Magazin Der SPIEGEL 20/1998

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Der SPIEGEL 20/1998

Erschienen
11.05.1998

Verlag
Axel Springer Verlag

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
20/1998

Seite 96 im Original

„Ein moderner Diogenes“

Bazon Brock über Geschmack, Ironie und Guildo Horns politische Sendung

Brock, 61, lehrt als Professor für Ästhetik an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal.

SPIEGEL: Herr Brock, was empfinden Sie als Berufsästhetiker beim Anblick von Guildo Horn? Gruselt es Sie?

Brock: Nein. Was er macht, ist sekundär. Es kommt nur darauf an, wie das Publikum auf ihn reagiert. Seine Fans beweisen einen hohen Geschmack, weil sie in der Lage sind, Herrn Horn von den sonstigen Angeboten zu unterscheiden. Geschmack beruht auf der Fähigkeit zu unterscheiden. Es kommt nur auf die Kriterien an.

SPIEGEL: Welche erkennen Sie hier?

Brock: Die sind durch Horns souveräne Initiativen gegen diverse Schuldvorwürfe gegeben, gegen den Kitsch-Vorwurf, gegen den der Banalität oder gegen den Vorwurf des Banausentums.

SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig: Indem Horn diese drei Todsünden gegen den guten Geschmack begeht, hebt er sie gleichzeitig auf?

Brock: So ist es. In der Postmoderne können ernsthafte Dinge doch nur noch indirekt abgehandelt werden. Wenn Sie heute einen politischen Gedanken loswerden wollen, müssen sie ein Kabarett veranstalten. Und das einzige Kriterium, sich nicht als wahnhafter, heilsgeschichtlicher Erfüllungsgehilfe zu erweisen, besteht darin, seine eigenen Ansichten ironisch zu brechen.

SPIEGEL: Woran liegt es, daß viele Deutsche diese Qualität an Horn partout nicht erkennen können?

Brock: Das sind natürliche Reflexe, Schutzmechanismen, bis sich dann herausstellt, daß einem kein Unheil droht durch die Annahme eines neuen Geschmackskriteriums. Das geht schnell.

SPIEGEL: Sie glauben, daß sich die Horn-Hysterie bald wieder legt?

Brock: Wahrscheinlich. Dann gehört das Phänomen zur Alltagskonvention. Hem wird der Gesellschaft helfen, sich gegen fundamentalistische Attacken zu wehren.

SPIEGEL: Im Ernst?

Brock: Aber ja, wir Intellektuelle gaukeln uns doch vor, daß wir gegen Dogmatismus gefeit sind, dem ist aber gar nicht so.

SPIEGEL: Dann manifestiert sich in Guildo Horn also tatsächlich die Kapitulation vor der Komplexität der Welt?

Brock: Nein, es ist die Bewältigung dieser Komplexität. Ironie ist eine Möglichkeit, auf Distanz zu gehen und das Objekt von allen Seiten zu sehen.

SPIEGEL: Wollen Sie den feisten Schlagersänger mit seinem monotonen „Piep, piep, piep“ etwa mit anerkannten Ironikern wie Thomas Mann vergleichen?

Brock: Der Autor der „Buddenbrooks“ war der Typ des romantischen Ironikers, gebunden an das bürgerliche Bildungsgebaren. Horns Attitüde knüpft sich an das Motto: Wir sind nicht gebildet, und es nützt überhaupt nichts, es zu versuchen. Das ist die Ironie gegenüber der Ohnmacht, während Thomas Mann die klassische Ironie gegenüber der Macht vertrat.

SPIEGEL: Dann ist Guildo Horn also gänzlich unpolitisch?

Brock: Im Gegenteil: Er ist im höchsten Maße politisch. Auffallend ist doch die Kennzeichnung des Mannes als „Meister“. Man spricht ihn so an, zeigt aber nicht mehr das Verhalten, das man traditionell einem Meister entgegenbringen würde. Das Publikum hat längst kapiert, daß Experten nicht die Wahrheit produzieren, sondern die Probleme. Experte ist man heute nur im Finden und Behaupten von Problemen.

SPIEGEL: Der singende Nußeckenfreund ist mit seinem langem Haar und dem wabbelnden Bauch ja schon ein ästhetisches Problem an sich.

Brock: Ein allgemein gültiges Schönheitsideal, das sich im Bodybuilding-Studio manifestiert, ist heute nur noch in der negativen Gestalt zu thematisieren, durch Schmerbauch, verfilztes Haar oder abgeknabberte Fingernägel, das heißt: Vom Wahren können wir nur noch mit Blick auf das Falsche reden. Das sagt uns Guildo, und da steht er in der Tradition von Till Eulenspiegel, Nietzsche oder dem braven Soldaten Schwejk: Alles auf den Tisch, bis er bricht.

SPIEGEL: Da müssen Sie ja die Proll-Deutschen vom „Ballermann 6“ mögen, die so viel trinken, bis sie auf den Tisch brechen.

Brock: Diese Leute sind die losgelassenen Frontschweine des Konsums, die sich gegen alle Konventionen durchsetzenden Menschheitsansprüchler. Die kontert Guildo Horn. Er macht die Abhängigkeit von der unerfüllbaren Sehnsucht nach Stabilität, nach Heimat und ethnischer Homogenität vollkommen durchschaubar. Er ist eben ein brillanter Volkspädagoge, ein moderner Diogenes auf dem Politmarkt. Wer zwischen der Glaubwürdigkeit von Herrn Kohl in Brüssel und der von Herrn Horn in Birmingham zu wählen hat, wählt zu Recht Horn.

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