Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
30.11.1993

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
30.11.1993

Lipperalismus 1 u. 2

Moment mal, habe ich heute schon anerkannt? Habe ich heute schon meine Nächsten (Nachbarn) und jene Fernsten (Fremden), meinen Polizeimeister und Abgeordneten, meinen Arbeitgeber und die Angehörigen der Minderheitenkulturen so richtig anerkannt? Habe ich vor allem die Professoren anerkannt, die die Theorie der Anerkennung als letzte beschreien, damit wir uns endlich anerkennen, anstatt uns nur anzuschreien wie bei RTL? Habe ich? Wenn nicht, dann habe ich heute wieder Identität verweigert, denn Identität - so die Theorie - kommt ganz wesentlich durch Anerkennung zustande. Und ohne Identität kein Menschsein. Anerkannt zu werden, ist also ein Grundrecht des Menschen, wie die Unverletzlichkeit an Leib und Leben zum Beispiel, und kann eingeklagt werden.
Also, wollen mal sehen: Ich klage bei Professor Habermas mein Grundrecht ein, von ihm genauso anerkannt zu werden, wie ich ihn als anerkannten Philosophen anerkenne. Wenn er mich als Denker nicht anerkennt, verweigert er mir mein Menschsein, denn dazu gehört für mich persönlich die Anerkennung als Philosoph - und zwar als anerkannter und nicht als nichtanerkannter. In Deutschland ist aber nur Philosoph, wer von Habermas anerkannt wird, das jedenfalls ist meine kulturelle Überzeugung. Die kann von niemandem bestritten werden, auch von Habermas nicht, sonst würde ich diskriminiert und entwürdigt. Gegen solche menschenzerstörerischen, kulturschänderischen Praktiken kämpft ja der Professor. Also bin ich bei ihm an der richtigen Adresse.
Deshalb, Prof. Habermas, anerkennen Sie mich! Nicht bloß so im allgemeinen und universellen, sondern ganz konkret - mit Zitation! Ich kann es Ihnen leider nicht überlassen, was Sie unter Anerkennung verstehen wollen - Ihren eigenen Prämissen gemäß. Sie unterliegen nämlich einem Anerkennungschauvinismus, der zum Ausdruck kommt in Ihrem abwehrenden Slogan: "Meine Anerkennungskapazität durch Befußnotung ist erschöpft!" Das läßt nämlich die Bereitschaft vermissen, auch meine Perspektive einzunehmen; mit Sicherheit sind die Grenzen Ihrer Belastbarkeit als Zitator nicht erreicht.
Aus der moralischen Begründung Ihrer extrauniversitären Philosophierpolitik ergibt sich zudem die Verpflichtung, die Zitierkontingente nicht auf wirtschaftliche Bedürfnisse (niedriger Ladenpreis Ihrer Bücher) zu beschränken, sondern auf Kriterien zu stützen, die aus der Sicht aller Beteiligten, also auch aus der meinen als Ihr Leser, akzeptabel sind. Ihre restriktive Abschottung gegen die Aufnahme meiner Gedanken als Zitate und damit als mir Anerkennung erzwingender Bestandteil Ihres Werkes entstammt einer vermachteten Kommunikationsstuktur, die Ihre und meine Selbstverständigungsdiskurse unmöglich macht.
Verweisen Sie mich bitte nicht auf meine Integrität als einzelne Rechtsperson; denn die kann - normativ betrachtet - ohne den Schutz (Ihren Schutz) jener intersubjektiv geteilten Erfahrungs- und Lebenszusammenhänge nicht garantiert werden, in denen ich sozialisiert und in denen meine Identität gebildet wurde in philosophischen Seminaren, in denen Ihre Theorien als Denkerfüllung für alle zur Pflichtlektüre gemacht wurden.
Oder möchten Sie: daß ich Sie in Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat zwinge, vor Gericht? Nur vor Gericht geht es um einklagbare individuelle Rechte! Angesichts neuer Bedürfnisse und Interessenlagen (so sagen Sie) muß selbst geltendes Recht auf neue Weise interpretiert werden! Jawohl! Und kollektive Aktoren kann ich auch ins Feld führen. So wie ich klagen Tausende Schreiberlinge gegen die Mißachtung ihrer Würde durch Sie, Herr Habermas, darin äußert sich unsere kollektive Erfahrung verletzter Integrität, verletzt durch Sie, der Sie sich weigern, uns zu zitieren.
Niemand zitiert uns, keiner will uns für seine Werke haben; überall werden wir philosophisch wertlos herumgestoßen. Also gewähren Sie uns in Ihren Schriften philosophisches Asyl. Aus völliger Armut an Stil und Denkkraft immigrieren wir in Ihr Werk. Und wir sind sogar eine Mehrheit der Nichthabermase, wir, die wir nichts besitzen, weder jenes Talent noch jene Kenntnisse, die Sie in Hunderten Druckseiten und Tausenden Anerkennungsrezensionen jährlich verprassen. Auch kommen Sie zu Ihrem exorbitanten Ruhm nur, weil Ihnen jener Anteil an Erinnerungsvermögen der Zeitgenossen einfach zugeschlagen wird, der eigentlich uns gehört.
Wollen Sie sich Ihrer moralischen Verpflichtung zur Aufnahme elender Denker aus allen Regionen dieser Welt entwinden? Soll Ihr vielbesungener Liberalismus der Extraklasse als Lippenbekenntnis desavouiert werden: Kesse Lippe und Maultasche, als Habermasscher Lipperalismus 1 u. 2?
Na also! Bitte Nachricht an Herrn Unseld: "Im Namen der political correctness firmieren die ehemals meinen Bücher ab sofort unter dem Autorennamen ,Wir Anerkennungsphilosophen" Danke, Bruder Habermas.
PS: Sie lassen es übrigens generell an Anerkennung Ihrer Leser fehlen, indem Sie derart schwer bis unverständlich denken und erst recht schreiben! Schließlich haben Sie viele Anerkennungspreise für essayistisches Schönschreiben akzeptiert. Anerkennen Sie das endlich als Verpflichtung.