Programmheft DAS NEUE FORUM, 8./9. / Jg. 1959/60

Programmheftbeitrag aus der Dramaturgenzeit in Darmstadt

Erschienen
1958

Issue
8./9. / Jg. 1959/60

Der Glasfuß als Schicksal – Ezra Pound und der Heraklesmythos

1.1 Geschichte und Mythos

Ezra Pound - il miglior fabbro, unseres glückes schmied - und schmied auch unseres unglücks. unsere leichtfertigen kreise sind viereckig. er kreist uns ein. er schließt wieder einen kreis. keine appetitlichen lorbeerkränze. doch in der esse dieser mundhöhle hämmern seine sprachorgane einen eisernen reif um das haupt jenes antiken kolosses. des toten, der nicht sterben kann, solange "die kunst eine frage des lebendigseins" bleiben wird. das ist die position der endlichkeit des menschen: nur als totes kann ihm die welt eigentum werden, verfügbar gemachte erinnerung, die als wirklichkeit der vergangenheit unsere zukunft allein garantiert. das größte reservoir verfügbar gemachter erinnerung, das gedächtnis der menschheit sind die mythen. der mythos drückt das wirkliche, das uns niemals lebendige gegenwart zu sein vermag, hinab ins mögliche, das damit wieder vor uns liegt. der mythos setzt uns wieder ein in die naivität des anfangs, er spielt sie uns in die hände. zwar ist damit die christliche entsagung verworfen, dennoch zugleich der beständige gegensatz zwischen mythos und versöhnung mit dem kommenden aufgehoben. dieser aufgehobene gegensatz allein meistert die zeitstruktur unseres daseins.

"jetzige zeit und vergangene zeit
sind vielleicht gegenwärtig in künftiger zeit
und die künftige zeit enthalten in der vergangenen.
ist aber alle zeit ewige gegenwart,
wird alle zeit unwiderrufbar.
was hätte sein können, ist ein abstrakter begriff
und bleibt als stete möglichkeit bestehn
nur in der welt spekulativen denkens.
was hätte sein können und was wirklich war,
weisen auf ein stets gegenwärtiges ende."
(T. S. ELlOT)

der aspekt der zeit gebannt in die begrenzung mag als säkularisation des mythos erscheinen, dennoch ist er aller wahrscheinlichkeit nach der eigentliche grund für die vielen neubearbeitungen mythischer motive in der neuen literatur, und nicht erst in ihr.

1.2 Entstehung des Schauspiels

gesang und verhaltenes tanzschrittstampfen auf einer gepflasterten runden dreschtenne; ein festlied zu ehren, zu wes ehren auch immer. 50 chorenten vertreten die menschheit; zahllose götter in den ehrenlogen, die mehr oder weniger geneigten ohren in eine rechts, in eine links aufgestützte hand gelegt. doch selbst ihnen ist der genuß nicht rein, die veranstaltung geht zu ihren lasten, sie müssen zuhören (die schlimmste strafe für einen gott), sie sind selber nur ein teil der szenerie. 534! ante christum natum zieht ihnen zum ersten mal auf einem hautundknochenkuh-bespannten karren ein einzelner mensch entgegen, der erste schauspieler im schutze menschlicher stimmen. ein hymnos des chores empfängt ihn als legitimation seines unternehmens, dann wird er hinausgedreht in die öffentlichkeit, dem weltgeschehen vor die augen. allein gelassen beginnt er zögernd, bricht dann hervor in einem endlosen redestrom, flutet seinen mund und sein gedächtnis, redet, redet ohne abzusetzen, so als habe er nicht mut und kraft, noch einmal einen anfang zu wagen vor dem blick der götter. die wirkung ist ungeheuer. ein chorlied bekundet das. das stück ist aus.
das ist der ausgangspunkt. 76 jahre später folgt an der hand AISCHYLOS' ein zweiter schauspieler; mit SOPHOKLES ist endlich der bann, wenn auch nicht der himmel gebrochen. doch auch die klassische tragödie ist gottesdienst, gottestanz. und enthüllung, vollzug eines bewegungsprinzips alles lebendigen, welches durch sich selbst passiv bestimmt ist, das auch die götter zwingt als bestimmende macht: das schicksal.

