Buch „Was wollen Sie in Paris?“

Victor Otto Stomps und die Eremiten-Presse in Stierstadt

„Was wollen Sie in Paris?“ Victor Otto Stomps und die Eremiten-Presse in Stierstadt. Gießen, Lahn 2021.
„Was wollen Sie in Paris?“ Victor Otto Stomps und die Eremiten-Presse in Stierstadt. Gießen, Lahn 2021.

Reihe: Berichte und Arbeiten aus der Universtätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen, Bd. 64

Erschienen
01.01.2021

Herausgeber
Baumgartner, Marcel | Reuter, Peter

Verlag
Gießen University Library Publications

Erscheinungsort
Gießen, Deutschland

ISBN
978-3-944682-99-0

Umfang
162 S.

Einband
Softcover

Seite S. 18-25 im Original

Eremitenästhetik: Unbehaust im Existenzminimum

Zum Leben geboren, zur Mythe entstellt? Oder mythentauglich geworden? Biografien inspirieren, sobald die Hauptpersonen nicht nur den Zufälligkeiten, den Beliebigkeiten alltäglichen Lebensvollzugs unterworfen bleiben, sondern Anlass für eine Überformung des Realen durch den Geist des Erzählens bieten. Manchen Biografierten gelingt es, in Eigenregie so zu leben, wie man liest, also einen Roman zu leben, statt ihn zu schreiben. Das schreibt sich dann wie von selbst: Der Ghostwriter ist nur noch Protokollant.

Eine der raffiniertesten Varianten, den Roman zu leben, statt ihn zu schreiben, bieten Verleger je gerühmter, literarisch befähigter – ob ökonomisch erfolgreich oder nicht – ihre Autoren sind, desto mysteriöser der Mann oder die Frau hinter ihnen. Wo Schreiberlinge sich durch Arbeitsrigidität und Lebensaskese zu legitimieren hoffen, gewinnt der Verleger Glanz durch öffentliche Repräsentation, die Patriarchin figuriert als große Mutter. Dieses Rollenschema aus dem bildungsbürgerlichen Betrieb wird nicht etwa durch die ökonomisch Erfolglosen diskreditiert; ganz im Gegenteil: das Image des Losers, des programmatisch Radikalen und durch die vorherrschende Ordnung Stigmatisierten kann zur Auszeichnung werden. Denn es wuchern die Gerüchte, es raunt das Feuilleton und alle versuchen, sich mit der Mystifizierung der Figuren interessant zu machen. Und hiermit auch ich.

In meiner Lebensspanne waren im deutschsprachigen Raum V. O. Stomps und Jörg Schröder die mythenfähigsten Akteure im antibürgerlichen, alternativen Wortbetrieb. Denn das Wort muss Fleisch werden und nicht Geld. Natürlich kann man es ein schweres Schicksal nennen, dass etwa Herrn Unseld alle Worte nur zu Geld werden sollten. Da aber Geld die höchste Begründung von Geltung ist, gelten die ewigen Chargenspieler für bedeutsamer als die Gestalten der tragigrotesken Ohnmacht.

Ich soll für diesen Anlass bei Stomps bleiben. Er galt lange als harmloser Repräsentant des Typs Aussteiger, der spätestens seit der Lebensreform zu Ende des 19. Jahrhunderts de facto und idealiter seit Nietzsche als Leseempfehlung für Bettler (Zille) darstellbar wurde. Aber Stomps war ganz und gar nicht nach Hühnerhof und selbstgelegten Eiern zumute – allein schon deshalb nicht, weil Himmler Hühnerzüchtergewesen war. Und es lag ihm fern, Versorgung mit fließendem Wasser und Stubenwärme geringzuschätzen.

Seit 1950 wandelte sich in Deutschland die herkömmliche Bewunderung für Künstlerboheme in Respekt vor existentialistischer Konsequenz. Und Stomps erschien mir als fritzischer Existentialist, der seinen Programmbau Sanssouci allein deswegen bemerkenswert findet, weil es in ihm keine Mäuse gibt, also sein Sanssouris ist. Wer je ins Feld zog, sei es in die Lüneburger Heide, jugendbewegt und wandervögelig, oder vor Stalingrad lumpennass und donnertaub, weiß, dass das größte Überlebensproblem die Sicherung des Behausungslochs gegen Ratten und Mäuse ist. Fritzische Existentialisten wie Katte, Gundlach oder Kleist oder eben Friedrich selber in seinem bekleckerten Kostüm und den verschlissenen Stiefeln im Hundenapf sind Gründergestalten einer anderen Würde, denn „das Leben ist der Güter höchstes nicht“, sondern das Nachleben! Sie setzen auf ein anderes geschichtliches Profil und Wirkungsformat als die bekannten Quartier Latin-Stromer. In der Gestalt des wahrhaft einzigen und einzigartigen Stomps-Nachfolgers, des späten Wolfgang Neuss, erhalten auch die Schatten literarisches Profil, die Heidegger, Benn, Jünger, C. Schmitt in den Nächten der rabenschwarzen Angst warfen.

