Buch Die Spielstadt
Perspektiven auf ein pädagogisches Phänomen
Perspektiven auf ein pädagogisches Phänomen
Seite 179-182 im Original
Eine der erstaunlichsten Entwicklungen der europäischen Kulturgeschichte offenbart sich in der gleichzeitigen Entdeckung der Kindheit als eigengesetzlicher Lebensphase von Individuen und des kollektiven Zusammenlebens in demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnungen. Beide Erfindungen sind für die gesamte Welt wirksam geworden, wenn auch der Kampf gegen die Arbeitsversklavung von Kindern und der Kampf um soziale Gerechtigkeit noch lange andauern werden.
Kindheit ist nicht eine Lebensphase unter anderen, Kindheit verläuft nach ganz eigenen Regeln der seelischen, geistigen und körperlichen Entwicklung von Menschen. Demokratie ist nicht eine unter beliebig vielen anderen Ausprägungen des menschlichen Zusammenlebens, sondern die bis dato einzig erdachte Ordnung, durch die die Gleichheit aller Menschen in Freiheit faktisch werden kann. Die Denker der Freiheit schlugen für beide Formen der menschlichen Entwicklung die gleichen Stimuli vor: das Lernen durch Nachahmen, das eigenständige Üben und das Streben nach Selbstoptimierung. Das als Einheit gesehen, hieß und heißt, gebildet zu werden, sich zu bilden und als Gesellschaft der Gebildeten das Beispiel für eine Zivilisation, eine Weltgemeinschaft jenseits der einzelnen Kulturen mit ihren Sprachen, Letztbegründungssystemen im Glauben und ihren so verschiedenen Sitten und Gebräuchen zu geben.
Von Kindern lernen? Nicht nur aus der Parallelität von Individualentwicklung und kollektiver Realisierung von Freiheit im Zusammenleben lassen sich Wechselbeziehungen bestimmen. Häufig hört man weit über die spezifische Lebensreformbewegung hinaus, dass sich Erwachsene durchaus die kindliche Spontanität wieder zutrauen sollten, die Unbefangenheit des Blicks, die Entdeckerfreude und Eigenständigkeit von Kindern in der Eroberung ihrer Lebenswelt. Genau so häufig erfährt man von erfolgreichen Eltern, dass von den Kindern eine größere Kraft zur Entwicklung von Familienleben ausgehe als von den Erwachsenen. Sprichwörtlich ist die Beobachtung Außenstehender, wie sehr doch Kinder ihre Eltern erzögen und durch entsprechende Herausforderung vitalitätssteigernd wirkten.
Die Einflussnahme des Nachwuchses auf die Eltern beginnt bereits beim Baby, das schnell lernt, durch entsprechende akustische Äußerungen eine erwünschte Reaktion der Mutter bzw. der Erwachsenen zu erreichen. Wir nennen das „learning by crying“.
Trotzköpfchens nervende Demonstration, ganz eigenständige Urteile, Willensbildungen und Auffassungen durchsetzen zu wollen, ist als „learning by denying“ für den Erzieher häufig Anlass, seine eigenen festgefügten Vorgehensweisen zu variieren.
Dann versuchen Kinder, im „learning by lying“ ihre intellektuellen Fähigkeiten zu demonstrieren, indem sie genussvoll ihre Eltern hinters Licht führen. Das nennt man unfreundlicherweise Lügen. Aber wie glücklich sollten Eltern sein, durch die Fähigkeit, ihrer Kinder zu lügen, deren gesunde kognitive Entwicklung bestätigt zu bekommen!
Schließlich ist aus dem jugendlichen Selbstvertrauen im „learning by trying“ aus Versuch und Irrtum sogar ein prinzipielles Verfahren der menschlichen Welterschließung geworden.
Immer wieder wurde vorgeschlagen, die kindliche Weltoffenheit, das natürliche Gerechtigkeitsempfinden, die Vorurteilsfreiheit und kommunikative Gewandtheit von Kindern zum gültigen Vorbild gesellschaftlichen Lebens zu erheben. Die entsprechenden Versuche reichen von der Etablierung von Kindern als Verwaltungsleitern mittelalterlicher Universitäten bis zur 68er-Forderung „Kinder an die Macht!“, deren heutiges Abbild viele in der Fridays-for-Future-Bewegung sehen. Das ist von Seiten der Jungen nicht unbegründet, denn schließlich geht es um ihre Zukunft.
Auch wenn man noch nicht von ihnen hörte, dass sie sich durch Forderung nach Abschaffung des Erbrechts und der Jugendstrafgesetze gegen Ungleichheit zur Weht setzen wollen, steht doch eins fest: Einen größeren Unsinn, als ihn etwa die gelehrte wilhelminische Gesellschaft hochgebildeten Bürgertums zu Papier brachte und Wirklichkeit werden ließ, können selbst die unbedarftesten aller Kinder nicht zustande bringen. Und diese Barbarei von 1914 war und ist umso brutaler, als Machtprätendenten gerade Jugendliche zu Trägern ihrer Ideologien zu machen wussten. Von den Kinderkreuzzügen über die Wandervogel-Bewegung und die Pfadfinderei bis zu den schlagenden Langemarck-Studentenverbindungen legitimierten machtvolle Erwachsene ihre Ziele, indem sie Jugendliche zu deren Verfechtern erzogen. Deren heutige Pendants im Konsumerismus haben eine weit größere soziale Mächtigkeit erreicht als Jugendorganisationen totalitärer Ideologien. „Learning by buying“ der jungen Leute ist heute renditestärkster Faktor, denn die Werbung auch für den Absatz von Waren an Erwachsene läuft vornehmlich über das Vorbild von Jugendlichkeit, von Frische und uneingeschränkter Aktionslust. In der Entfaltung des Konsums als Kult zeigt die Wirtschaft, wie sehr sie von Eigenschaften der Jungen bestimmt wird. In heutigen Bewegungen wie Fridays for Future versuchen die Jungen, den etablierten Ideologen die Lizenz zur kapitalgetriebenen Vermarktung von Jugendlichkeit zu entziehen.
Den größten Einfluss der Erfindung der Kindheit auf die moderne Gesellschaft hat man zweifelsohne in der Entwicklung der Spieltheorie z.B. für die Wirtschaftswissenschaften anzuerkennen. Man entdeckte schon früh mit Schillers Formulierung „… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, dass das Spielen eine ernste Sache ist. Alles freie Handeln besteht ja in der Wahl zwischen Möglichkeiten oder sogenannten Optionen. Wer keine Optionen hat, kann nicht spielen, sondern folgt Sachzwängen ohne Möglichkeit der eigenen Einflussnahme.
Aus dem kindlichen Spielen entwickelte sich die Auffassung, spielerisch lasse sich die Fähigkeit entfalten, Handlungen im Blick auf nicht erwünschte Resultate einfach zu wiederholen, ohne die negativen Folgen einer verfehlten Handlung ertragen zu müssen. Wie Kinder ganz ernsthaft im Spielen bei der Sache sind, obwohl sie wissen, dass sie es nur mit einem Spiel und nicht mit dem ¬Ernstfall zu tun haben, verhalten sich aber alle Kinder so, als ginge es um den Ernstfall. Wer dagegen verstößt, durch Mutwillen oder Egomanie, darf nicht mehr mitspielen. Wie gesagt, das Spielen der Kinder schärft den Sinn für ein Tun „als ob“ im vollen Bewusstsein, d.h. der ernsthaften Anerkennung der gültigen Spielregeln. Um die Verfahrensweisen nach Spielregeln geht es, innerhalb derer erst Geschicklichkeit, spekulatives Voraussehen und psychologische Erfahrung zur Geltung kommen können.
Zweifelsohne ist mit der Etablierung der Börsen die wirkmächtigste Interpretation des Kinderspiels als sozialer Ernstfall etabliert worden. Das Verhältnis von Potentialität und Realität, von Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmte immer schon das menschliche Handeln im Blick auf zukünftige Konsequenzen eben dieses Handelns. Wer sich in der Bestimmung dieses Verhältnisses nicht spielerisch von Fall zu Fall zu bewegen vermag, sollte z.B. an der Börse nicht mitspielen. Er empfände es sicherlich nicht als Trost, von seinen Mitspielern zu hören, dass das Auf und Ab, die ewige Hausse- und Baisse-Spekulation ja nur ein Spiel sei. Gelernte Börsianer gestehen genau das ein und das können sie, weil sie durch Absicherung nach beiden Entwicklungsrichtungen Intelligenz im Spiel des Lebens zeigen.
Nach dem eben Gesagten dürften alle Förderer von Mini-München erwartungsvoll auf eine erste wissenschaftliche Großtat hoffen. Sie bestünde darin, nach anerkannten Spielregeln festzustellen, ob Kinder damit einverstanden sind, dass der Ernst des Lebens, also die Wirtschaft, im wesentlichsten, also entscheidenden Aspekt von den Regeln des Kinderspiels bestimmt sei. Vorversuche gab es schon, aber nur von dummdreisten Koof-michs, die Kindern die Lust an der Börsenspekulation beibringen wollten, um den Aktienbesitz in Deutschland zu popularisieren. So hat Mini-München gewiss nicht gewettet, denn die Erfindung der Kindheit im 18. Jahrhundert sollte ja gerade die Eigenständigkeit der Kinderwelt gegenüber der der Erwachsenen sichern. Deswegen ist Mini-München nicht als ein Abbild der gesellschaftlichen Realität als ganzer gedacht und ermöglicht worden, sondern als ein Experimentierfeld der anderen Wahlmöglichkeiten. Spielen heißt eben zu zeigen, dass es immer andere Möglichkeiten gibt. Gäbe es sie nicht, wäre die Freiheit verloren und jedes Spiel als bloßes Herumspielen verboten.
Spielen als Wahl zwischen Alternativen bei möglichster Vermeidung von irreversiblen Schäden begründet die Hoffnung, es immer wieder besser machen zu können, indem man es anders macht. „Auf ein Neues“ heißt aber nicht, nur auf eine günstige Konstellation des Zufalls zu warten, sondern die günstigere Ausgangslage durch Rückgriff auf andere Möglichkeiten selber zu erschaffen. Das Hoffen auf 6 Richtige im Lotto ist gerade kein Spiel, obwohl Lotto überall als Lottospiel propagiert wird. Neues Spiel hieße, sich zu neuem Aufbau eines Spiels von Möglichkeiten überzeugen zu lassen.