1.3 Das Menschenschicksal droht von Anfang an

in den Trachinierinnen des SOPHOKLES ist die nähe zum ursprünglichen mysterienspiel noch deutlich spürbar. nur aus dessen relikten (relikte im hinblick auf die haupt- und spätwerke SOPHOKLES') läßt sich etwas über entstehungs- und aufführungszeit des stückes vermuten. offensichtlich gehört es zwischen Aias, die erste der sieben uns überlieferten SOPHOKLES-tragödien, und die Antigone. für die Antigone ist das aufführungsjahr 442 gesichert. wenn auch in der Antigone die diptychonform vorherrscht - die katastrophe Antigones und die Kreons - wie in den Trachinierinnen die Deianeiras und die des Herakles, so steht das werk doch schon auf einer nächsten entwicklungsstufe hin zur tragödienform des Ödipus tyrannos. die große einschweißende kraft des chorliedes: 'ungeheuer ist viel ... ' in der Antigone ist beweis dafür. nach rückwärts aus den Trachinierinnen hinaus weist vor allem die stationäre szenenform, im gegensatz zum 'reißen', zu den 'abschleuderungen', dem ausgetragenen dunkel der späteren werke. hier noch das bedingte ansichhalten, dort (in Ödipus, Elektra, Philoktet) das unbedingte aussichherausstellen. hier das punktuelle geschehen als starres gefüge, die strenge funktionalität des bestimmten einzelnen, dort der schattenhafte umriß des ganzen. hier die begrenzte situation, dort die wendungen, die einbrüche ins geschehen. an einer stelle des sophokleischen Philoktet, an der Herakles als deus ex machina auftritt, wird dieser unterschied so gefaßt:

zu tragen, was
zum schicksal gegeben, ist des menschen art (not)
doch was er sich mit willen selbst bereitet,
findet weder mitleid noch verzeihn.

mit anderen worten, im frühen SOPHOKLES-drama kommt der mensch gar nicht vor als die autonome geistgestalt. es ist eine welt ohne jenen menschen, der an der welt sich selbst bewußt geworden ist. seine freiheit ist nur die freiheit der notwendigkeit, der einsicht des notwendigen. was ihm an vermeintlicher möglichkeit des handelns bleibt, ist nur die erfüllung des bereits in der zukunft geschehenen.
nachdem in den Trachinierinnen der götterspruch in den ablauf eingespannt, ist alles folgende nur noch ein nachholen des bereits geschehenen. glied an glied fügt sich jetzt, ohne überschneidungen, ohne überlagerung, ganz ohne verflechtung, so daß man glauben könnte, es handele sich eigentlich um zwei voneinander unabhängige geschehnisse.
zunächst wird die 'tragödie' der Deianeira vorgeführt, dann die des Herakles. einander bedingende ereignisse werden nur in den reden - den agonen - mitgeteilt, kaum eine entscheidung fällt im dialog, gar im dreigespräch. die haltungen der vom fortgang betroffenen folgen ohne entwicklung aufeinander. keine rückkehr, kein umschwung. alles ereignis ist ganz außen. Herakles' toben gegen den äußeren feind entspricht dem völlig. sein wildes sichaufbäumen ist keine entwicklung des für und wider im sinne der entwickelnden dramatik, es ist nicht kampf, nicht aktion, vielmehr reaktion.
Herakles ist - hier im gegensatz zum rasenden Herakles des EURIPIDES - kein rebell, kein Prometheus, kein Luzifer und lichtbringer. was ihn vielleicht so erscheinen lassen mag, ist lediglich wirkung seines 'vitaldruckes', nicht gegenstimme. eher schon pathos. doch nachdem er das orakel verstanden hat, zeigt sich, daß "das vom schicksal ausgelöste pathos jenes selbstauslösende überholt".
dieses mächtige pathos hat bei SOPHOKLES seine sprache. keine blinde macht und anonymität. die sophokleische sprache hat sich immer schon ihres dämons versichert. nichts bleibt dunkel, kein rest des sprachlosen. das eben ist die anziehungskraft, die auf Pound ausstrahlt, wenn er vom harten sophokleischen licht, das wunden reißt, spricht. sie zeigt den götterwillen als macht im tun des menschen. des willens, der die ihm gestellte situation durchspielt, ohne variationsbreite. in strenger determination. in dieser konstellation geht das subjekt des menschen unter; der strom, der seine rede und sein leben trägt, schließt ihn ein in einen glasfluß, ins schicksal. von außen gesehen, erweist sich das leben des menschen dann wie ein abschreiten schon festgelegter fronten, ja er präsidiert geradezu seinem untergang, seinem fortgehen zu anderem. sehend zwar, aber er sieht umsonst, er bemerkt sich nicht von außen, er hat noch nicht den wunsch, die außenwände abzutasten, kennt nicht die sehnsucht der erlösung aus der notwendigkeit, sondern nur das bestreben, in ihr ganz aufzugehen. so meinen jene worte: es fügt sich alles ein, um deren willen nach Pounds anmerkung das stück existiert, eigentlich:

