Rhetorikoder: Führende Worte
Seit langem ist in Deutschland gut beraten, wer Stottern als Kunstform ausbildet und quälende Unbeholfenheit als Beweis seiner gedanklichen Schwerarbeit zur Geltung bringt. Ja, und dann die Gefühle. Klarheit der Gedankenführung deutet auf emotionale Kälte hin und die wiederum auf Desinteresse an dem Allzumenschlichen, denn jeder Hörer will von seinem Seelenführer vor allem eines hören: "ego te absolvo"; vor Dir und Deinen Taten zwinkern wir nicht nur einvernehmlich mit dem Auge, sondern drücken beide zu.
Natürlich weiß das alles Johannes Rau, und in diesem Wissen hielt auch er unmittelbar nach der Präsidentenwahl eine Rede vor den SPD-Wahlleuten, in der er sagte: "Wenn die BürgerInnen ... allen Politikern abspürten, daß es nicht zuerst darum geht, ob unsere Gedanken richtig sind, sondern daß wir sie mögen und daß wir deshalb Politik machen und daß wir darum neue Gedanken suchen..." Inhaltlich scheint dies auf die biblische Weisheit zu verweisen, daß es nichts hülfe, wenn wir die ganze Welt gewönnen, aber sie nicht zu lieben vermöchten. Als rhetorische Figur zielt sie auf den Konsens mit den Zuhörern beim Eingeständnis des gemeinsamen Scheiterns, also in einem kritischen Moment. Wer das aber, ganz deutsch, gerade nicht als Rhetorik nimmt, setzt sich einer intellektuellen Zumutung aus, Scheitern als höhere Form des Gelingens bedenken zu sollen. Nur die Kraft, das Scheitern sich selbst zuzuschreiben und die Erfahrung von Ohnmacht vorbehaltlos anzunehmen, eröffnet eine Perspektive auf die Zukunft: dann suchen wir nach neuen Gedanken.
Heinemann hatte gemeint, man könne nicht die Menschen, sein Volk, die Welt lieben, sondern nur seine Frau. Rau schwächt das Lieben zwar auf Mögen ab, aber er sagt, daß man die lieben sollte, für die Scheitern und Ohnmachtserfahrung die Lebensperspektiven bestimmen. Von der Politik der Machtgesten und des selbstbewußten Auftrumpfens von Siegern führt solche Liebe zur Suche nach neuen Gedanken, aber nicht notwendigerweise zu den richtigen, mit denen man endlich auch siegt. Denn Nächstenliebe statt Politik, das wäre nun wirklich reine Rhetorik.