Ausstellungskatalog Gestell: CFG Skulpturenprojekt 2011

für die Bergische Universität Wuppertal

Gestell : CFG Skulpturenprojekt 2011
Gestell : CFG Skulpturenprojekt 2011

Erschienen
01.01.2011

Herausgeber
Körber, Wolfgang | Brock, Bazon

Verlag
Bönen: Kettler

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

ISBN
978-3-86206-082-5

Seite 9 im Original

Im freien Vortrieb

Wir bauen für die Bergische Universität ein Denk-mal-nach-Denkmal

Vor etwas mehr als 100 Jahren war Elberfeld Weltzentrum der Phantasmagorie. Es galt als Ausgeburt wirklichkeitsflüchtiger Hirne, über die Müngstener Schlucht zwischen Remscheid und Solingen eine Hochbrücke bauen zu wollen, in der wahnwitzigen Annahme, man könne sie gleichzeitig von den beiden Bergseiten her errichten. „Im freien Vortrieb“ sollten die Teilkonstrukte so geführt werden, dass sie zentimetergenau in der Mitte über dem Fluss zusammentreffen würden. Nie zuvor war so etwas gelungen.

Das Schaudern des Unheimlichen, das diesen Versuch des „freien Vortriebs“ in die Leere umgab, ergriff nicht nur Laien, sondern gerade philosophisch trainierte Denker. Ihnen war seit Platons Zeiten die unaufhebbare Differenz zwischen Wirklichkeit und Gedankenkonstrukten, Wesen und Erscheinung, zwischen Form und Materie oder Plan und Ausführung in dem Schauder machenden Begriff chorismos vermittelt worden. Zwar war durch Hegel und seine Nachfolger ein Weg vorgezeichnet worden, wie man den tiefen Graben (heute „gap“ genannt) überbrücken könnte; es war der Weg der Arbeit, das hieß, durch Arbeiten des Menschen Form und Materie in ein gewünschtes Verhältnis zu bringen. Aber damit war noch nicht garantiert, dass dieser Brückenschlag auch unter allen Bedingungen gelinge. Zuzutrauen war das nur den Praktikern der Philosophie, der neuen Elite von Ingenieuren.

Sie lösten in der Genealogie der Heroen des Fortschritts die Hochseefahrer ab. Die hatten zwischen 1480 und 1780 vor allen anderen Entdeckern, Dichtern und Künstlern, Baumeistern und Feldherren die Macht des menschlichen Geistes demonstriert, indem sie es fertigbrachten allein durch Gedankenkraft die Orientierung auf hoher See, das heißt in der Ortlosigkeit, aufrechtzuerhalten; denn es gab noch keine Uhren, mit denen man durch Messung des zeitlichen Abstands seit der Ausfahrt aus einem Hafen und der Geschwindigkeit des Schiffes die Position nach Längengraden hätte bestimmen können.

Erst 1765 konnte John Harrison, Konstrukteur eines entsprechenden Uhrwerks, den bis dato höchstdotierten Preis von 10.000 £ (heute fast im Millionenbereich) für die Bestimmbarkeit von Längengraden entgegennehmen; Greenwich, östlich von London, wurde zum Angelpunkt für die Vermessung der Welt nach Längengraden.

Und dann – nach Etablierung der Dampfmaschinenkraft, der Eisenbahn, der Agrarchemie, der Elektrizität, der drahtlosen Telegrafie – Müngsten: Im Gründungsmemorial, bestätigt durch die höchste Autorität des Kaisers Wilhelm II., ist ausdrücklich vermerkt, dass das Werk „Der Technik zur Anerkennung“ verhelfe, wodurch „das Gemeinwohl gefördert werde, indem der Verkehr erleichtert wird“. Die Öffentlichkeit wertete bei der Einweihung der „Riesenbrücke“ am 15. Juli 1897 das in wenigen Monaten errichtete Bauwerk im „freien Vortrieb“ als den größten Triumph des menschlichen Geistes.

Von da ab musste man nur noch Großes wollen; die Verwirklichung der Pläne garantierte das Ingenium der Ingenieure. Sie schienen uneingeschränkt jeden noch so klaffenden Spalt zwischen Entwurf und Konstruktion, zwischen Gedanke und Tat bemeistern zu können. Das Konzept des chorismos erlebt gegenwärtig in der Hirnforschung grundlegende Anerkennung mit der Bestimmung von Neurotransmittern als Erbauern von Brücken über den synaptischen Spalt zwischen den Neuronen.

