Radiobeitrag Deutschlandradio Kultur

Erschienen
14.08.2009

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Deutschlandradio Kultur

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Thema

„Generalstabsmäßig organisierte Massenphänomene“

Bazon Brock im Gespräch mit Klaus Pokatzky

Kunstvermittler Bazon Brock äußert sich über Großveranstaltungen 40 Jahre nach Woodstock und die davon ausgehende Faszination.

Klaus Pokatzky: Was war dieses Woodstock denn nun wirklich? War es vom 15. bis zum Morgen des 18. August 1969 nur ein riesengroßes Happening in Sonne, Regen und Schlamm, das schon bald die jugendlichen Ohren auch in Bochum, Böblingen und Bremen zum Glühen brachte? War es ein Urknall des Pop als erste Globalisierungsnummer? Wie politisch war das? Diese Fragen wollen wir nun klären mit einem, der in Deutschland praktisch und theoretisch die Popkultur begleitet hat und begleitet wie nur wenige. Am Telefon begrüße ich nun den emeritierten Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Universität Wuppertal, Bazon Brock. Guten Tag, Herr Brock!

Bazon Brock: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Brock, Sie waren an diesen drei Tagen und drei Nächten Woodstock ja schon ein erwachsener Mann und damals Professor für nichtnormative Ästhetik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Wie haben Sie denn Woodstock damals aus der hanseatischen Ferne erlebt und empfunden? Was war Woodstock für Sie?

Brock: Es war die Erfüllung einer Prophezeiung unseres Lehrers Theodor W. Adorno an der Frankfurter Uni, bei dem auch ich Ende der 50er-, Anfang 60er-Jahre studiert habe. Und diese Prophezeiung hieß: Der Faschismus wird nicht wiederkehren in Gestalt brauner Schlägertrupps, die die Öffentlichkeit tyrannisieren, sondern es wird wiederkehren in Phänomenen der Massenkultur, demokratisch legitimiert, und das wird erst die Katastrophe bedeuten, die sich mit der faschistischen Barbarei bereits angedeutet habe, aber weiß Gott nicht auf ihrem Höhepunkt gewesen ist.

Pokatzky: Also, Moment: Massenkultur dann jetzt sozusagen als ein Wurmfortsatz des Faschismus?

Brock: Ja, das … nicht so gesagt, sondern wenn faschistische Gesinnung sich darin ausdrückte, dass man massenweise Jugendliche organisierte, zum Beispiel in der HJ und anderen Formationen, dann bedeutete das die Auslöschung von Individualitätsansprüchen bei den einzelnen Menschen.

Pokatzky: Aber was hat Woodstock jetzt mit dem Faschismus zu tun?

Brock: Ja, das ist doch wohl sehr einleuchtend: Wenn sich Tausende junger Leute besinnungslos in einen Ausdruck kollektiver Ekstase integrieren lassen, sodass nur noch eine wimmelnde Masse von bewusstlosen, auf Musikakkorde reagierenden Pawlowschen Hunde in Erscheinung traten, dann war das für uns – auch aus persönlicher Erfahrung, wir sind ja noch Kriegskinder gewesen – etwas wie der Schrecken der Barbarei schlechthin.

Pokatzky: Herr Brock, darf ich mal fragen: Waren Sie mal auf einem Katholikentag oder einem Evangelischen Kirchentag?

Brock: Ja, das ist uns genauso unappetitlich vorgekommen. Ich habe noch deutlich in Erinnerung, wie wir in den Schulklassen in der Mitte 50er-Jahre, kurz vor dem Abitur, diskutiert haben, dass es uns sozusagen allen völlig selbstverständlich war, uns nicht mehr Massenorganisationen, Massenevents anzuschließen, denn das – das hat man uns ja nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt – war der Inbegriff der faschistischen, totalitären Erfassung aller Seelen und Gemüter.

