Programmheft Goethes Hand

Erschienen
1982

Verlag
Bühnen der Stadt Bonn

Erscheinungsort
Bonn, Deutschland

Issue
1982/1983

Eckermann steht Modell. Wie wird man, was man nicht ist?

Hätte Goethe den Eckermann zu sich genommen, wenn er gewußt hätte, daß sein Eckermann der Eckermann sein würde ? Wenn er also geahnt hätte, daß nicht er, Goethe, den Eckermann erwählte, sondern daß Eckermann sich Goethe, seinen Goethe wählte?
Wie hätte er das wissen können?
Ich wußte es, denn eines Tages, vor Jahren, ließ ich mich auf eine >ZEITUmgang mit Menschen< (3. Theil, »Über den Umgang mit Gelehrten und Künstlern«) gehört - oder von Diderots Roman: >Rameaus NeffePhänomenologie des Geistes< (IV, Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst; Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft). Dort heißt es illustriertenbündig: »Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist dennoch das knechtische Bewußtsein. … Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Knechtschaft in ihrer Vollbringung zum Gegenteil dessen werden, was sie unmittelbar ist.« Das heißt auf plattdeutsch: »Wie der Herr, so das Gescherr« - und auf Büchmanndeutsch: »Vor seinem Kammerdiener ist niemand ein Herr« und auf jeden Fall: » Was Du nicht von Dir selbst erzwingen kannst, das wirst Du gezwungen, für andere zu tun, bis Du sie zwingen kannst, es für Dich zu tun.«
Doch gemach und Gerechtigkeit: Herren haben leicht bekennen, daß sie dienen. Aber ein Diener, der herrt? Sein eigener Herr sein? Jawohl, das ist erstrebenswert. Aber sein eigener Diener? »Selbstbedienung« ist doch glatter Betrug, denn wo bleibt da die Bedienung? Folgerichtig haben die Diener, denen Dialektik ein Tarnwort für schmutzige Herrenwitze zu sein hat, aus der Selbstbedienung längst den unkontrollierbaren Zugriff auf Verdienste ohne Dienstleistung gemacht.
Herr zu sein allein genügt noch längst nicht! Man muß es auch werden können: vom Millionär zum Tellerwäscher - das ist erst eine Karriere, die Bestand hat. Denn dem Kleinen ist alles rein, vor allem im Dreck, und dem Reinen bleibt alles klein, vor allem die herrschaftliche Größe.

Modell I: Herr und Knecht
Goethe und Eckermann

Wohl ziemlich aussichtslos, da Herren fehlen, denen man die Goetherolle glaubt (Handke gibt sich trotzdem Mühe). Außerdem müßte man auch noch ein so hervorragender Fälscher sein, wie Eckermann einer war - und wenn man das wäre, könnte man ja gleich als Goethe auftreten.

Modell II: Mann und Frau
Richard Wagner und Cosima

Eckermann war ja in seinem Verhältnis zu Goethe eine Frau. Erstens wurde er für seine Arbeit nicht bezahlt; zweitens überlebte er Goethe. Cosima war in ihrem Verhältnis zu Wagner ein Mann. Erstens leistete sie sich Peinlichkeiten wie ein psychoanalytisch unberührter Gynäkologe und hielt das für Dienst an der Kunst; zweitens glaubte sie an die Unsterblichkeit der Kunst, die für Richard nur Kompensation seiner Unfähigkeit war, lebendgebärendes Weib zu sein. Da sich für Männer an diesem unverschuldeten Elend bis heute wenig geändert hat und sich zudem nur noch Frauen als ganze Männer beweisen wollen, entfallen beide Rollen. Ohne Richard und Cosima bleibt das ganze Theater aber ein Modell der Versöhnung.

Modell III: Reich und Kanzler
Wilhelm II. und Bismarck

Da mir der Zynismus (und das heißt die politische Intelligenz) völlig abgeht, mit dem Bismarck sein eigenes Geschöpf skrupellos zu opfern bereit war - und da im übrigen spätestens 1948 dem Modell jegliche Aussicht auf Wiederholbarkeit genommen wurde -, entfällt wohl dieses Exempel. Auch wollte Bismarck nur selbst Kaiser werden. Er wurde es als Wilhelm Il. Und der ist nun wirklich ein abschreckendes Beispiel, denn er wollte auch noch Bismarck sein!

Modell IV: Partei und Sekretär
Marx und Lenin

Immerhin ein verlockendes Angebot: Jeder, der sich selbst nicht versteht, kann das auf einfach vermeidbare Denkfehler zurückführen - er braucht nur nichts mehr zu sagen. Und jeder, der feststellt, daß ihn andere nicht verstehen, kann sie für Dummköpfe halten, weil sie nicht bemerken, daß er logischerweise falsch denken müsse, da er ja etwas sage, anstatt zu schweigen. Die anderen werden so zur Partei der Dummköpfe, man selber zu ihrem Sekretär, der darüber wacht, daß sie nichts sagen und so doch noch zu verständigen Menschen werden. Goethe hätte ja gar nichts davon gehabt, wenn er in Anwesenheit Eckermanns auch noch dauernd hätte sprechen müssen. Das wäre ja diktiert gewesen - und dafür hatte er den Schreiber John. Goethe forderte Eckermann dazu auf, sich gefälligst selber zu denken, was Goethe hätte sagen können, wenn er nicht beständig hätte diktieren müssen.

Modell V: Chef und Sekretärin
Le Corbusier und Heidi Weber

Da in dieser Formulierung das Problem historisch nur allzu umstandslos mit der Einführung der Chefsekretärin gelöst worden ist, wähle ich besser eine angemessene Positionsbeschreibung des gegenwärtigen Verhältnisses von Goethe und Eckermann: Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Doch auch so wird daraus kein sinnvolles Modell! Nach der positiven Dialektik ist ein Arbeitnehmer jemand, der seine Arbeit und nichts als sie hingeben kann - und ein Arbeitgeber ist jemand, der die Arbeit anderer nimmt.
Nach der negativen Dialektik arbeitet der Arbeitgeber inzwischen doppelt soviel wie der Arbeitnehmer, weshalb er immer unflexibler wird, während der Arbeitnehmer immer mehr Zeit hat, um sich fortzubilden und so die inkompetent gewordenen Arbeitgeber abzulösen. Und das ist kein Modell, sondern schön klar und einfach.

Modell VI: Gott und Priester
Hitler und Speer

Vor dem Höchsten soll man zurückschrecken. Außerdem ist es um Götter heutigentags ebenso schlecht bestellt wie um Herren (s. Modell I).
Während Heidi Weber tatsächlich den Architekturen und Malereien von Le Corbusier diente, weil ihr niemand zugetraut hätte, daß sie von ihr stammen könnten, diente Speer sich selber, indem er Hitler suggerierte, seine, Speers, Entwürfe seien die Hitlers und er, Speer, sei nur ein genialer Organisator, ein getreuer Diener. Da jedoch jedermann wußte, daß das nicht stimmte, konnte sich Speer Hoffnung machen, an Hitlers Stelle zu rücken, sobald ihm die anderen den Dienst aufgekündigt haben würden. Eckermann hat niemals daran gedacht, daß er an die Stelle Goethes rücken würde, sobald der . . .
Vor allem aber: Speers Gespräche mit Hitler fälschen nicht etwa Hitler, wie Eckermann Goethe fälschte, sondern Speer fälscht sich selber, aber auch genial - es sei denn, Speer hätte, wie einige vermuten, gleich zwei Eckermänner gehabt, Diener des Dieners. Da hört denn doch alle Dialektik auf, und die Verhältnisse werden, was sie verlangen: nach oben beten, nach unten treten.
Eckermann, der arme Bruder, hatte das von Goethe oft genug gehört und es doch nicht geglaubt, wie sein Lebenslauf beweist; Eckermann war eben keineswegs ein getreuer Eckart. Priester haben eine fürchterliche Gewalt: Sie können ihre Götter als Götzen maskieren.