Vortrag / Rede Radikalität des Alters

Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (19.-21.10.2006)

Vom 19. bis 21. Oktober versammelten sich die Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt zum Thema "Radikalität des Alters".

In drei öffentlichen Veranstaltungen sollte dem ausgewiesenen Thema nachgespürt werden. Dass es dabei nicht um die viel diskutierten demographischen oder politischen Perspektiven gehen sollte, die das Älterwerden nur noch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kosten eines allmählichen Verfallsprozesses verhandeln, die Akademie vielmehr einen Gegenakzent setzen wollte, war Wunsch und Absicht. Doch was wäre überhaupt im Zusammenhang des Alters unter Radikalität zu verstehen? Gibt es überhaupt eine Radikalität, die ausschließlich mit der letzten Lebensphase zusammenhängt?

Die Fragen, die das Tagungsthema aufwarf, waren ebenso unterschiedlich wie die Antworten, die gefunden wurden. Denn die Formen, in denen Menschen mit ihrem Alter umgehen, ihr Älterwerden auffassen und empfinden, sind vielfältig und von der eigenen Geschichte und den individuellen Lebensumständen stark geprägt. Klaus Reichert, Präsident der Deutschen Akademie, versuchte das Thema einzukreisen, indem er Altersradikalität als Bruch mit dem Bisherigen, als eine zuweilen provozierende Neuorientierung des Lebens verstanden wissen wollte. Dies meine keineswegs nur das kreative Gestalten der Noch-Zukunft, sondern könne ebenso auch ein bewusst gesetztes Aufhören bedeuten, das von größerer Radikalität sei, als ein unbeirrtes Weitermachen bis zum Schluss - so wie Goethe es einst im fünften Band von "Kunst und Alterthum" (1825) formuliert hat: "Älter werden heißt selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich und man muß entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewußtsein das neue Rollenfach übernehmen."

Acht Referenten und zwei Schriftstellerinnen (1) waren eingeladen, um ihre Gedanken zu diesem Thema den Akademiemitgliedern und einem Publikum, das scharenweise zu den Veranstaltungen erschienen war, zu unterbreiten. Vier der Referenten sollen hier Erwähnung finden.

Schamlose Offenheit

Den theoretischen "Stoff" zur Altersradikalität lieferte der Philosoph Odo Marquard, Jahrgang 1928, mit seinem Vortrag "Zum Lebensabschnitt der Zukunftsverminderung", wonach sich gerade das Alter an und für sich zu einer radikalen Form von Unbekümmertheit oder gar Rücksichtslosigkeit eigne. Die Alten seien zuweilen schamlos offen und verfügten über eine solide Schandmaulkompetenz und das, so die Begründung, weil im Alter auf immer weniger Zukunft Rücksicht genommen werden müsse. Der Tod als gewisse Zukunft besiegelt, dass es keine Zukunft mehr gibt. Und gerade dieser Mangel an Zukunft sei es, der die Alten immer ungehemmter sehen und sagen lasse, was ist, und vor allem auch das, was ihnen nicht in den Kram passt. Zum Alter gehöre nun einmal das Ende jener Illusionen, die durch Zukunftskonformismen entstehen. Rücksichtslos, aggressiv, befreit und unbekümmert um die Meinung anderer - so zeichnete Marquard "illusionsresistent" die Lebenslage der Alten und seine eigene Haltung.

Produktive Raserei

Während die auslaufende Zeit den einen vom Taktgefühl und von gewissen Handlungsnotwendigkeiten befreit oder womöglich auch in "fröhliche Depression" treibt, kämpft der andere exzessiv und rastlos gegen den Zukunftsschwund an, so wie es der Kunsthistoriker Werner Spies in seiner Exegese von Picassos Spätwerk als "Malen gegen die Zeit" definiert hatte. In dem Kampf gegen die Zeit schaffe Picasso etwas Neues, ein Werk, das provoziert, denn expressiver, farblich ungestümer und ungefälliger hätte sich Picasso noch nie präsentiert. "Die späten Bilder hängen mit allen Fasern an Sinnlichkeit und Umarmung, sie zeigen Kuss und Kopulation in Großaufnahmen. Es sind besessene, vitale Bilder ohne jegliche Verklärung. Der Leib wächst überall. Finger, Zehen, Lippen, Geschlechtsteile, vereinfacht wie Abzählverse, führen eine gierig-greifende und schmatzende Eroberung des Partners und des Umraums vor", erklärte Spies. Picasso habe sich in seiner letzten Lebensphase nur ein bestimmtes, für ein Gemälde knapp bemessenes Quantum Zeit zur Verfügung gestellt, was eine detaillierte Ausarbeitung des jeweiligen Gemäldes nicht zuließ. Die Zeitgenossen Picassos sahen darin eine Erschöpfung seiner künstlerischen Kraft und verkannten dabei die eigentliche Motivation, die den Künstler trieb, nämlich durch die strenge Zeitökonomie dem Druck der eigenen Vergänglichkeit entgegenzuarbeiten. Spies sieht im Spätwerk Picassos "eine dialektische, mit Exzeß und Präzision vorgetragene Unerträglichkeit, Tod und Verschwinden zu ertragen", was einen radikalen Neuanfang im Werk Picassos markiere. Auch bei Beethoven und Luigi Nono waren solche Wendepunkte im sogenannten Spätwerk auszumachen, wie es Stefan Litwin, der für seine "Gesprächskonzerte" bekannte Komponist und Pianist, an Tonbeispielen erhellend ausführte.

Radikale Selbsterforschung

Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich stellte die Phantasie ersehnter (Neu-)Anfänge und zugleich die Rückbesinnung auf das eigene Leben in den Mittelpunkt ihres Vortrags "Starrsinn oder Furchtlosigkeit". Sich selbst zu vergewissern, indem man über das eigene Leben, das gelebte Leben, nachdenkt, sah sie als ein Bedürfnis, das im Alter einen großen Stellenwert einnimmt. Als Beispiel führte sie Günter Grass und Joachim Fest an, die beide kürzlich ihre Autobiographie vorgelegt haben. Der eine mit einem späten Bekenntnis, als Soldat bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Der andere mit seinen Erinnerungen aus Kindheit und Jugend, die den von ihm bewunderten Vater in den Mittelpunkt stellen. Beide hätten in ihren umfangreichen Biographien die äußere Realität mit ihrer Vielfalt an Menschen, an Erlebnissen und Erfahrungen geschildert. Der Blick nach innen aber, der Blick auf ihre Gefühlswelten, sei dabei viel zu kurz gekommen. Genau hier sieht Mitscherlich den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Selbsterforschung. Am Beispiel des neuen Buchs von Silvia Bovenschen "Älter werden" spürt sie einer anderen, der weibliche Form nach. Demnach konzentriere sich Bovenschen, wenn sie von den Zumutungen des Alters schreibe, weit mehr auf ihre Gefühle, ihre Reaktionen, ihre innere Welt als auf die Geschehnisse in der äußeren Welt. "Sie hat ein kluges, einfallsreiches, witziges radikal aufrichtiges und auch trauriges Buch geschrieben, wie es dem Thema entspricht, aber wie es ein Mann so nie hätte machen können". Auch aus eigenen Erfahrungen weiß Mitscherlich, dass es wohl eine typisch weibliche Form radikaler Selbsterforschung ist, den Blick auf das Innenleben zu richten, sich auf die eigenen Gefühle, Phantasien und Verhaltensweisen zu konzentrieren und diese zu deuten. Dass Frauen sich für die innere Realität und deren Bedeutung für die Lebensgestaltung mehr interessieren als für die äußere Realität, sieht sie in der Geschichte weiblicher Sozialisation begründet, in der die Welt der Gefühle, die Innenwelt, Häuslichkeit und Familie seit Jahrhunderten als die gegebene Domäne galten. Ob es eine bestimmte Altersradikalität gibt, stellte Mitscherlich allerdings in Frage, vielmehr sah sie in der Radikalität, wie immer man sie verstehen möchte, einen vom Alter unabhängigen Ausdruck der Persönlichkeit.

Corinna Blattmann

Die Vorträge zur Tagung wurden im Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veröffentlicht, das im Mai 2007 bei Wallstein, Göttingen, erschienen ist.

Zur Tagung ist die 4. Ausgabe der Heftreihe der Deutschen Akademie erschienen: Valerio 4, "Radikalität des Alters". Prosa-Lyrik-Essay. Hrsg. von Klaus Reichert, Wallstein, Göttingen 2006. Die darin versammelten Essays decken sich nicht mit den Vorträgen der Tagung, sondern können als weiterer Baustein in der Auseinandersetzung mit dem Thema verstanden werden.

(1) Mitwirkende waren: Bazon Brock (Kunsttheoretiker), Lars Gustafsson (Schriftsteller), Hans Keilson (Schriftsteller und Psychoanalytiker), Stefan Litwin (Komponist und Pianist), Odo Marquard (Philosoph), Margarete Mitscherlich (Psychoanalytikerin), Inka Parei (Schriftstellerin), Erica Pedretti (Schriftstellerin und bildende Künstlerin), Werner Spies (Kunsthistoriker) und Hans Wollschläger (Schriftsteller und Übersetzer).

Termin
20.10.2006, 15:00 Uhr

Veranstaltungsort
Darmstadt, Deutschland

Veranstalter
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

Veranstaltungsort
Centralstation, Im Carree, 64283 Darmstadt