Im Politischen nährte die triumphierende Ingenieurskunst die Allmachtsfantasien des Kaisers, des Generalstabs, der Großunternehmer und Finanzspekulanten. Deren Bestehen auf der bedingungslosen Durchsetzung von Befehlen zur Verwirklichung fantastischer Pläne hat die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ausgelöst (siehe dazu das Kapitel „Selbstfesselungskünstler gegen Selbstverwirklichungs-bohème“, in: Bazon Brock, Lustmarsch durchs Theoriegelände, Köln 2008, S. 89-121).

Seither ist es für alle Anwender oder Verwirklicher von geistigen Konstrukten verpflichtend, die Ambivalenz jeder Behauptung einer Macht des Geistes in ihre Kalküle einzubeziehen. Die historischen Exempla lehren zu erkennen, dass jede gelungene Verwirklichung noch so großartiger Konstrukte unvermeidlich die Gefahr kontraproduktiver Konsequenzen birgt. Selbst der Laie ist seit 20 Jahren gesetzlich verpflichtet, Risiken und Nebenwirkungen der Verwendung eines Medikaments mit Ärzten und Apothekern zu erörtern. Jedem Bürger wird zugemutet, die unerwünschten Folgen der wissenschaftlich begründeten Erfüllung seiner Wünsche zu bedenken und möglicherweise von ihrer Verwirklichung abzusehen.

Der Ambivalenz von Fortschritt durch Verwirklichung geistiger Konstrukte müssen wir also aus Bürgerpflicht stets eingedenk sein. Denkmäler sind Veranlasser solchen Eingedenkens. Sie fordern dazu auf, darüber nachzudenken, dass wir unsere nachträglich gewonnene Erkenntnis aus Erfahrung, das epimetheische Wissen, auch prometheisch anwenden, also vorausschauen.

[Abb. Postkarte 1950, S. 11:]

Nach vier Jahren Lagerleben vergewissert sich Bazon Brock im Sommer 1950 durch eine erste Fahrradtour auf geliehenem Rostesel von Itzehoe aus südwestwärts der realen Welt. Auf dem Hof von Schloß Burg (unten links im Bild) kopiert der Schlossgeist für 50 Pfennig die Fotografie des bewaffneten Jünglings in die Postkarte mit den regionalen Wunderwerken ein: Müngstener Brücke, Remscheider Talsperre, Altenberger Dom und besagte Schloß Burg, die der Welterfahrer kennenlernen wollte. 35 Jahre später mietete Brock als Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität – ohne Kenntnis der Lokalitäten – ein Haus, aus dessen Wohnzimmerfenster man genau jenen Blick auf die Müngstener Brücke hat, wie ihn die Nachkriegspostkarte bot. Von der Fügung zur Führung, von der Bildfügung der damaligen Postkarte zur permanenten Führung des Blicks auf den Beginn seiner selbstständigen Welterkundung: Welch bemerkenswerter Weg als Führung durch Fügung. Das ist wahrhaft Berufung im Ruf an die hiesige Universität.

Akademische Institutionen werden gegründet und unterhalten in der Erwartung, die Tätigkeit der Wissenschaftler habe für die Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens grundlegende Bedeutung – sowohl in materieller wie spiritueller Hinsicht. Grundlegend ist die Art und Weise, wie geistige Arbeit in der Alltagswelt wirksam werden kann. Inbegriff geistiger Arbeit ist die Mathematik, weil sie ein in sich geschlossenes System der Begründungen entwickelt hat und mit axiomatischen Setzungen sogar die Arché ihrer Gedankenarchitektur autonom bestimmt. Der Autonomieanspruch gilt auch dann, wenn man fragt, ob in der Mathematik außermathematische Bedingungen eine Rolle spielen; zum Beispiel fragt, wie weitgehend die naturevolutionär entstandenen Großhirnpotentiale der Mathematiktreibenden Einfluss auf das System mathematischen Arbeitens haben könnten. Fragen solcher Art können außer Acht bleiben, denn das Bestreiten der Autonomie stünde unter der gleichen Bedingung wie das Behaupten der Autonomie.

