Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
23.04.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
23.04.1994

Abraham

Es hat lange gedauert, bis man nicht mehr, um die Freiheit der Künste zu verteidigen, jedem zur Seite springen mußte, dessen Malereien oder Texte der verfolgenden Empörung von Leuten ausgesetzt waren, denen die ganze Richtung der Moderne nicht paßte. Heute hat man akzeptiert, daß die röhrenden Hirsche der abstrakten Kunst genauso zahlreich sind wie die herkömmlichen Gemütsdekors der Kaufhauskunst. In der Kunst geht es nicht mehr um den Gesinnungsbonus der Modernität, sondern um Unterscheidungsfähigkeit und ästhetische Qualität.

Wie lange wird es noch dauern, bis auch in der politischen Debatte Gesinnungsloyalität nicht mehr blind gewährt wird, um jedes Argument zu rechtfertigen, mit dem jemand die rechte Gesinnung zu verteidigen behauptet? Wenn Ignatz Bubis die "Ächtung" des Herrn Schönhuber anmahnt, mag man das als situationsbedingte Reaktion übergehen. Wenn aber bürgerliche und linksliberale Journalisten den Ruf nach Ächtung als "angemessene Reaktion auf den permanenten Versuch der antisemitischen Hetze" darstellen, darf man wohl darauf hinweisen, daß sie das gleiche tun, was sie ihren politischen und gesellschaftlichen Gegnern vorwerfen: mit den gleichen Folgen.

Ralph Giordano, ein ausgewiesener Analytiker der Ideologie des Deutschseins, kennzeichnet einen Oberstaatsanwalt als einen "emotionslosen Ochsenfrosch, dem die Untat ins Gesicht geschrieben stand". Gleich, welche Untat er meinte, jene der unterlassenenn Strafverfolgung eines SS-Aufsehers oder die Untat des SS-Aufsehers selbst – diese im Brustton vermeintlich gerechtfertigter Empörung gegen Unrecht vorgetragene Identifizierung eines Unliebsamen in dummer Stürmer-Manier erfüllt ihrerseits den Tatbestand, gegen den sie vorgetragen wurde; denn was wäre rassistischer als zu glauben, man könne jemandem vom Gesicht ablesen, wer er sei und wie er denke?

Eben deshalb steht es uns nicht zu, Bubis, Giordano oder irgendwen sonst zu ächten oder nach ihrem Gebaren als Gesinnungseiferer zu stigmatisieren. Wir hätten hinreichend Gelegenheit, uns in ihnen zu erkennen, um so mehr, als sie bereit sind, sich zu korrigieren, wie Bubis das gerade getan hat. Radikalisierungen im Guten (Tugendterror) wie im Bösen (ein Ende im Schrecken) können uns wohl doch die Augen dafür öffnen, daß wir rettungslos verloren sind, wenn wir uns der Mittel bedienen, gegen die wir uns zur Wehr setzen wollen. Jemanden als Faschisten oder Rassisten zu bekämpfen, hat erst tatsächlich Bedeutung, wenn wir uns selbst als latente Täter erkennen, als Retter der Welt, als Missionare heiliger Ordnungen.

Kein Faschist ist nur, wer von sich weiß, daß er durchaus einer sein könnte. Kein Faschist ist, wer zu vermuten vermag, daß auch er töten könnte im Namen der Liebe; daß auch er der Endgültigkeit und Endlösung zuführen möchte, was kein Ende haben darf; daß auch er foltern würde, um die Wahrheit zu ermitteln oder um sein Leben zu retten; kein Faschist ist nur, wer weiß, daß er dennoch dergleichen nicht tun darf, selbst wenn alle anderen es tun, unter dem angeblichen Zwang des Systems oder im Gehorsam gegen ihren Gott – wie unser Vater Abraham, der latente Faschist, den Gott selber daran hinderte, sich als solcher im Opfer seines Sohnes zu beweisen.