterlassene, das Nichtgeschehene bestimmt ist wie durch das Geschehene. Doch den positivistisch gestimmten Quellenfetischisten namens Historiker interessiert nun mal nur das, was aus der Fülle der potenziellen Handlungsalternativen tatsächlich aktualisiert wurde, was zum ‚Haupt- und Staatsereignis‘ geronnener Vollzug geworden ist, und so bleibt er blind für die Tatsache, dass Geschichte wesentlich aus dem Nichtvollzogenen besteht. Stattdessen machen die Historiker uns alle glauben, dass zur Geschichtsmächtigkeit nur derjenige taugt, der eben nichts unterlässt, sondern vom kategorischen Imperativ des unentwegten Geschehen-Machens vorangetrieben wird. Kein Wunder also, dass die Politiker, stets mit scheelem Blick auf historischen Nachruhm geschlagen, sich dies zur Maxime machen, anstatt in aufgeklärt-humanistischer Gelassenheit darauf vertrauen zu können, dass gerade ihr Nichthandeln als ihre eigentliche historische Leistung anerkannt werden wird. Das bekannteste Beispiel hierfür ist natürlich der Ex-Kanzler und Ex-Historiker Kohl, der 1989 leider gerade deshalb so wenig unterlassen hat, weil er glaubte, er gehe in die Geschichtsbücher nur durch das ein, was er tue – und schon haben wir den Salat. Er wäre eine viel bedeutendere Persönlichkeit geworden, hätte er die Strategien des Unterlassens auch im Hinblick auf die Volkskammererpressung gefahren, anstatt den Historikern Futter für die spätere Berichterstattung liefern zu wollen. Was wäre uns allen erspart geblieben, hätte Kohl darauf vertrauen können, später einmal über sich lesen zu können: „Da war ein dicker schwerer Mann und der hieß Bundeskanzler Kohl und der hat nach dem Mauerfall genial mit den Nato-Partnern und den westlichen Verbündeten verhandelt und sie haben sich darauf verständigt, alle einfach gar nichts zu tun!“

Um Ihnen eine weitere politische Dimension des Geschehens-Imperativs, den die Historiker in ihrem Tun so verherrlichen, aufzuzeigen, sei daran erinnert, dass unsere westliche Zivilisation sich immer nur durch Verständigung darüber, was nicht zu tun, was zu unterlassen sei und was nicht zu geschehen habe, weiterentwickelt hat. Und dieses westliche strategische Verbot von Zerstörung und Selbstzerstörung bei der Durchsetzung eines wie auch immer gearteten Geltungsanspruchs haben wir anderenorts als Ernstfallverbot formuliert, während wir die handlungslegitimierende Selbstberauschung am Eichmaß ‚Zerstörung als Erlösung‘ als Märtyrerlogik bezeichnet haben, die ihr eigenes Maß an Großartigkeit am Grad des Widerstands bemisst, auf den die Durchsetzung des eigenen Exklusivitätsanspruchs im Moment des Geschehen-Machens stößt. Der Terrorismus in Geschichte und Gegenwart fußt ganz wesentlich auf der barbarischen Selbstrechtfertigung des eigenen Handelns beim Verstoß gegen das zivilisatorische Ernstfallverbot, also bei der rigiden und rüden Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Unterlassung – und all dies immer garniert mit der Rhetorik und den Postulaten pathetischer Kulturkampfstrategien, denen zufolge die Bereitschaft zu Zerstörung und vor allem Selbstzerstörung als Beweis für die Richtigkeit der eigenen kulturellen, ethnischen, politischen, religiösen, ökologischen usw. Position gilt. Der martyrologisch legitimierte Verstoß gegen das zivilisatorische Ernstfallverbot mündet dann, wie beim Naziprogramm, ein in das erzwingende Realisieren solcher Programmatika, und wird dann zur historischen Faktizität in Gestalt der Auslöschung von 6 Millionen Juden. Und wird dann noch regelmäßig bejubelt von denjenigen, die in solchem Geschehen-Machen Paradiesverwirklichungsstrategien erkennen wollen. All das ist in der Tat grundlegend für den Terrorismus in der und an der Geschichte. Wahrhafte Terrorismusbekämpfung funktioniert nur im Herstellen des Normalnull der Ereignislosigkeit, ist also erst und nur dann erfolgreich im Sinne historischer Relevanz, wenn nichts geschieht, wenn jemand daran gehindert wird, seine selbstherrliche Missachtung des Ernstfallverbots in historische Ereignishaftigkeit umzusetzen. Beispielhaft hierfür war etwa die Aktion derjenigen Beteiligten, die verhinderten, dass eine Gruppe von anderen Beteiligten von Frankfurt aus das Straßburger Münster oder die Synagoge oder den Weihnachtsmarkt entsprechend mit historischer Ereignishaftigkeit aufladen konnten, indem sie dort eine Bombe explodieren ließen, wie dies wohl geplant war für Weihnachten des letzten Jahres. Wie ist diese Verhinderung aber nun zu würdigen? Wie kann man das Nichtgeschehen als Zielpunkt historischen Handelns zu einem historischen Ereignis werden lassen? Wie lässt sich die Ereignishaftigkeit des Nichtgeschehenen im Vergleich zu der Ereignishaftigkeit des Geschehenen darstellen? Denn das Ganze muss ja kommunizierbar werden, um als Unterlassenes überhaupt als geschichtsprägende Kraft erkannt und anerkannt werden zu können. Diese Darstellungsproblematik des Nichtgeschehenen führt hin bis zu der philosophischen Überlegung, wie man denn vom Nichts gegenüber dem Gegebenen überhaupt reden könne. Von solchen notwendigen Überlegungen jedoch hat sich die historiografische Branche bislang strikte Abstinenz verordnet, und dabei ist dies alles doch die Grundfrage für das, was Sie hier ‚Medialität der Geschichte‘ nennen, denn diese Fragen ergeben sich aus der Grundvoraussetzung für die Beschreibbarkeit solcher Phänomene in den von Ihnen angesprochenen Medien.

Dazu historische Beispiele: Kulturnationen, sagen wir zum Beispiel unser westlicher Kulturkreis, verstehen sich bekanntlich im Sinne der Befähigung von Individuen, sich als Mitglieder sozialer Kollektive zu bewähren, die bestimmten kulturellen Milieus und sonstigem Selbstverständnis verpflichtet sind. Dieses Selbstverständnis zeigt sich daran, dass die Mitglieder derart kultivierter Kollektive von vornherein nichts anderes zu lernen haben, als sich zu beherrschen. Individualpsychologisch von Freud als Sublimierungsfähigkeit usw. dargestellt, funktioniert dies aber in noch bedeutenderem Sinne als Befolgung niedergelegter, medial fixierter Regeln, nach deren Maßgaben diese sozialen Körper lebensfähig sind: etwa der Zehn Gebote, von denen immerhin neun die Bedeutung ihrer Befolgung als ein Unterlassen feiern. „Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht begehren“ – das alles sind Handlungstypiken, die auf das Unterlassen aus sind. Und es muss dann erst zu einer kollektiven Würdigung von Handeln als Unterlassen oder als Nichthandeln kommen, um diese Handlungstypiken wirksam werden zu lassen. Und diese Würdigungen wiederum entstammen samt und sonders der medialen Kommunikationssphäre: Denken Sie nur an die Sorgfalt, die Shakespeare und alle nachfolgenden Dramatiker auf die Beschreibbarkeit dieses Typus verwendet haben, während es vergleichbare Würdigungen des Unterlassens in der Geschichtsschreibung eben gar nicht gibt. Auch die Malereigeschichte hat solche Würdigungen des Nichtstuns entwickelt, wie Ihnen dieses Biedermeiergemälde beweisen wird (Abb. 1: Wilhelm Brücke, DER PLÖTZLICHE BESUCH (Berlin 1842)).
Gerade das von den Kultur- und Kunstaktivisten gewesener und gegenwärtiger Kulturkämpfe so übel zerpflückte Biedermeier zeigt uns nämlich die gelungene Eichung der Kultur am verbotenen Ernstfall. Hier ist absolut nichts zu sehen von den Jahrhundertprogrammen und Volksbeglückungsstrategien der ‚Schöpferischen Zerstörung‘, vom ‚Wüten‘ und ‚künstlerischen Barbarentum‘, wie dies selbst noch nach 1945 von den Avantgardisten in Malerei und Architektur – in schönster Übereinstimmung mit entsprechenden Parolen aus dem Fundus nationalsozialistischer Selbstergriffenheit – mit revolutionärem Gestus wohlfeil verkündet wurde. Nein, hier herrscht im Gegenteil stille Genügsamkeit, Bewegungslosigkeit und sattes Nichts-Tun: ‚Sesselfurzer‘, ‚Couch-Potatoes‘, bequeme Bürger sind hier zu beobachten bei ihrer tatsächlich aber rundum zivilisierten Ausbildung einer Ereignishaftigkeit des Nichtgeschehenen.

Die mediale Kommunikationssphäre zeigt der Geschichtswissenschaft also unmissverständlich auf, dass es tatsächlich auch eine Kultur der Unterlassung gibt, in der man sich durchaus besser einrichten kann, als es unter dem Terror des „lasst uns machen, lasst es geschehen, lasst uns historische Ereignisse zeugen“ jemals möglich wäre. Ich empfehle Ihnen daher dringend, die beiden Figuren auf diesem Gemälde als Prototypen und als Vorbild für eine noch zu schreibende Geschichte des Nichtgeschehenen zu begreifen. Weil nämlich diese beiden da – entsprechend ihrer Sozialisation, meinetwegen auch entsprechend der christlichen Verhaltensregeln – tatsächlich die Bedeutung ihrer Zuordnung aufeinander und zu dem Weltmoment der Geschichte im Sitzen-Bleiben zelebrieren, während draußen schon wieder die Schlägertypen der historischen Ereignishaftigkeit herumlaufen und lauthals herumpöbeln: „Los, endlich aufstehen, haut ihm in die Fresse, wenn er irgendwas sagt“. Das hier ist das nachahmenswerte Gegenteil dessen, denn hier heißt es: „Bleibt schön in der Furzrolle sitzen, lasst euch durch Kuhlenkampffs und andere bannen vor dem Fernseher, damit ihr ja nicht auf den dummen Gedanken kommt, euch jetzt auszuagieren auf der Straße und mögliche Demonstrationen zu bilden. Und all das letztlich nur, um dem Vorwurf, ihr wäret ‚biedermeierlich verzwergte Deutsche‘, in finsterer Handlungsentschlossenenheit entgegenzutreten“.

Denn genau das ist ja Karl-Heinz Bohrers Lieblingsvorwurf an die in einer ‚Mainzelmännchenrepublik verzwergten Deutschen‘, dass sie sich nicht mal mehr zu einem Falklandkrieg aufraffen können, während die Engländer das konnten. Das müssen Sie mal lesen, wie Bohrer, der ja lange Korrespondent in London war, das feiert à la: „Ja, historische Ereignishaftigkeit! Falklandkrieg! Hauruck mit Frau Thatcher, die noch jeden argentinischen General mit ihrer mit Platin gefüllten Handtasche auf dem Kopf außer Aktion setzt...“ – und Bohrer als Hymniker der historischen Ereignishaftigkeit dieses Typs gegen die aufgeklärten, intelligenten deutschen Bürger, die sagen: „Diesen Typus der Historizität haben wir das letzte Mal bis 1948 zur Genüge gehabt. Jetzt wissen wir, was wirklich anliegt, nämlich stillsitzen, sich zähmen, sich fesseln“ – allesamt bekanntlich zentrale Motive aller biedermeierlichen Gestalten, die sich aus guten Gründen als Selbstfesselungsakrobaten verstanden haben. Die ‚Bohrer-Typiken‘ wie auch die der historiografischen Branche hingegen waren immer schon stolz auf die Entfesselungskünstler. In meiner Jugend wurden auf dem Jahrmarkt noch Bottiche hingestellt, ungefähr 2,80 m tief mit Wasser gefüllt, und oben stand ein doller Kerl, der wurde vom Publikum mit Ketten gefesselt, die Kettenenden wurden verschlossen, durch die Beine, unter den Armen etc. Danach wurde der Gefesselte ins Becken geschoben und alle starrten gebannt, ob es ihm als Kulturheros gelingen würde, sich selbst zu entfesseln und rechtzeitig noch nach oben zu kommen, oder ob er ersaufen würde. Das war der alte Typus historischer Faktizität, geeicht auf die Entfesselung, auf die Ereignishaftigkeit des Geschehenden. Inzwischen aber ist, wenigstens unter zivilisierten Menschen, der Entfesselungs-Thrill längst abgelöst worden durch das Interesse an den Leuten, die nicht wie Herr Kohl, um sich historisch zu beweisen, allerlei Faxen aufführen und sagen, „Europa? Machen wir, wie viel wollen Sie haben? Was, Sie meckern? Hier 20 Milliarden, reicht das? Was, noch nicht? Also, was wollen Sie noch haben? Machen wir, kommt gar nicht drauf an, alles fährt prima, prima, hier läuft das Programm“ – und dann hinterher feststellen: „Ja, was ist denn daraus für eine komische Geschichte geworden?“. Gegen dergleichen kann ich Ihnen das Vorbild der selbstgefesselten biedermeierlichen Unterlasser nur dringend empfehlen, damit in der Auseinandersetzung der Kulturkämpfe, die schon wieder laufen, in der aktiven Rebarbarisierung unserer Gesellschaft gegenüber den angeblichen Sesselfurzern, den ach so bequemen Bürgern, die bloß dasitzen und sich von den Kuhlenkampffs zivilisatorisch bändigen lassen, der zivilisatorische Mindeststandard erhalten bleibt. Und damit diese ‚Bohrer-Attitüden‘ nicht wieder erfolgreich werden und schon gar nicht als kulturelle Höchstleistung durchgehen. Denn das ist reiner Kindergarten, diese ausagierenden Aktivitäten, mit Fett durch die Gegend zu schmeißen und die Hosen runterzulassen, die Sau rauszulassen – das ist wirklich Kindergarten. Das mag im Kulturkampf durchgehen, taugt aber rein gar nichts beim transkulturellen Aufbau von zivilisatorischen Verhaltensstandards!

Bedenken Sie bei Ihrer Selbstzuordnung zu den Selbstfesselungs- oder Entfesselungskünstlern aber bitte auch, dass Universitäten und Wissenschaften von jeder kulturellen Legitimation im Sinne der angeführten Märtyrerlogik abgekoppelt sind. Seit dem 18. Jahrhundert gilt: Wissenschaften und Künste haben kein kulturelles backing, sie sind über alle kulturelle Legitimation gestellt, deswegen gibt es nur eine universale Mathematik, Chemie, Physik – keine chinesische, keine jüdische oder sonstige, sondern allein die wissenschaftlich betriebene Mathematik, Physik etc. Das gleiche gilt zweitens für die Künste, drittens für den Fernhandel, viertens für die Diplomatie, deren Aktionsbereich jeweils Gesellschaften sind, die sich ausdrücklich im 18. Jahrhundert – nicht zuletzt nach den Erfahrungen 30jähriger Kriege – von der Exklusivitätsstrategie der kulturellen Legitimation verabschiedet haben, weswegen alle Angehörigen dieser Branchen ja auch als ‚kulturlose Banausen‘ gelten. Unsere größten Wissenschaftler sind ja kulturell gesehen völlig ahnungslos, harmlose Idioten, von denen man dann sagt: „Hach, der Professor, hat ja keine Ahnung, geht nicht in die Oper, liest keine Bücher, geht nicht spazieren, ja, kommuniziert nicht mal mit Hunden“ – kurzum: eine völlig unbrauchbare Größe im Kulturkampf, jedoch unverzichtbar und substanziell im Hinblick auf Aufbau und Durchsetzung von transkulturellen, akulturellen zivilisatorischen Verhaltensstandards. Deswegen müssen wir uns bequemen, zu dieser Art von ‚Kulturidioten‘ zu werden, sonst ist das Ende wie immer Mord und Totschlag, und es ist rein zufällig, wer übrig bleibt. Wenn Sie sich das trotzdem lieber zumuten wollen, bitte schön: ökologischer Fundamentalismus, ökonomischer Fundamentalismus, religiöser Fundamentalismus, es steht alles offen... Wählen Sie aus und schon haben Sie den Kultursalat am Halse, die Barbarei und der Fundamentalismus blühen.

Notwendigerweise wird also Kulturgeschichte wie Geschichte überhaupt unter dem Gesichtspunkt des Unterlassens und Verhinderns geschrieben werden müssen. Denn unserem Theorem vom Verbotenen Ernstfall zufolge ist die Eichung kultureller Aktivitäten immer am Maßstab des Nichtgeschehenden vorzunehmen, weshalb in die Geschichtsschreibung und in die politische Prospektion auch jene Ereignisse als bestimmend oder großartig oder folgenreich aufzunehmen sind, die nicht geschahen, weil man sie verhinderte. Die Geschichte dessen, was nicht geschah, die Geschichte des Verhinderns, des Unterlassens oder des Nichttuns gilt es, in politischer, sozialer und vor allem kultureller Hinsicht zu entwickeln. Ich möchte also generell Ihr Augenmerk bei der Erörterung der Frage nach der ‚Medialität der Geschichte‘ darauf richten, dass die Anstrengung, die von Ihnen allen gefordert wird, sich darauf zu konzentrieren hat, dass Formen der beschreibenden Darstellung, weitergehend der Würdigung, der qualifizierten Fassbarkeit von Nichtereignissen und Unterlassungen begrifflich scharf und konsistent zu begründen sein werden – auf dass von jetzt an und hinfort Individuen wie Kollektive gewürdigt werden können im Hinblick auf die Vermeidung der Erzwingung historischer Größe und Einmaligkeit. Das ist meine Vision von der Erörterung des Themas ‚Medialität und Geschichtsschreibung‘.

Vielen Dank!

Literaturverweise:
Karl-Heinz Bohrer, Provinzialismus. Ein physiognomisches Panorama, München/Wien 2000.
Bazon Brock/Gerlinde Koschik (Hg.), Krieg und Kunst, München 2002.
Bazon Brock, Der Barbar als Kulturheld. Wie man wird, was man nicht ist. Für eine Ästhetik des Unterlassens. Gesammelte Schriften 1992-2002, Köln 2002.
Bazon Brock, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit – die Gottsucherbande. Schriften 1978 – 1986, in Zusammenarbeit mit dem Autor hrsg. von Nicola von Velsen, Köln 1986.
Manfred Schneider, Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München/Wien 1997.

Nachweis des Bildzitats:

Abb. 1: Privatarchiv Brock.

siehe auch: