Zeitung DIE ZEIT

Erschienen
07.10.2004

Verlag
ZEIT-Verlag

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
42/2004

Alles & mehr oder nicht / Einen schönen Semiotiker kann keine Wirrnis entstellen

– Überlegungen zu Umberto Ecos »Geschichte der Schönheit«

Lange bevor er mit dem Nimbus eines gelehrten Klosterbruders in der Öffentlichkeit zu jonglieren begann, war mir Meister Umberto ein Rätsel. Als ich 1968 die Curricula für das Studium der Ästhetik zu entwickeln hatte und dafür Ecos Schrift La struttura assente (Einführung in die Semiotik) zu Rate zog, machte mich die um meine Lebenszeit besorgte Melusine Huss (längst von Umbertos Genie überzeugt) darauf aufmerksam, dass Studierende einige hundert Jahre alt zu werden hätten, wenn sie auch nur die von Eco für die Einführung empfohlene Literatur tatsächlich lesen wollten. Der Meister selbst verriet das Geheimnis seiner Kenntnis dieser Bücherberge nicht. Hatte er Heerscharen von arbeitslosen Akademikern, die in Italien gern für geringstes Entgelt tätig wurden, angeheuert und sein Hirn mit deren Arbeitsresultaten füttern lassen? Aber selbst das bloße Aneignen von Zusammenfassungen der Zusammenfassungen hätte Jahrzehnte benötigt, mehr Jahrzehnte, als der damals 36-Jährige hinter sich gebracht hatte. Auch spätere Offenbarungen wie etwa Ecos Anleitung zum Schreiben einer Doktorarbeit boten keine Erklärung für seine schier unglaubliche, alles Nachrechnen überbietende Arbeitsleistung als Wissenschaftler, Lehrender, Organisator, Mediator, Literat und Essayist, dessen Weltruhm mit dem Roman Im Namen der Rose begann, dessen weltweite Präsenz in der Gemeinde der Semiotiker lange vor der Revolution der Medien einsetzte. War er so erfolgreich, weil die Semiotik als Prophetie der elektronischen Zeichengenerierung für Künstler, Wissenschaftler, Literaten und Sprachforscher gelten konnte?

Jetzt wissen wir’s. Ecos nur auf dem klösterlichen Lesepult, vulgo auf dem coffee table, physisch hantierbare Geschichte der Schönheit ist eine höchst elegante Enthüllung seiner Schaffensmethode. Diese besteht aus einer Philosophie des Blätterns: für den Autor ein zufallsgeneriertes Blättern in Zettelkästen – leider etwas unter dem Niveau von Niklas Luhmanns oder Arno Schmidts Symphonien; für den Leser ein Blättern in coffee table books kultursponsernder Haushalte, Praxen und Galerien; für den Privatmann, vulgo Konsument, ergibt sich ein Tragebuch nach dem Beispiel der wöchentlich zweimal ausgegebenen Vielhundertseitenkataloge zu Ausstellungen aller Art. Blättern – eine Betätigung geistiger Energien nach dem Modus des Feuilletons, was ja schließlich nichts anderes heißt als »Blättern« durch den Letterwald, den Schreibwald Pennsylvania, dem Klaus Theweleit einen genialen Essay widmete.

Blättern ist eine Aktivierung des Interesses unter Gesichtspunkten der Zeitökonomie einerseits und drohender Interesselosigkeit andererseits. Es verlangt auf jeden noch so kurzen Blick ein Fangwort oder einen visuellen Reiz. Jede in den Blick genommene Stelle muss zu einer Pointe oder Sentenz zusammenziehbar sein, die auf anderes verweist, das seinerseits auf anderes verweist, sodass man schließlich in augiastischer Erschöpfung, im Genuss der eigenen Anstrengung wie bei der sportlichen Herausforderung einen Parcours bewältigt hat, ohne die Frage beantworten zu wollen oder zu müssen: »Warum habe ich mir das angetan, was soll’s, vulgo quid tum, watt denn nu?«

Trotz des ersten Eindrucks, Die Geschichte der Schönheit sei ein Parcours der Attraktionen, der sich selbst zum Thema macht, nämlich Schönheit als neurophysiologisch definierbarer Attraktor und kulturgeschichtliche Wirkung dieser anthropologischen Grundausstattung, fordert schon die Einleitung zu bedenklichem Wiegen des Leserkopfes heraus. Da sollen »vergleichende Abbildungsleisten« verdeutlichen, wie unterschiedlich Schönheitsideale in Epochen und Werken ausgeprägt worden seien. Es ist schon ein starkes, also stark belustigendes Stück, dass ausgerechnet in einer Untersuchung über die Bedingtheit der Orientierung auf Schönheit Bildchen nebeneinander gestellt werden, die als Formate beliebig aus Originalen herausgeschnitten wurden. Wie soll man, was ja eigentlich löblich wäre, vergleichend sehen, wenn das zu Vergleichende beliebig zusammengestückelt wird. Das ergibt nur einen Wirrsinn von nackten Leibern, Weibern, Kerlen, Visagen, Moden, Styling und Mariendarstellungen.

Wer diese bildsprachliche Naivität gleich zu Anfang präsentiert bekommt, schmeißt den Schmarrn auf den Haufen »zu Verramschen« oder folgt amüsiert der Frage, wie weit sich ein Poeta doctus von ein paar Werbeschnöseln, vulgo Medienexperten, treiben lässt, mit dem Argument: Macht nichts, das liest ja doch keiner, weil’s zum Blättern gemacht ist. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte es für eine große Entlastung vom Druck des Argumentierens mit Letztbegründungen, wenn jemand vom intellektuellen Vermögen Ecos sich aufs bloße oberflächliche Gerede einlässt, damit er nicht dem »Jargon der Eigentlichkeit« verfällt; aber es gibt auch einen Jargon der Uneigentlichkeit, der peinlichen Oberflächlichkeit. Die röhrenden Nietzsches und Heideggers, Jägermeisterhirsche der Harmlosigkeit aus Raffinement und der Oberflächlichkeit aus Tiefe, hängen in so gut wie allen deklarierten Behausungen des postmodernen Menschen.

»Eingangs wird anhand von elf vergleichenden Abbildungsleisten sichtbar gemacht, wie unterschiedliche Schönheitsideale in unterschiedlichen Epochen in den Werken von Philosophen, Schriftstellern und Künstlern, auch in großem zeitlichem Abstand wiederkehren und sich, manchmal verschiedenartig, entwickeln.« Wer mir sagen kann, was das heißen soll, wird kostenlos im nächsten Grundkurs Nichtnormative Ästhetik mit Liebe und Nachdruck betreut.

Ei der Daus! Soll der Leser für den Autor denken?

Ist der Begriff der Schönheit also auf das gerichtet, was in den verschiedensten Epochen immer wiederkehrt, wenn auch unterschiedlich entwickelt? Was heißt aber unterschiedlich entwickelt, wenn man doch von unterschiedlichen Schönheitsidealen in unterschiedlichen Epochen ausgeht? Haben da eine Sekretärin und/oder ein Übersetzer nur missmutig ihren persönlichen Eindruck vom atmosphärischen Gegrummel des Abts Umberto in die Schranken des Unsinns weisen wollen, weil der Autor beim lustvollen Schmatzen in der Ultima Cyna ihnen auf den Wecker ging? Welcher Lektor hat diesen Wirrsinn als philosophischen Tiefsinn deklariert?

»Es ist Sache der Leser, die Einheit in der Vielfalt aufzuspüren«, antwortet Eco vorab auf mögliche Vorhaltungen; ei der Daus! Jetzt soll der Leser auch noch die honorierte Leistung der Autoren übernehmen. Soviel ich weiß, bin ich der einzige Autor weltweit, der seine Leser und sein Publikum seit Jahrzehnten wenigstens mit einem Anerkennungshonorar für deren Lese- und Zuschauerleistung würdigt; aber damit verlange ich doch nicht, dass die Leser und Teilnehmer an meinen action teachings die Arbeit an Lehrers Statt zu absolvieren haben. Und in der Tat bietet der Band ja auch Ecosche Plaudereien als Verbindung der Zitatschnipsel. Dass er auf jede große theoretische Durchdringung, also auf irgendeine zusammenhängende Rede von der Schönheit verzichtet, ist ja höchst ehrenwert. Aber ein bisschen »schwache Theorie« der Begründung des Verzichts auf »starke Theorie gleich Systematik«, wie sie Ecos Kollege Vattimo so grandios zum Thema demonstrierte, sollte doch schon geboten werden.

So bleibt es bei einem nicht einmal durch seine Komik amüsierenden Gehampel zwischen Synonymen für das Schöne als das Begehrenswerte, das Reizende, das Interessante et cetera bis hin zur völligen semantischen Leere des Begriffs von Schönheit, wenn etwa heilige Monster in den Kapitellen romanischer Säulen mit der Autorität eines Bernhard von Clairvaux als für Publikum attraktiv erklärt werden, weil die Zeitgenossen sie genau ansehen mussten, um sie moralisch zu verdammen. Heiliger Bimbam! Umberto weiß es doch besser, wie er in Arte e bellezza – nell’estetica medievale (1987) sinnfällig demonstrierte – ganz im herkömmlichen Sinn, also state of the art. Den dort dargestellten collezionismo hat da wohl einer als primacolazionismo medievale umgedeutet, obwohl Eco ausdrücklich erklärt hat, dass »die Formen der Leidenschaft wie Einverleibungswunsch, Eifersucht, Besitzwunsch, Neid, Habgier nichts mit dem Sinn für das Schöne zu tun haben«.

Quid tum – was kommt heraus? Nichts, denn alles Mögliche kann als schön oder attraktiv oder interessant empfunden werden und entsprechend in Dienst genommen werden. Die Schönheitsideale wechseln eben, von der Schönheit der Menschen zur Schönheit der Maschinen, von der Natur zur Kunst, von der Hässlichkeit zum Kuriosen, von der Erhabenheit in der Naturwahrnehmung bis zum L’art pour l’art – »auf dem Wege zur subjektiven und multiplen Schönheit« eben. So subjektiv und multipel ist das, was uns hier als Ecos Geschichte der Schönheit ausgegeben wird. Aber warum verlangt es irgendein Interesse von irgendjemand, wenn am Ende alles subjektiv und multipel ist?