Pokatzky: Herr Brock, ich – darf ich auch was beitragen aus meiner Schulzeit –, ich war zu Woodstock ein kleiner Schüler in Bochum, und ich erinnere mich, dass wir von einer bestimmten Lehrergeneration, die in der Tat vom Faschismus geprägt war, dass wir, wenn wir lange Haare und Jeans trugen und Woodstock für uns natürlich ein Fanal, eine Initialzündung war, dass wir dann nicht versetzt wurden, teilweise von der Schule geworfen wurden. Waren wir dann nicht sozusagen eher die Opfer?

Und wenn Sie sich einmal angucken, der pazifistische Hintergrund, (…), die den großen Auftritt in Woodstock hatte – können wir das dann nicht vielleicht auch politisch ein bisschen anders umbiegen?

Brock: Ja, natürlich. Es wurde ja umgebogen. Sie sehen ja die Mainstream-Auffassung ist ja ganz in Ihrem Sinne: Freiheitsbewegung, Anti-Vietnam-Bewegung, hier ist der …

Pokatzky: Bürgerrechtsbewegung.

Brock: Bürgerrechtsbewegung, USA. Das ist ja alles längst durchgesetzt. Man brauchte das ja nicht zu wiederholen, wenn das der Fall wäre, wo soll das Problem liegen? Man muss sich entweder an die Bedeutungen halten, die das für einzelne Leute programmatisch hatte – und das war ganz eindeutig, das war ein Geschäftsunternehmen und gar nichts anderes, überhaupt nichts.

Ganze Popbewegungen, alle diese Massenkonzerte sind generalstabsmäßig organisierte Massenphänomene, bei denen Hunderte von Mitarbeitern eingesetzt werden, um noch die letzten Beleuchtungseffekte hinzukriegen. Von Spontaneität, von freiheitlicher, individualistischer Ausdrucksform kann dort überhaupt gar keine Rede sein. Das ist, auf dieser Ebene der Interessenleitung ist es ein Geschäftsunternehmen, das perfekt, wie die Fußballstadien ja auch, organisiert wird.

Es ist dasselbe, als wenn Sie behaupten würden, Fußballvereine seien noch wie 1890, als sie so überall aus dem Boden gestampft wurden, noch freiwillige Zusammenschlüsse amateurhaft-spontan ihrer sportlichen Leidenschaft nachgehender Menschen. Alles Quatsch. Und dasselbe gilt für die Popkultur, das ist organisierte Massenkultur, strategisch, wirtschaftlich, und wir wissen wenigstens doch von heute ab rückwärts, dass diese gesamte angebliche Freiheitsbewegung nichts anderes ist als Kalkulationsmasse von wirtschaftlichen Spekulanten.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Kulturwissenschaftler Bazon Brock über das Festival von Woodstock. Aber wenn wir uns Woodstock ansehen, wenn wir an die damalige politische Zeit denken, wir denken an den Vietnamkrieg, wir denken an die Bürgerrechtsbewegung, und wir sehen, heute haben wir einen schwarzen amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus, der gefördert wurde, getragen wurde gerade auch von Menschen, die in Woodstock sozialisiert wurden, die mit der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung politisiert wurden und der Bürgerrechtsbewegung – können wir das da wirklich alles nur so jetzt in diese kommerzielle Kapitalismusecke abschieben, Herr Brock?

Brock: Das tun wir ja gar nicht. Wir sagen, dass die Wahl Obamas ein Meilenstein in der geschichtlichen Entwicklung westlicher Demokratien ist, steht völlig außer Zweifel, wir sagen nur, dass das nicht eine direkte Konsequenz der Popkultur und ihrer Industrieimperien darstellt. Sie sehen, wie schnell das alles wieder verflüchtet wird, jetzt hat Obama, ein halbes Jahr in der Regierung, bereits die schlechtesten Umfragewerte aller Präsidenten nach einem halben Jahr.

Das ist alles nur nachträgliche Legitimation, in der Substanz hat das mit den Aspekten der Freiheit und der Gleichheit, der Brüderlichkeit nicht das Geringste zu tun. Das heißt nicht, dass es einzelne Menschen gibt oder es wahrscheinlich sehr viele Einzelne die Meinung hatten, dass sie darin ihren individuellen Ausdruck von Zustimmung für demokratische Freiheiten zum Ausdruck bringen.

Pokatzky: Aber vor 40 Jahren! Ist das nicht gerade ein Ausdruck, dass wir in der heutigen Welt vielleicht sehr viel toleranter und liberaler umgehen mit anderen Menschen, die vielleicht nicht so gekleidet sind, die nicht die Frisur haben wie wir? Hat Woodstock da nicht auch – und dann natürlich auch politische Ausflüsse auf Studentenbewegungen – dazu beigetragen, dass wir insgesamt als Gesellschaft heute viel liberaler sind?

Brock: Es gab ein berühmtes Beispiel, in den früheren Jahrzehnten hat man gesagt, Sport pazifiziert, Sport verbindet international. Gucken Sie sich mal heute die Schlägerei der Hooligan-Clubs an in Sportvereinen, da kommt doch nun niemand mehr auf die Idee, emphatisch die Ideologie von einem großen, freiheitlichen Spontanausdruck sportlicher Begeisterung zu sprechen.

Und wenn wir uns auf dieser oberflächlichen Ebene weiterbewegen, dann ist der Hinweis auf Toleranz nichts weiter als ein Koofmich-Argument. Wir sind so großartig, so tolerant et cetera – als Ausdruck unserer kulturellen Entwicklung? Nein!

Heute ist Toleranz ein Ausdruck von Gleichgültigkeit. Oder dass Leute bewusst sagen, mich geht das nichts an, lasst mich in Ruhe, ich will damit nichts zu tun haben. Es ist der Ausdruck von subjektivistischer Beliebigkeit, das heißt, nicht mehr verpflichtet zu sein auf Teilnahme.

Gucken Sie sich doch mal jetzt die Entwicklung der Linken oder der SPD an: Wo sind denn alle diese großartigen, freiheitlich gesonnenen jungen Menschen, die dem wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt ihr Leben weihen wollten? Wo sind die denn?

Die krebsen da unten an ein paar Prozentpunkten, und selbst die SPD als Massenpartei unter Willy Brandt ist jetzt auf 20 Prozent abgesackt. Also, es kann ja alles gar nicht stimmen, was da über Toleranz und über Ausdruck von Freiheit und Einsatz geschrieben wird.

Pokatzky: Herr Brock, finden Sie gar nichts Positives an Woodstock?

Brock: Ja, selbstverständlich, die Erfahrung der Enttäuschung, das ist sehr positiv gewesen. Die Leute, die da im Dreck gelegen haben, die das Ganze als ein Desaster der Desorganisation et cetera erlebt haben und gleichzeitig hinnehmen mussten, das sei der Ausdruck der größten Freiheit und Freude gewesen, die haben für ihr Leben was gelernt.

Pokatzky: Also doch Desorganisation und nicht so gut von der kommerziellen Popindustrie organisiert?

Brock: Eben, eben. Also, man kann nur sagen, dass es ein großes Ereignis war insofern, als es den Beginn der großen Enttäuschung einleitete, und das ist die Quelle der Aufklärung. Alle Aufklärung kann nur Enttäuschung sein und nicht positives Übernehmen von Postulaten. Und die Enttäuschung über die Euphorie der Popbewegung, über die Freiheitsbewegung, über das Pathos des Einsatzes und so weiter, das ist der wahre Gewinn. Die Desillusionierung darüber, dass das ebenso wenig bringt wie organisierte Parteipolitik, eine HJ oder FDJ oder sonst etwas, dass es da keinen Unterschied gibt im Hinblick auf die soziologischen Konsequenzen – das ist die wahre Aufklärung.

Insofern hat sie wirklich etwas gebracht, wir können nicht fliehen in paradiesisch-exotische Vorstellungen von individualistischem Freiheitsausdruck durch Haarschnitt und Kleidung, und wer das glaubt, dass Haarschnitt und Kleidung der Ausdruck politischer Leistungsfähigkeit und intellektuellen Vermögens ist, der sollte wirklich nicht mehr in der Öffentlichkeit großartige Debatten führen.

Pokatzky: Danke an Bazon Brock für dieses Gespräch, 40 Jahre nach dem auch Chaos von Woodstock. Schönen Tag noch. Tschüss!

Brock: Bitte, bitte!