es ist eigentlich alles eingefügt, immer schon.

(bereits in der Antigone gilt das nicht mehr.)
das harte sophokleische licht, die sprache Pounds: einschleifen des menschen in den zusammenhang.

wie ist unter der last jenes folgenschwersten aller von den griechen entwickelten begriffe, der ananke, dennoch menschliche tragödie zu denken, wenn diese nicht darin bestehen soll, den machtbereich des mit ananke gemeinten zu durchbrechen. wenn dem gesetz noch nicht persönlichkeit entgegentreten kann. wenn das monumentale, das totale, das unergründliche des menschlichen ursprungs nicht zur überschreitung des menschenmöglichen führen. denn die taten des Herakles sind doch wesentlich eine folge seines körperbaus, allerdings auch seiner Zeussohnschaft, entsprechen weniger der mentalität eines großen überwinders. auch sein kampf mit dem Apollo von delphi um den melkschemel des geheimnisses macht dabei keine ausnahme. durch seine widerborstigkeit und grobschlächtigkeit steht er noch nicht außerhalb des menschlichen, obwohl es für ihn ziemlich gleichgültig ist, ob er aus liebe oder aus rache handelt. ja nicht einmal die qual vermag ihn sich selbst zu entfremden. obwohl doch der schmerz die einzige bewegung in ihm hervorruft, darin etwas zum äußersten schwingt.

Herakles: was hab ich nicht alles getan auf dem meere,
und das unterholz hab ich ausgeräumt,
raubtiere vertilgt
und jetzt lieg ich hier auf der folter
und da ist keiner, der mir den rest gibt
mit dolch oder feuer, keiner
der zu irgend etwas nutz wäre
oder mich auch nur in ruhe ließe.
hack mir doch einer den kopf ab
und hilf mir aus diesem verhaßten dasein.

hier ist ein weiterer ansatzpunkt für das Poundsche interesse an dieser tragödie und für die frage nach dem ausmaß des tragischen in ihr. steigt man herab aus dem überblick auf das ganze, in dem menschen und götter jeweils nur als momente angenommen wurden, herab auf den nacken des einzelnen menschen, der in seine geschichten verstrickt ist, so wird man in der körperlichen selbstauflösung, im versagen des selbstverständlichen und der ohnmacht ihm gegenüber die entsprechende dimension menschlicher tragik finden. was auch immer mit dem menschen geschieht, ist er losgelöst aus dem übergreifenden zusammenhang, der zielvorstellung alles geschehenden, dann erwächst ihm aus dem vergänglichen nichts rettendes. am ende steht immer der kadaver; nicht als exzeptionelles ereignis, sondern als phänomen, als zuständlichkeit. sein abwehrwille braucht gar nicht gestachelt zu werden, er muß sich damit abfinden, nicht bloß in düsterem fatalismus; wenn auch nicht gerade in einer umkehr zur bejahung, so doch in gelassenheit. wissend. wie Herakles es seinem sohne anempfiehlt:

und betoniere dein gesicht,
verschal's mit eisen, geh heiter durch das ziel,
selbst wenn dir nicht danach zumut ist.