Für die universitäre Praxis, die Wirksamkeit geistigen Arbeitens zur Geltung zu bringen, wurden Anwendungsstrategien entwickelt. So übersetzen etwa Ingenieurswissenschaften oder die Pädagogik oder die Gestaltungsdisziplinen die Grundlagenforschung ins Alltagsleben. Der zauberhafte Begriff heißt „Anwendung“. Das heißt, Gebrauch zu machen von der Verbindlichkeit mathematischer Setzungen. Die Verbindlichkeit stellte sich historisch sukzessiv durch den Erfolg eben jener Anwendung von Mathematik ein. Mit anderen Worten, messbarer Erfolg wurde generell zurückgeführt auf die Indienstnahme von mathematischer Gewissheit. Warum also kann reine Mathematik wirksam werden?

Antwort: Alle Kooperationsmodi der Leistungszentren unserer Großhirnhemisphären wurden für das wissenschaftliche Arbeiten von Wissenschaftlern nach den Vorgaben der Mathematik geeicht und die nicht dem Eichverfahren unterwerfbaren außer Betracht gelassen.
Damit wird für beide Seiten der Gleichung, Grundlagenwissenschaften hie, Anwendungswissenschaften dort, die Einhaltung des Eichmaßes garantiert. Anwendung heißt also Legitimierung durch Eichung. Natürlich werden auch andere Eichmaße verwendet, als die der Mathematik.

Ein frühes Ereignis der Proto-Wissenschaftsgeschichte mag als Beispiel genügen: Die Griechen vermochten mit dem Legen von Steinen im Sand alle geometrischen Operationen, die sie zu genialen Geodäten machten, sinnfällig, also evident werden zu lassen. Die Einführung der Arithmetik durch Verwendung der indisch-arabischen Eichungsgröße Null ermöglichte dann die Überführung von sinnlicher Evidenz in mathematische Gewissheit (siehe dazu Martina Schettinas Demonstration zur Entwicklung von der Delphischen Prophetie hin zur wissenschaftlichen Prognostik in „Pythagoras in Delphi“ von Bazon Brock u.a. (Berlin 2010) unter: http://www.reto-schoelly.de/pythagoras-blog/ ).

Der grundlegenden Problematik im Verhältnis der Wissenschaften zu ihrer Anwendung will der emeritierte Professor für Gestaltungswissenschaften, Wolfgang Körber, auf dem Campus der Bergischen Universität ein Denkmal setzen, das allen dort Wissenschafttreibenden die Gelegenheit bietet, über das Ziel ihres Arbeitens – die Intervention ins Alltagsleben der Menschen – nachzudenken. Körber ist in derartigen Vorhaben als Architekt, Messe- und Ausstellungsdesigner und bildender Künstler aller Gattungen sehr erfahren (zum künstlerischen Schaffen siehe: Wolfgang Körber: OXYGEN. Skulptur – Fotografie – Malerei, Mainz 2009).

Gelegenheit macht nicht nur Diebe, Liebe und Dichter, sondern eben auch Gedanken. Analog zu den Goetheschen Gelegenheitsgedichten evoziert Körber das Gelegenheitsdenken mit der stählernen Verkörperung eines Symbols für platonische Körper, also für die Verwirklichung von Mathematik durch Ausfaltung ihrer inhärenten Gestaltlogiken im dreidimensionalen Raum.
Die Spannung zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Virtualität und Realität oder imaginärer und realer Gestalt macht die den Blick fesselnde Attraktivität des Denk-mal-nach-Denkmals aus, das den von ihm ausgehenden Wahrnehmungsappell ständig variiert – abhängig von der Position des Betrachters.
Die Campusadresse Gaußstraße verweist auf einen der kanonisierten Geistesarbeiter, der als Geodät, Physiker, Astronom und Mathematiker in seinem Werken und Wirken die gesamte historische Entfaltung des Wirkungszusammenhangs von Denken und Erdenken (der Anwendungsmöglichkeiten) durchlaufen hat. Auch hierin bestärkt sich die Allgemeingültigkeit der Beobachtung, dass entfaltete Individualität (Ontogenese) in sich den Gesamtprozess der Gattung (Phylogenese) nachbildet.
Der Denk-mal-nach-Appell des Denkmals hieße dann: „Entfalte deine Persönlichkeit als Wissenschaftler, indem du möglichst weitgehend die Geschichte deiner Disziplin repräsentierst.
Aus dieser Geschichte entnimm die Maßstäbe deines Wirkungsanspruchs. Nur über ein derartiges Ethos lässt sich die Verwirklichung deiner gedanklichen Konstrukte verantworten!“

Postkarte "Gruß aus dem Bergischen Land", Bild: Schloss Burg, Solingen, 1950.
Postkarte "Gruß aus dem Bergischen Land", Bild: Schloss Burg, Solingen, 1950.