FELDPOST

Mir stand von Anfang an, als Bingel, Jäger und Bayrle mich zu Stomps brachten, eine fatale Variante der Lebensreformbewegung, die als Wandervogelei widerstandslos in den Ersten Weltkrieg geführt hatte, vor Augen. Niemand erzählte darüber, man erfuhr kaum etwas über Stomps‘ Zeit in der großdeutschen Wehrmacht. Nur aus Gesprächen mit Erich Kuby ergaben sich ein paar sprechende Gestalten wie z.B. der Gefreite als Improvisationsgenie mit Überlebenswillen, der fesche Leutnant als Illusionist und der Kompanieführer als schicksalsergebener Vater. Der größere Teil der Sieggeilen frönte der Vollzugsidiotie wie Treiber bei der Jagd.

Mir erschien Stomps als Soldat, geprägt vom organisierten Chaos des Feldlagers zwischen Truppenbetreuung, Feldpost- und Feldzeitungsausgabe und Propagandabetrieb als legendenbehafteter Panzerungsbär. Die sinnvolle Kunst von Tarnen und Täuschen verlangte zu wissen, wo es etwas zu besorgen gab, zu tschintschen, die zeitliche Differenz zwischen Befehlsempfang und Befehlsbefolgung auszudehnen, bis sich beide durch Veränderung der Lage als obsolet erweisen würden.

So vorzugehen, war risikoloser als die Befehlsverweigerung, eine preußische Variante der österreichischen Zustimmungskunst, die der brave Soldat Schwejk zur vollendeten Form des Widerstandes ausgebildet hatte. Stomps‘ Aura verklärte ihn nicht, sondern strahlte als taghelles Geheimnis, das umso undurchdringlicher zu werden schien, je näher man es zu erfassen suchte. Man wäre nicht und ich bin nicht auf den Gedanken gekommen, ihn als Selbstmystifizierer interessant zu finden; vielmehr forderte seine Haltung dazu heraus, das Geheimnis mit jeder Frage danach immer noch weiter auszubauen: Wie verstand man den Schützengraben als Weltenbau, die Ruine als Schutzschild (weil sie kaum noch zum Ziel genommen wurde) und die explosionsgetriebene Verwandlung der sichtbaren Welt, die es zu lesen galt?

Die Antwort mag im Nachhinein konstruiert erscheinen, ist aber nichtsdestoweniger auch von Stomps selbst nahegelegt worden. Denn die Wahl des Namens „Eremiten-Presse“ verweist ja eindeutig auf frühchristliche Strategien der Glaubensbehauptung gegen die Bedrohung durch offizielle Herrschaftsideologien. Vornehmlich während der letzten großen Christenverfolgung unter Diocletian zu Beginn des 4. Jahrhunderts zogen sich die bedeutenden Lehrer des Untergrundlebens in die Einsamkeit zurück, wo sie von den Häschern nur schwer gefunden und noch schwerer der Aufwiegelung des Volkes bezichtigt werden konnten, weil sie als Pfahlhocker oder Erdlochschrate am Rande der Wüsteneien kaum Publikum gefunden haben konnten.

Auch in weit moderneren Zeiten wurde die Eremitage als Ort der Weltentrückung, der Konzentration und des Weges ins eigene Innere sogar mit höchstem, baukünstlerischen Anspruch herausgehoben (z. B. Eremitagen in Petersburg und Bayreuth — beide garantiert mäusefrei). Und bis in die heutige Wissenschaftsethik ist das ciceronische wie stoische Erfahrungsfazit des „late biosas“, des Lebens im Verborgenen, faszinierender als das herkömmliche, banalchristliche Glaubensbekenntnis. Der Eremit wollte sich in der Einsamkeit gerade nicht vor der Suggestion durch gebratene Tauben und sündhafte Nacktheit bewahren, im Gegenteil, er hatte immer schon den Zusammenhang von Untersuchung und Versuchung erkannt. Statt wie gewohnt zu bitten: „und führe uns nicht in Versuchung“, forderte er die Versuchung geradezu heraus, um sich in ihr zu bewähren. Deswegen wurde noch im 20. Jahrhundert die Versuchung des heiligen Antonius zum Thema von Malern, wobei die Bewährung für den Maler darin bestand, sein Werk zu vollenden, anstatt es gegen die von ihm selbst stimulierte Verlockung zum Scheitern dranzugeben.

INNERE EMIGRATION

Das Dasein als Eremit wandelte sich in Zeiten drohender Verfolgung mit der Einsicht, dass die beste Tarnung verdächtigbarer Individuen das Versteck in der Masse sei. So wurde die Innere Emigration zur in jeder Hinsicht populärsten Geste der Distanznahme durch Zustimmung (siehe BAZON BROCK, Affirmationsstrategie).

