Magazin Theater der Zeit

Theater der Zeit, Bild: 10/2010.
Theater der Zeit, Bild: 10/2010.

Theater der Zeit 10/2010
Editorial

Schlingensiefs Tod setzt eine Zäsur. Es gibt Leute im Theater, für die ist nicht Mittwoch oder Donnerstag, sondern der soundsovielte Tag nach dem „Verschwinden“ (Elfriede Jelinek) des „Christophoros“ (Bazon Brock). Das ist umso erstaunlicher, je mehr die Beobachtung von Elfriede Jelinek zutrifft: „Ich sah und sehe Christoph ja als bildenden Künstler, seine Theaterarbeit ist immer mehr in diese Richtung gegangen, in Richtung von etwas Prozessualem, das im Fortgang etwas entstehen läßt, das sich zwar immer auf dem Theater realisieren ließ, aber Theater nicht war, sondern etwas anderes.“ Elfriede Jelinek, Bazon Brock, Bernhard Schütz und Henning Nass, Oskar Roehler und Thomas Meinecke – sie alle lassen ihre Erinnerungen an den grandiosen Selbstdarsteller noch einmal Revue passieren.

Wenn Elfriede Jelinek dabei die Nähe von Theater und bildender Kunst in unserer Zeit anspricht, so ergibt sich diese Anziehung aus der gegenwärtigen Anstrengung des Performativen, die Stigmata des bloß Repräsentativen abzustreifen. Die Begegnung der zwei künstlerischen Kräfte verändert das traditionelle Schema vom Theater selbst. So lassen sich beispielsweise die drei Entwürfe, die Weltkünstler Jannis Kounellis für die Aufführungen von „Der gefesselte Prometheus“ in der Regie von Theodoros Terzopoulos in Athen, Istanbul und Essen kreierte, kaum mehr in die Rubrik Bühnenbild zwingen. Kounellis-Kenner Eduard Winklhofer führt durch die gesamteuropäische Installation, in der sich wohl erstmals in der Theatergeschichte eine einzige Inszenierung durch drei völlig unterschiedliche Kunsträume erfahren lässt. Dorte Lena Eilers befragt Prometheus-Darsteller Götz Argus nach den Klippen des interkulturellen Theaters, wozu jemand, der regelmäßig im japanischen Theater gastiert und im Land der aufgehenden Sonne Starcharakter besitzt, einiges zu sagen hat.

Während Götz Argus etliche Drangsal erfuhr, als er die DDR in den achtziger Jahren verlassen wollte, hat sich eine Generation zuvor Peter Hacks freiwillig dorthin begeben. Das Deutsche Theater in Berlin bringt nun sein Stück „Die Sorgen und die Macht“ aufs Tapet, und Gunnar Decker weist unter dem Titel „Sozialistisches Biedermeier“ darauf hin, dass ausgerechnet FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher den Autor – „Nicht wir haben versagt, die KPdSU hat versagt“ – in hohen Tönen pries. In den Genuss ganz anderer Larven aus dem Gebiet des Arbeiter-und-Bauern-Staates kommt Gunnar Decker auf Schloss Neuhardenberg: „Wolfgang Utzts Masken sind Prismen“, konstatiert er und macht Lust, schleunigst die Ausstellung, die noch bis zum 7. November geöffnet ist, zu besuchen.

Frank Raddatz versammelt die wichtigsten Häupter der Leipziger Kultur, Ann-Elisabeth
Wolff, Sebastian Hartmann, Martin Heering und Peter Konwitschny, an einem Tisch, um nach dem Motto „Das Ganze ist mehr als seine Teile!“ ein Profil der Heldenstadt zusammenzusetzen. Entborgen wird eine zerrissene Stadtgesellschaft, es klemmt enorm zwischen einer nicht nur ästhetischen Zukunftsgewandtheit und den provinziellen Gegenkräften. Ein schwerer Kampf, der dort zu fechten ist und sich wenig auf westliche Erfahrungen übertragen lässt.

Noch weniger wahrscheinlich auf die Schweiz, wo das Konsensprinzip das oberste Gebot
ist, um die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften zusammenzuhalten. Das Theaterhaus
Gessnerallee in Zürich feiert dieses Jahr sein 20-jähriges Bestehen und bildet mit 350 Veranstaltungen pro Jahr eine feste Größe im Bereich der europäischen Off-off-Szene. Auch der Blick zum Geburtstagskind nach Basel lässt hoffen. „In ihrem dreißigsten Jahr kann die Kaserne mit Zuversicht in die Zukunft blicken“, befindet unser Autor Dominique Spirgi und lässt keinen Zweifel, wem diese Entwicklung zu verdanken ist: Carena Schlewitt, die dort seit zweieinhalb Jahren das Ruder führt. Von der Schweiz geht es weiter nach Argentinien, dem Theaterwunderland in Südamerika. Doch lesen Sie selbst.

Die Redaktion

PS: Noch ein kleiner Nachtrag zu Schlingensief: Bleiben muss die Erinnerung an einen, der im Gegensatz zu uns vielen anderen immer auch das gelebt hat, wofür er nicht nur auf der Bühne brannte.

Erschienen
01.10.2010

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
10/2010

Seite 20 im Original

Christophoros, der Krampf geht weiter!

„Komm zurück“, simste ich ihm, „Missionare des Wagner-Kultes, die Chinesen, Afrikaner und Muslime zu Wagnerianern bekehren sollten, haben das Elend der Bayreuth-Ideologie noch vergrößert! Afrika wird Bayreuth bloß nachbauen, anstatt es zu schwärzen. Komm nach Hause, dorthin, wo Du nichts mehr beweisen musst. Hierher – hierhier – nicht DaDa! Komm zurück!“ Er antwortete scharf: „Auf Dir liegt ein Fluch!“, nämlich alles besser zu wissen und damit auch noch recht zu haben. Denn ich hatte Schlingensief die Erinnerung an Harry Buckwitz aufgenötigt, der im Jahre 1939 bereits mit 500 Schwarzen am Kilimandscharo auf einer Behelfsbühne „Die afrikanische Passion“ einstudiert hatte, nachdem er zwei Jahre zuvor in Ostafrika ein Haus mit Bühne, Hotel, Zeitungswerkstatt, Radiostation, Schulzimmer und Kral-Thing zu errichten versuchte – und bevor er nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von den Engländern interniert und dann nach NS-Deutschland ausgeliefert wurde.

Ich hatte Christophoros auch die Erinnerung an die Basler Philosophin Edith Landmann zugemutet, die nach dem Tode ihres Meisters Stefan George in Namibia (Deutsch-Südwest) eine pädagogische Provinz, eine Gelehrtenrepublik, ein Geisterreich der Jünger Georges zu gründen hoffte, um dem Wirken des Meisters im Jenseits von Europa eine Zukunft zu eröffnen: Projektname Ogadogou (oder so ähnlich).

Ich hatte Schlingensief auch von der fatalen Ohm-Krüger-Pathetik des Operettenkaisers Wilhelm Zwo und von den Missionen deutscher Anweiser von Plätzen an der Sonne kolonialer Wonne erzählt – allesamt wagnergestählt, weil sie dreimal wöchentlich auf allerhöchsten Wink und Wunsch „Musik von R. W. schlampampten“. Seit C. S. wie Heiner Müller und andere Deutschlinge glaubte, in Bayreuth Hitler mit Wagner zu fiktionalisieren, also zum bloßen Gespenst der Phantasmagorien von Stubenhockern werden zu lassen, hatte er den Todesstoß dieses Verrats der Kunst an der Kultur und dem Religionsersatz in sich gespürt. Diesem tödlichen Wagner-Kultdienst wollte er in die offenen Räume Afrikas entkommen. Aber „Zurück zu den Afrikanern“ hieß nur Ausweitung des Kultdienstes, um die Kunst wie einen Sündenbock endlich in den Wüsten krepieren zu lassen. Aus diesem Konflikt zwischen Kunstautonomieanspruch und Kultdienstseligkeit kommt niemand heil heraus. In ihm zu bestehen, ist schon Tat der größten Vergeblichkeit: Scheitern als Chance zur Selbstbestimmung des Endes – Schlingensief hat bestanden mit schier unglaublichen Arbeitspensa und der Heiterkeit des Illusionslosen.

Zur Lage

Nach 600 Jahren größter Anstrengungen von Künstlern und Wissenschaftlern, sich aus der Bevormundung, ja Zensur von Kulturen und Religionen zu befreien und nur noch eine Autorität, nämlich die Autorität durch Autorschaft anzuerkennen, scheint ja gegenwärtig endgültig das schon von Hegel prognostizierte Ende aller Autorität durch Autorschaft gekommen. Gerade eben gelingt es dem Universalkapitalismus weit radikaler als allen Nationalisten und Sozialisten zuvor, Wissenschaftler zu bloßen Funktionären der Wissensindustrie und Künstler zu Dekorateuren der Konsumzentralen werden zu lassen: Gestalter von Geltung durch Geld. Schlingensief kannte die historische Auseinandersetzung sehr gut und hat sich gegen die „internationale Rebarbarisierung“, also gegen die Heimkehr der Künste in den Schoß der göttlich legitimierten Kulturen, vehement gewehrt. Das erweckte den Eindruck, er mache gutgelaunt den Anarchoclown angemaßter Kulturautonomie gegen die unerschütterlichen Gewissheiten der Kultseligen, der Fanclubs, Säufervereine, der Kulturschaffenden vom Typus der „Begrüßungskultur, der Mafiakultur, der Trauerkultur, der Verzeihungskultur“ und aller tausend weiteren Blödsinnigkeiten, über die E. Henscheid so akribisch Buch führt. Zwar hatte C. S. überdeutlich auf der Differenz von Kirche + Bühne, von Riten/Liturgien einerseits und Performance-Regie andererseits bestanden: Er baute die Herz-Jesu-Kirche in der Werkhalle zu Duisburg nach und betonte, „Tötet Kohl!“ nur auf der Bühne gefordert zu haben (also nicht im politisch-sozialen Raum) – aber am Ende rächte sich die Gesellschaft der Kulturschaffenden (siehe oben), indem sie C. S. selbst zum Kult erklärte: „Heute sind seine Filme selber Kult“ (3sat).