von schuld zu reden, ohne es zu ahnen, sich zugrunde richten, bedeutet nicht alles. herbeiführen, ja geradezu herbeizwingen, was man herbeizuführen fürchtete. der ganze irrtum Deianeiras, ihre kurzschlußreaktion, ihr verschulden ist die folge ihres willens und bemühens, das ihr neue nicht kleinlich zu messen, alles reibungslos vonstatten gehen zu lassen, maß zu halten, nicht rache zu üben. ein übel nicht großzuziehen im hader mit den göttern. sich selbst in dinge zu stürzen, die sie nicht voll begreift. und untergrub damit das leben ihres heros. auch der, auch Herakles hat sich selber widerlegt, war er es doch, der das probate mittelchen, das blut des Nessus, mit dem Deianeira einen sanften hinweis auf sich selbst geben wollte, vergiftete. aus reiner eifersucht, als Nessus es wagte, Deianeira etwas fester anzufassen als nötig. alles handeln und erleiden läuft für sie in gleicher richtung. es ist ihnen nicht gegeben, nach außen zu stoßen. gleichzeitig aber befördert alles stillehalten und brave halten zu sich selbst ihren eigenen tod. auch der chor, dem man gerne die kraft und tugend des allgemeinen zugesteht als repräsentativem bewahrer, bleibt ohne antwort, ohne adresse. keine beratung, weisung, kein zugesprochenes hilfswort, nur eine begleitende stimme, die die entladungen der einzelnen menschlichen hallend wieder aufnimmt. härte und schärfe des sehenden steines. die götter haben nur einmal eingegriffen und setzten damit den menschen auf den weg zu einem ziel, das er auf dem gleichen wege auch zu vermeiden hofft. Zeus hatte bei der Perseusenkelin Alkmene einen wochenendurlaub verbracht als deren gatte Amphitrion. bei dieser begegnung wurde Herakles angelegt. als Zeus neun monate später im götterrat verkündete, der demnächst geborene nachkomme des Perseus solle herr über mykenai werden, unterbrach die eifersüchtige Zeusgattin Hera die geburtswehen Alkmenes und beeilte sich, inzwischen der Perseusschwiegertochter Nikippe zur geburt eines siebenmonatskindes zu verhelfen; eben jenes Eurystheus, dem Herakles dann 'die zwölf ernten' einzubringen hatte. nach diesem frondienst sollte ihm ewiger friede werden. er hatte den dienst abgetragen. war lange tot, bevor er starb. er wußte es nicht, wehrte sich auch nach manneskräften, es nicht zu wissen.

dies menschenschicksal droht von anfang an.

denn noch ist der mensch - nach ARISTOTELES - ebensowenig das prinzip und der erzeuger seiner handlungen wie seiner kinder. gleichsam zwischen den beinen der aufgerichteten Ananke, die die weltspindel mit planetensphäre und fixsternhimmel in ihrem schoße dreht, reduziert SOPHOKLES in den Trachinierinnen den menschen auf sich selbst, auf das ihm selbst handgreifliche: den körper, den selbstgefügten schmerz, das viehische leiden, die plackerei. diese liefern auch die strukturen, in denen wir eine objektivation des seelischen miterkennen. der ausdruck des körperlichen schmerzes ist auch der des ganzen menschen, auch der seines leidens an der selbstgefügten schuld. in dem lebenslänglichen harten netz, das er sich nicht selbst übergeworfen hat, dessen maschen er aber mit jeder bewegung enger zusammenzieht.

"doch das ist nicht der götter schuld, vielleicht doch ihre schmach."

denn anders als EURIPIDES und SHAKESPEARE - sagt REINHARDT - hält es der dichter SOPHOKLES - und Pound, fügen wir hinzu - mit den göttern, die die welt regieren,und steht nicht auf seiten dessen, was sich loslöst. Pound muß dort stehen, obwohl es eine schweinerei ist, was die götter treiben.

siehe auch: