Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
06.08.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
06.08.1994

FR v. 1.8.’94

Kein faustisches Genie, keine titanische Denkanstrengung, das erkannte Karl Kraus, war in der Lage, die Zeitgeschichte des Ersten Weltkrieges zu schreiben. Die Geschichte schrieb sich selbst in den O-Tönen der Zeitgenossen, die die Presse wiedergab. Sie stanzte die Fertigteile, die Kraus zu seinem Weltenepos ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ zusammensetzte wie ein Fabrikarbeiter am Fließband.
Heute hat jeder geistesgegenwärtige Redakteur das Verfahren von Karl Kraus im Kopfe - nicht als literarisch-redaktionelles Programm, sondern als Medienlogik, die sich von Zeit zu Zeit in Presseerzeugnissen verdichtet, die - absichtslos und autorlos wie ein Mythos - den Zeitgeist, die Weltlage vor Augen führt, als sei der Befund endgültig.

Von solchem Format war die Ausgabe der Frankfurter Rundschau vom Anfang der Woche, vom 1. August 1994, ein Dokument, ein Sammlerstück wie die letzten Tage der Menschheit, aber zugleich Programmheft des Weltentheaters, zu dessen Mitwirkung wir alle verpflichtet sind.
Das Auffälligste zuerst: Wie peinlich und kläglich die intellektuellen Konventionen, mit denen wir die Weit zu ordnen und der Wirklichkeit standzuhalten hoffen. Oskar Negt und Günther Grass bemühen immer noch den Widerspruch von Geist und Macht; dabei hat sich in diesem Jahrhundert der wissenschaftliche, literarische und künstlerische Geist selber als barbarische Macht manifestiert, die Wirtschaft und Politik weit radikaler vereinnahmte, als Geld und wohlgefälliges Strahlen der Präsidenten und Diktatoren, der Kanzler und Konzernherren jemals den Geist dominiert haben.
Zahlreiche Artikel dieser FR-Ausgabe belegen, daß wirtschaftliches Kalkül und soziale Integration, individuelle Überlebenssicherung und halbwegs garantierte bürgerliche Freiheiten gerade nicht die verläßliche Basis menschlichen Verhaltens bilden. "Verfolgung im Namen Gottes: Die Blasphemiegesetze - auch die Behauptung der Christen, Jesus sei der Sohn Gottes, kann als Blasphemie ausgelegt werden - vergiften nicht nur den Umgang der Menschen untereinander, sondern sie entwickeln sich auch zum größten innenpolitischen Problem Pakistans."
Wer das nur als Reflex auf ökonomische Bedingungen und politische Instrumentalisierung von Religion verstehen will, verweigert die Konfrontation mit der realen Macht des Geistes. Um so unausweichlicher "droht ein Konflikt der Kulturen. Der Westen betrachtet die Wirtschaften und Gesellschaften Asiens als Anhängsel seines Entwicklungserfolges", aber viele der Staaten (Japan, Malaysia, Indonesien, Singapur, Südkorea) sind technologisch und wirtschaftlich längst so erfolgreich wie der Westen. Deshalb sind sie "gegenüber der großspurigen Anmaßung einer selbsternannten westlichen Weltelite genauso allergisch, wie sie die Arroganz ihrer eigenen westlich geprägten Eliten verabscheuen". Asiens Regierungen setzen heute westliche Gesellschaften genauso unter Druck wie der Westen bisher den Osten und Süden.
Kohl, Czaja, Scharping und Anhang halten es nicht für nötig, mit diesen Realitäten zu rechnen. Ihre ideologischen Scheuklappen, der verblendende Geist, stützen zum Beispiel die "Forderung nach Selbstbestimmung und Heimatrecht der Landsmannschaft der Oberschlesier. Czaja kündigt den erbitterten Kampf an, auch für die Nachkommen der Deutschen in Oberschlesien die deutsche Staatsangehörigkeit, deutsche Schulen etc. durchzusetzen!". Wenn aber bei uns Türken, Kurden, Griechen, Polen oder wer immer den gleichen "erbitterten Kampf" um ihre hiesige Selbstbestimmung und ihr Heimatrecht ankündigen, dann bläht sich der deutsche kulturkämpferische Geist zur Empörung über solche Anmaßung auf, die man gerade eben selbst demonstriert hat.
"Kohl und Scharping und die Spitzen der Politik würdigen Cap Anamur" und andere Hilfsorganisationen, die jetzt in Ruanda und Dutzenden anderen Gegenden humanitär flicken sollen, was die Politik anrichtete; das ist der Geist, wie wir ihn beschwören, als Perversion. Wir zahlen Steuern für die Durchsetzung von Politik und spenden für die Desaster ihres geistsouveränen Selbstverständnisses.
"Abtreibungsgegner tötet Arzt", angebliches Entsetzen über erneute Anschläge auf Frauenkliniken. Unübersehbar ist die Tendenz zur Selbstermächtigung jeder Gruppe, der es nicht schwerfällt, die Superiorität ihres Weltbildes mit allen Mitteln durchzusetzen und sich dabei noch als Märtyrer großer Ideen vor allen gesetzestreuen Kleingeistern übermenschlich ausgezeichnet zu sehen.
"Das UNHCR-Büro in Moskau hält sich nicht an russisches Recht. Sie benehmen sich wie eine fremde Macht", so der Abteilungsleiter der russischen Einwanderungsbehörde, Die UN-Vertreter haben bisher aus eigener Machtvollkommenheit 17 000 Familien als Flüchtlinge "aus dem fernen Ausland" anerkannt, damit die russischen Behörden sie nicht ausweisen können und gezwungen sind, die Asylsuchenden finanziell über Wasser zu halten. Begründung: "Internationales Recht, bricht russisches!" Wir bestimmen. gegenübrr jedermann, was rechtens ist. Die Folgen dieser hochgemuten Rechthaberei tragen gefälligst die anderen.
Daß dergleichen Verhalten tatsächlich nicht aus wirtschaftlicher Not oder Rechtlosigkeit begründet ist, zeigt der Artikel über die Belegung neuer Sozialwohnungen in Frankfurt. Von 1292 Haushalten, denen das Angebot unterbreitet wurde, für DM 6.90 Kaltmiete eine der Wohnungen zu beziehen antworteten 550 überhaupt nicht, 210 Familien lehnten das Angebot ab, die meisten nannten keine Gründe. Jetzt will man die Hilfeberechtigten, die kein Interesse haben, verpflichten, die ihnen gewährte Hilfe tatsächlich anzunehmen. Die gesetzestreuen Helfer der Menschheit in Not würden sonst durch ihre eigene Klientel desavouiert. Schließlich wollen sie den Geist ihrer Politik bewahren, also alles "auf Dauer im Griff zu halten", So viel Selbsttäuschung hat nicht mehr tragische, sondern nur noch farcenhafte Züge von Selbstuntergehern.
Wer außer diesen Kleinstbeispielen aus der FR vom 1. August 1994 die weiteren Artikel der ersten 13 Seiten liest, hat das zutreffendste Bild unserer heutigen Lage - eine grandiose Leistung journalistischer Topdesk-Selektion. Ein Karl Kraus ist nicht mehr vonnöten. Unser Fall erledigt sich, wie es der sich selbst aushebelnde Rechtsstaat befiehlt.