Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
11.12.1993

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
11.12.1993

Traum Haft

"I have a dream": Nach dem nächsten, dem finalen Rettungsversuch aus dem allseits floatenden Chaos sitze ich mit jenen Brüdern im gleichen Zellentrakt, die bereits jetzt ihre Bigotterie in Unschuld baden.
Also Freßnapfgemeinschaft mit Cohn-Bendit, der Oktober '93 treuherzig bekundet: "Ich war immer schon gegen die Multikultur."
Zum Appell im schlotternden Glied mit Tom Koenigs: "Meine Arbeit als Frankfurter Kämmerer habe ich nicht zu verantworten - hinter mir stand ja mein Berater von der Deutschen Bank, der mir sagte, wo's langgeht!"
Morgenandacht auf dreckglitschigem Zementboden mit Friedensfürst Friedrich Schorlemmer: "Ich wollte ja gleich Deutschland in einem Freudenfeuer aufgehen lassen - den Flammen übergeben die staatsfeindlichen Schriftakten der Dissidenten, Republikaner, Bürgerrechtler.
Hilfscapo Peter Schneider muntert beim Latrinenputzen mit dem Bekenntnis auf: "Die ganze antiautoritäre Erziehung war ausgemachte Scheiße; aber ich wurde von linken Medien jahrelang gezwungen, sie für die Befreiung von reaktionären Sekundärtugenden zu halten."
Werner Herzog, Umerziehungsdokumentarlst des Lagers, projiziert nächstens Halluzinationen auf die nackten Zellenwände: "Wir wollten als reine Kulturfilmer doch auch einmal so mächtig sein wie Hollywood. Schade."
Diedrich Diederichsen heult dazwischen: "Ich hatte ausdrücklich gewünscht, daß weiße Rassisten und Machos meine Spexartikel nicht lesen!"
Dann kommt Flüsterpropaganda durch. Gregor Gysi hat per Glaubensbekenntnis Bärbel Boley einweisen lassen. Schmalz-Jacobsen sitzt im Frauentrakt, weil sie sich weigerte, im Parlament den Tschador zu tragen, Heiner Geißler soll den linken Wächtern des rechten Glaubens ein Angebot gemacht haben; er wolle durchs Lager rufen: "Das sind alles Hochverräter, habe ich immer schon gesagt."
Bekanntmachung über Lagerlautsprecher: "Die Beunruhigung nach rückwärts bindet Kräfte, die zur Gestaltung der Gegenwart benötigt werden. Wer immer mehr Verstrickungen aufdeckt, zwingt immer mehr Menschen, sich mit der furchtbaren Vergangenheit zu beschäftigen. Das ist ein Verbrechen gegen den sozialen Frieden!"
Unter den Zellensprechern bricht ein peinigender Sprachenstreit aus, Günter Nenning besteht darauf, auch österreichisch als Amtssprache zuzulassen. Die Exilukrainer weigern sich, russisch zu verstehen. Die Asylvertreter der sozialistischen Befreiungsbewegungen in Kurdistan, Afghanistan, Palästina, Iran, Sri Lanka etc. verlangen Gleichberechtigung ihrer Muttersprachen im offiziellen Verkehr mit der Lagerleitung.
Burkhardt Hirsch entwirft eine Lagerordnung, die strikt untersagt, kriminell beschafftes Eigentum einzuziehen. Hirsch: "Nicht mit der FDP."
Claus Leggewie schreibt heimlich auf den Resten seines ehemals weißen Unterhemdes einen verschlüsselten Essay. Titel: "Meine Geschichtsfälschung aus gutem Willen vor 1492 im südlichen Spanien."
"Ein Tag im Leben des Gulag West" heißt unterdessen die Revue von Peter Zadek, die er uns im Geiste der 70er Jahre vorsummt. Peter Stein protestiert: Er habe niemals politisch engagiertes Theater gemacht, alles Kritikerlügen. Er sei ein bescheidener deutscher Stadttheaterdirektor gewesen, der nur versucht habe, diese großartige Institution der Bourgeoisie zu erhalten. Zum Beweis schüttelt er einen Fetzen Zeit aus dem Ärmel. Zeit-Feuilletonchef Greiner jedoch distanziert sich: Er habe immer schon die ganze Moderne im Theater, in der Malerei und im sonstigen Getue als Gaunerei von Kulturschwätzern und perfiden PR-Karrieristen dargestellt. Zum Beweis präsentiert er ebenfalls einen Fetzen Zeit, Nov. '93, den er gerade auf der Latrine benutzt habe.
Schließlich eine überzeugende Intervention von Heiner Müller. Er habe wohl hinreichend bewiesen, wie man Lobgedichte auf Stalin schreiben, Staatspreise aus Diktatorenhänden empfangen, mit Stasischergen plaudern und zugleich für diese Leistungen sich im Feindesland verkommener Kapitalistenstrizzis als Kulturgröße auszeichnen lassen könne, unter dem Jubelgeheul der Theaterkritiker. Er werde es auch diesmal schaffen. "Kopf hoch, ihr Arschlöcher", ruft er den Lagerinsassen zu, "es ist doch wirklich ein revolutionärer Akt, wenn Leute daraus Genuß ziehen, daß da Leute sitzen, die nichts zu fressen haben. Zum Genuß gehört Bosheit und Rücksichtslosigkeit. Genau das macht Lust – das zerstörerische Element am Erkennen." Von seiner Pritsche nickt beseligt Bohrer, dann bittet er um ein gutes Andenken.
Ein starker Schlag, ein Humanistenbekenntnis. Gegen die Selbstmitleidkrüppel und Gespenster der eigenen Angst. Was heißt schon Lagerleitung? Was ist schon die Macht der Verhältnisse? Das sind wir doch selber. Verdrückt Euch! "Das ist der Baalsche Gottesbeweis - Gott ist ein Schwein - und da habt ihr Bedenken?" höre ich ihn noch wiehern. Dann haut er dem nächstbesten Muselmann auf den ausgemergelten Brustkorb, daß ihm die rote Suppe nur so aus dem Munde quillt. Castorf ist von diesem Regieeinfall ganz begeistert. Er will ihn sich merken.
Eben einfach traumhaft, diese deutschen Geistesgrößen.