Wozu hatte sich Stomps verführen lassen wollen? Ich vermute, er wollte mit der Wahl des Raben als Wappentier seines Verlages deutlich eine Spur von der nordischen Saga um Odin und seine Assistenztiere über die Ossian-Euphorie im Zeitalter der Aufklärung bis zu Edgar Allen Poes Programmgedicht „The Raven“ legen. Die ungeheure Intelligenzleistung von Rabenvögeln ist heute durch die entsprechende Forschung bewiesen. Die Etymologie von Hugin und Munin als Leistungsträgern des Rabengottes bezeugte immer schon den Zusammenhang von Erinnern und Vorausdenken. Dass diese Fähigkeit davon abhängt, ein möglichst großes Areal der Ereigniswelt im Überflug zu erfassen, leuchtet ein und wird heute im Verfahren der Supervision bestätigt.

Für die Versuchung durch solche altgermanische Erkenntnisträger gab es in Stomps erster Rabenpresse-Zeit reichlich Beispiele von völkischem Getue, Getanze und Gesinge. Er nützte sie unaufschließbar mehrdeutig, jedenfalls bis 1936, als auch andere Spielernaturen wie Benn aus ihrer Selbsttäuschung gerissen wurden.

GRUPPENBILD OHNE GRUPPE

Ich heftete an Stomps den Inbegriff des Vertriebenen. Bis dato konnten wir Flüchtlingskinder nur die Vertreibung aus Haus und Heimat beschreiben. Mit Stomps erweiterte sich für mich der Topos Vertreibung zur Vertreibung aus jeglicher Zugehörigkeit, Vertreibung aus der Geschichte, Vertreibung aus der Mythologie, Vertreibung aus der Märchenerzählung, Vertreibung aus der Gesellschaft und ihren Gewissheiten. Weder fritzisch preußisch noch deutschnational, weder germanophil noch urmenschlich, weder kriegsheldisch noch heroisch pazifistisch, weder gläubig noch nihilistisch: Wer ist man dann, wenn man nicht sein kann, der man aus Einsicht durch Erfahrung und aus Temperament nicht sein darf? Wenn ein junges Leben endet, spekuliert man über dessen leider nicht entfaltetes Potential. Wenn ein altes Leben nicht im Erfüllungstriumph, sondern in der Offenheit des Zweifels endet, wird es zum Sinnbild der vergeblichen Einsicht und Erfahrung: alles überstanden und doch nichts erreicht? Vor Stomps, meine eigene mögliche Zukunft im Blick, beantwortete ich Benns Frage: „Wenn wir gelitten haben, ist es dann gut?“ kleinlaut mit „Nein“. Deswegen galt es einfach weiterzumachen, im Ungewissen zu tun, was man kann, ohne Aussicht auf gute Bilanz. Also Jedermann zu sein, nicht auf Salzburger Festspielparkett, sondern in den Wohnküchen des Sozialbaus oder in den Bruchbuden des glanzlosen Daseins. Stomps war und bleibt ein Beispielgeber im Beispiellosen, denn die allgemeine Zumutung des Überlebens wäre ja keine Zumutung mehr, wenn sie Beispiele für das Bessere, das ganz Andere, das Gelingende böte.

Auf der Frankfurter Buchmesse, frühe 1960er Jahre. V.l.n.r.: N.N., V.O. Stomps, Heinrich Raumschüssel, Werner Schreib, Bazon Brock, Günter Rühle, Ferdinand Kriwet, Bild: Foto: Friedemann Singer.
Auf der Frankfurter Buchmesse, frühe 1960er Jahre. V.l.n.r.: N.N., V.O. Stomps, Heinrich Raumschüssel, Werner Schreib, Bazon Brock, Günter Rühle, Ferdinand Kriwet, Bild: Foto: Friedemann Singer.
Victor Otto Stomps (Hrsg.): Kochbuch für Feiertage. Blütenlese von Bildern, Rezepten und Poesien. Stierstadt: Eremiten-Presse, 1964. – Bloomsday; Texte von Bazon Brock und Wolf Vostell
Victor Otto Stomps (Hrsg.): Kochbuch für Feiertage. Blütenlese von Bildern, Rezepten und Poesien. Stierstadt: Eremiten-Presse, 1964. – Bloomsday; Texte von Bazon Brock und Wolf Vostell
"Bloomzeitung" auf Basis der reproduzierten BILD-Ausgabe vom 08.04.1963 (links), Bild: Zur Feier des "Bloomsday" am 16.06.1963 in der Galerie Loehr, Frankfurt; Namensmontage von Thomas Bayrle.
"Bloomzeitung" auf Basis der reproduzierten BILD-Ausgabe vom 08.04.1963 (links), Bild: Zur Feier des "Bloomsday" am 16.06.1963 in der Galerie Loehr, Frankfurt; Namensmontage von Thomas Bayrle.
"Bloomzeitung" auf Basis der reproduzierten BILD-Ausgabe vom 08.04.1963 (rechts), Bild: Zur Feier des "Bloomsday" am 16.06.1963 in der Galerie Loehr, Frankfurt; Namensmontage von Thomas Bayrle.
"Bloomzeitung" auf Basis der reproduzierten BILD-Ausgabe vom 08.04.1963 (rechts), Bild: Zur Feier des "Bloomsday" am 16.06.1963 in der Galerie Loehr, Frankfurt; Namensmontage von Thomas Bayrle.

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