Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
11.03.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
11.03.1995

Charaktergrün

Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen hat eine Denkfigur von Friedrich Nietzsche in die Charts gebracht; Nietzsche meinte: "Das Zeitalter der großen Ereignisse wird trotz alledem das Zeitalter der kleinsten Wirkungen sein, wenn die Menschen von Gummi und allzu elastisch sind." Woran dachte er?
An den Kleinbürger als neuen Tätertyp, der sich von großen Ereignissen nicht berühren läßt, weil er sie als solche nicht erkennt. Der beschränkte Horizont, den Nietzsche als sehr lebensförderlich pries, reduziert die Wahrnehmung für das Außerordentliche; man verweigert schlicht, etwas zur Kenntnis zu nehmen, was die eigenen Erwartungen und Vorurteile übersteigt. Ein gutes Polster vager, eigentlich nicht faßbarer Meinungen schützt vor der Durchschlagskraft brutalster Wahrheiten. Wer sich nicht auf Wahrheiten versteift, sondern je nach Opportunität mal dies, mal das für brauchbar hält, entwickelt große Anpassungsfähigkeit des Denkens und Urteilens unter Vermeidung hoher Risiken. Abschied von der Prinzipientreue und vom Grundsätzlichen, loose coupling bis zur Charakterlosigkeit schienen Nietzsche die Gewähr für die Vermeidung katastrophaler Folgen großer Ereignisse zu bieten.

Diese Weisheit hat das niedere Volk im Kampf mit übermächtigen Herren sprichwörtlich werden lassen: "Nichts ist so dauerhaft wie ein Flickwerk." Wo die Zeitgenossen sich derart elastisch gegenüber Wahrheitsansprüchen der Mächte zeigen, ist ihre Charakterlosigkeit die Voraussetzung für die Vermeidung aussichtsloser Konfrontationen.

Menschen ohne Eigenschaften nutzen unsere Anpassungsfähigkeit und unsere Verformbarkeit produktiv. Früh krümmt sich, wer den Schlägen entgehen will. Der Charakter- und Eigenschaftslose bleibt schwer greifbar; "versuchen Sie mal, einen Pudding an die Wand zu nageln." Nietzsches Umwertungsstrategie bewährte sich auch hier; was von den Schwarzkutten und den versteinerten Denkmälern eherner Grundsätze als Deformation von Pflichtbewußtsein verurteilt wurde, hielt Nietzsche für eine Tugend des Überlebenswillens.

Eulenspiegel und Simplicius Simplicissimus, die Hofnarren und die philosophischen Clowns hatten diese Tugenden professionalisiert. Die Sympathie, die ihnen das Volk auf Jahrmärkten und im Zirkus entgegensingt, enthüllt die heimliche Korrespondenz von Underdog und Witzfigur, die zuletzt noch lacht, wenn ihren Peinigern der Boden unter den Füßen längst schwankt.

Die Anpassungsfähigkeit ist das Maß aller Überlebensanstrengungen. Man akzeptiert die herrschaftliche Ordnung der Dinge formal korrekt. Aber das Maßband ist elastisch wie ein Urmeter aus Gummi, und das entspricht ja dem notwendigen Relativismus in der Alltagskommunikation. Was dem einen lang, ist dem anderen kurz; was dem einen sin Ul, ist dem anderen sin Nachtigall. Auf die Verhältnisse kommt es an, nicht auf die meßbaren Größen.

Bleibt die Frage nach den kleinen Wirkungen. Auch sie können sich zu großen Folgen aufsummieren, bis schließlich ein einzelner Tropfen das Faß zum Überlaufen bringt. Kleinvieh macht auch Mist, aber es dauert länger, und darauf kommt es an: Zeit zu gewinnen, aus der Zwanghaftigkeit des mechanischen Reagierens herauszukommen; Zeitgewinn für das ohnehin kleine Zeitkontingent des Lebens. Die Zeit elastisch werden lassen, unzeitgemäß werden, so Nietzsche. Auch das eine Strategie, sich nicht von modischer Zeitgemäßheit überfordern zu lassen.

Wir danken Joschka Fischer für diese begründete Stellungnahme zum Gestaltwandel grüner Politik.