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Traumhafte Perspektive ohne Endgültigkeit!
Ich komme gerade aus der Fron, das heißt, ich saß mit anderen drei akademische Stunden lang in einem der totschicken Hörsäle unserer Neubau-Uni. Der Atem des großen Bruders schlug uns ins Gesicht: aus Schlitzen in den Pulten blies Frischluft, daß die Augen tränten. Vollständige Klimatisierung - vollständige Narkose, und die Viren wirbelten hübsch gleichmäßig verteilt, ohne Ansehen der Person, durch das Auditorium.
Recken und Stöhnen, qualvolle Verschiebungen: Das schwungvoll, diplomlegitimiert designte Gestühl bohrt sich den Sitzenden in den Rücken, als seien sie VPS für die Anlage von Geräten des Dr. Frankenstein. Wer gegen sein Akademikerethos und seinen Lernwillen dennoch das Auditorium verläßt, irrt mit sich steigernder Verzweiflung durch ein Betonlabyrinth, über endlose Korridore, vorbei an Batterien verschlossener Türen, ohne Blick nach draußen, ins Freie, ins Tageslicht.
Totales Design, angeblich funktionsgerecht und rational nach allen Regeln des großen DIN und seiner Funktionäre, die ihre Menschlichkeit darin demonstrieren, daß sie die Betonhölle hier und dort mal grün, mal blau, mal braun anstreichen. "Ist da niemand?" Alles tot, keine Spuren von Menschen, für immer unsichtbar; das zunächst noch ängstliche Klopfen an Dutzende von Türen steigert sich zum wütenden Rütteln. "Sesam öffne Dich, ich will hinaus! Wenigstens mal hinausblicken!" Da, ein Lichteinlaß in einer Flurecke: endlich eine Perspektive, wenn auch auf einen gigantisch erhabenen Betonklotz in Sarkophagform - rundherum Betonbrutalistenkonfekt, Kopfsteinpflaster, das die Außenwände emporschiebt. Lebendig begraben. Das Mausoleum des Menschen hat sich geschlossen. Panik.
Plötzlich ein Bild vor Augen, ein Traumbild. Studenten bohren und sägen Löcher in Wände und Türen; ja, ich erinnere mich, wie in Kassel. Erleichterung, und Mut fassen: man kann hier raus, es gibt noch einen Weg, dort sind Menschen, die etwas unternehmen. Die sich nicht aufgeben, die Kraft zum umgestaltenden Widerspruch haben.
Der fast entseelte, geisterbleiche Besucher träumt sich näher an die Akteure heran. Doch die Verwandlung ist schon geschehen, Zeichen sind gesetzt, wunderbare, witzige, intelligente, ironische Perspektiven eingefügt in die Innenwelt des Molochs.
Löcher sind vor allem Perspektiven.