Namenskunde

Bot nicht Schlingensief auch starke Anreize für die so effektvollen Missverständnisse?
Wie oft habe ich dem theologisch überformten Messdiener klarzumachen versucht, er solle nicht Kirche spielen wollen, um die Geheimnisse des Glaubens experimentell zu entschleiern!
Transsubstantiation, so demonstrierte ich, ist normale, wenn auch nicht banale Alltagserfahrung und kein frommer Kirchenzauber! Sagen wir nicht täglich zu Lamm und Gemüse, zu Brot und Wein: „Werdet mein Leib, mein Blut, denn sonst gehe ich ein wie eine Primel“ (mein diesbezügliches Actionteaching im Dada Club Voltaire in der Spiegelgasse zu Zürich nahm Christophoros ziemlich kühl auf)? Und wird nicht das Wunder der Auferstehung tausendfach täglich bewiesen, wenn wir die Repeat-Tasten drücken? „Mach Dir keine Sorgen, Du wirst auf allen Schirmen auferstehen, weil Tausende die DVD mit Deinen Arbeiten abspielen, die mehr zeigen, als Du je hast zeigen können!“ Tragikkomisch ist schließlich seine Missinterpretation des Taufnamens. Er beklagte sich, von Christus alleingelassen zu sein, obwohl der ihn doch tragen sollte! Aber umgekehrt wäre er namentlich verpflichtet gewesen, Christus zu tragen, aber ich bin nur ein Minderbruder der Gotteskennerschaft. Deshalb empfahl ich Schlingensief höhere Weisheit der lebenden Dichter Thomas Maria Kapielski und Hans Frosch Imhoff, die ich geprüft hatte, ob der sakramentalen Kraft ihrer besten Zeilen, denn Fluxus bietet eben kein Sakrament. Der Mensch ist gottesfähig, capax dei, sagte ihm Kapielski. Er folgte ihm leider nicht, sondern ließ dramaturgische Windhuster und theologische Pneumarassler Illusionsballons aufblasen, die dann mit Rückstoßgezappel kläglich verendeten: Zum Beispiel dem der Behauptung von Jürgen Flimm, alle versammelten Theaterregenten „wüßten nun gar nicht, wie das Theater überhaupt ohne Schlingensief weitergehen könne“. Er hätte bessere Gegner als solche Postfest-Bewunderer, genannt Kulturschaffende, verdient. Christophoros hatte keinen Glauben, denn er wollte nicht glauben, dass die Technik verwirklichte Theologie sei (Auferstehung durch Wiederaufführung) und der alltägliche Stoffwechsel als höchstes Wandlungsgeschehen verstanden werden sollte. Wie selbstbewusst hatte doch Frank Zappa auf dem Klo dem Metabolismus gehuldigt – Schlingensief wollte nicht mehr aufs Töpfchen. Er glaubte nicht, wollte nicht glauben müssen, sondern hoffte immer auf die Widerlegung seiner Zweifel und seiner Angst vor Vergeblichkeit. Er forderte die Widerlegung geradezu heraus durch hingeschluderte Gelegenheiten, ihm Paroli bieten zu müssen mit überzeugenden Gegendarstellungen. Huldigungen an sein „Talent“, „geniales Schöpfertum“ gar waren ihm dagegen höchst verdächtig, obwohl er gerne „jedermanns Liebling“ sein wollte und auch war. Er traute seinen Einfällen nicht, verachtete Bühnenzauber wie Kirchenzauber – er wollte gerade durch Entzauberung aufklären – also durch Enttäuschung. Und war von sich selber enttäuscht wie jeder Avantgardist.

Fügung

Der Geist gebiert Ungeheuer, wenn er sich religiös und kulturell legitimiert. Dagegen richtet sich aller Abwehrzauber dadaesker Fügung des Unfugs und alle Sinnkritik durch Unsinn. Das ist riskanter, als Künstler zugeben wollen, Hugo Ball hat es programmatisch dargestellt: Glaube, Liebe, Hoffnung sind stärkere Mächte sozialer Bindung als Vernunft, Verantwortung und Voraussicht. Letzteren dreien als Individuum gerecht werden zu wollen, hat den hohen Preis, ein hoffnungsloser Glaubenshäretiker, ein asozialer und liebesunfähiger, bindungsloser, vaterlandsloser, heimatloser Quertreiber, also Provokateur genannt zu werden, den man aber jederzeit erledigen kann, indem man ihm die Chance bietet, Massen zu bewegen und damit selber Träger von Kulturmission zu werden. Dagegen schützt nicht einmal der Tod – im Gegenteil: Märtyrer sind immer Kultzentren. Der Krampf geht also weiter – auch im Fall der C.S.-Familie oder seiner Fanatikergemeinde, Fan kommt schließlich von fanatics!

siehe auch: