Autor und Sprecher: Professor Bazon Brock
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 5. Juni 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
Ansage:
Mit dem Thema: „Kompetent und selbstbewusst – der Profibürger."
An der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe läuft ein eigenwilliges, fast skurriles Projekt, das viel Erfolg hat. Man kann sich dort in mehreren Studiengängen zum Profibürger ausbilden lassen, und zwar in folgenden Bereichen: Man kann Diplom-Bürger werden, Diplom-Patient oder Diplom-Gläubiger. Das Ganze ist kein Scherz, es ist ernst gemeint, es geht um ein neues Leitbild: Um den selbstbewussten Bürger, der sich nichts vormachen lässt, der Verantwortung übernimmt und reflektiert handelt.
Bazon Brock, Professor für Ästhetik an der Uni Wuppertal, ist neben dem Philosophen Sloterdijk einer der Initiatoren des Projekts. In der SWR2 Aula erläutert er die Zielsetzungen.
Bazon Brock:
Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, die „Wutbürger“, die sich jetzt beispielsweise im Stuttgarter Projekt 21 zur Geltung gebracht haben, mit Verhaltensweisen und Kenntnissen auszustatten, die aus der Wut ein zielgerichtetes Argumentieren und vielleicht sogar Kompetenz zum Eingreifen machen. Das sind dann die „Mutbürger“. Von der Wut – das ist ein notwendiger Impuls, um sich zu engagieren, weil man betroffen ist – hin zu Mut, sich einzumischen, vor allen Dingen da, wo es scheinbar um Sachzwänge geht, die nicht anders entschieden werden können und wo die Fachleute sagen, wir müssen unter uns bleiben, wir wollen keine Mutbürger, weil jede externe Intervention eigentlich nur Zeit kostet.
Professionalisierung heißt, jemandem durch vormachen, demonstrieren, durch ein Beispiel geben zeigen, wie man seine Impulse, aktiv werden zu wollen, auch sinnvoll in die Wege leitet und vor allen Dingen, wie man sich selbst dabei stabilisiert und nicht die Erfahrung macht, man hätte zwar alles versucht, aber es sei alles vergeblich gewesen. Denn bei Spontanimpulsen des Handelns ist das Gefährlichste, dass nach kurzer Zeit die Beteiligten das Gefühl haben, es war ja alles für die Katz‘. Das ist sehr gefährlich für die Beteiligten selbst, nicht nur, weil es zu Resignation führt, sondern es führt zum Verlust der Selbstwürdigung.
Und da sind wir beim ersten Punkt unserer Professionalisierungskampagne. Im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die unantastbare Würde ist aber nur dann gegeben, wenn jemand gewürdigt wird. Also ist Würde nur durch Würdigung möglich. Man muss also lernen, etwas angemessen zu würdigen. Dadurch erhält man selber Würde. Man wird würdig durch die Fähigkeit, andere zu würdigen. Und das nicht im Sinne von „Ich nenn dich Schiller, nenn du mich Goethe“, sondern tatsächlich im Hinblick auf das, was in diesem Aspekt der Würde als das „Vermögen zu würdigen“ steckt. Beim Schenken ist das gut zu erklären: Es ist viel schwerer, sich beschenken zu lassen, als zu schenken, viel schwerer, sich für ein Geschenk zu bedanken, als es zu geben. Würde heißt, man muss die Fähigkeit
haben, mit gutem überzeugendem Grund zu würdigen, nicht opportunistisch, nicht jemandem nach dem Munde reden, sondern aufgrund der Fähigkeit, tatsächlich sagen zu können, was einem an dem anderen an Schönheit, würdigbarer Aktivität und Verhaltensweisen aufgefallen ist.
Anstalten, in denen man lernt, wie man würdigt, sind zum Beispiel Museen. Da lernt man archäologische Reste, Tonscherben oder kleine Lehmklümpchen aus 6.000 oder 8.000 Jahren Vergangenheit zu würdigen im Hinblick auf Fragen wie: Was ist das? Wer hat das gemacht? Zu welchem Zweck diente das? Das sind alles Zugänge zur Würdigung, bis man am Ende seiner enthusiastischen Erfülltheit von der eigenen Fähigkeit, das zu würdigen, zu einer Art von Selbstwürdigung kommen kann. Wir nennen diesen ersten Punkt: Radikale Selbstwürdigung.
Warum ist das so notwendig geworden? Weil seit ungefähr 15 Jahren die Gesellschaft aus verständlichen Gründen, etwa aus Gründen der Globalisierung nicht mehr von Berufstätigkeit spricht, sondern vom Jobben. Selbst Ärzte haben heute einen Job, geschweige denn Straßenkehrer, Müllmänner etc. Es geht um die, die man abqualifiziert als bloße Jobber – und das hat man sich ja angewöhnt mit den Job-Zentren, mit der Bezeichnung der Arbeitssuchenden als Job-Suchende etc. – , das ist eine Entwürdigung. Wenn ich zu jemandem sage „Du hast einen Job“ – wo ist da die Basis einer Würdigung? Wenn ich sage: „Der hat einen Beruf“, dann ist die Basis der Würdigung, dass er etwas kann, gelernt hat und mit Hingabe und Interesse arbeitet. Nachdem wir alle Jobber geworden sind, inklusive Ärzte, Professoren – gucken Sie sich das mal an, es heißt tatsächlich heute „ein Arzt-Job an der Klinik“ – ist diese Art der Selbstwürdigung verloren gegangen. Und das muss man den Leuten wieder beibringen. Also den bloßen Wutbürger den Mut zur Selbsterfahrung ermöglichen unter dem Motto: Worauf stütze ich mich eigentlich in meinem Glauben, dass ich etwas besser kann, besser weiß als andere? Das ist Punkt Nummer eins: radikale Selbstwürdigung zu lernen, indem man lernt, anderes und andere zu würdigen, und zwar mit Sachargumenten und in dienlicher Kooperation mit anderen. Das ist sehr schwer geworden.
Der zweite Punkt heißt: Wie komme ich heute dazu, mich zu sozialisieren? Was ist die Form, die Einsicht, die Situationsanalyse, die mich zwingend dazu bringt zu sagen, als Einzelgänger habe ich keine Chance, ich muss mich mit anderen zusammentun, wir müssen im Team arbeiten? Das ist der zweite der fünf Hauptpunkte des Programms. In herkömmlicher Weise sagt man, Menschen gesellen sich, weil sie die gleiche Religion haben, in die gleiche Sprachgemeinschaft hineingewachsen sind, die gleichen Kochrezepte verfolgen, kurz: all das, was man zur Kultur gehörig nennt. Das heißt, sie vergemeinschaften sich, weil sie zur gleichen Kultur gehören. Dieses althergebrachte, von allen Psychologen, Soziologen, Anthropologen vorgetragene Argument für die Notwendigkeit, sich zu
vergesellschaften, fällt aber weg, wenn wir alle weltweit in städtischen Großräumen leben, in denen nicht eine Kultur, sondern Dutzende von Kulturen im gleichen Aktionsraum tätig sind, man sich also gar nicht unter Berufung auf die Zugehörigkeit zur gleichen Kultur fortbewegen kann. Dann müsste man fortwährend auf Leute stoßen, die sich nicht sozial verhalten wollen, weil sie nicht zur selben Kultur gehören. Worin liegt also der wahre Grund für die Notwendigkeit, mich mit anderen zusammen zu tun?
Und das ist ein ziemlich wichtiges Element unserer Arbeit mit den Bürgern seit ungefähr 40 Jahren. 1968 habe ich damit angefangen, die Wähler, die Rezipienten, die Konsumenten zu schulen in diesem Sinne, dass sie kapieren, welche ungeheuerliche, sensationelle Entfaltung das Demokratieverständnis inzwischen genommen hat. Da geht es um die Frage, was begründet eigentlich unseren Anspruch auf Gleichheit, auf Freiheit, auf – sagen wir – Adressierung auf die Menschenrechte, auf Anspruch zu einer derartigen Selbstwürdigung?
Das ist sicherlich nicht mehr durch die Tatsache begründet, dass ich etwas Besonderes kann und mich deswegen alle anderen schätzen. Denn etwas zu können heißt, dass ich mich in einer Informationsgesellschaft mindestens 16 Stunden pro Tag mit meinem kleinen Spezialgebiet, zum Beispiel mit der Nebenniere, beschäftigen muss. Ich muss lernen, lernen, lernen, arbeiten, arbeiten, arbeiten, dann habe ich was Besonderes zu bieten. Aber wenn ich mich 16 Stunden am Tag mit meinem kleinen Spezialgebiet „Nebennierenrindenproblematik“ beschäftige, habe ich in 99,99 Prozent aller gesellschaftlich zur Entscheidung anstehenden Fälle keine Ahnung mehr. Da wir in einer Informationsgesellschaft alle gezwungen sind zur Arbeitsteilung, zur Spezialisierung, heißt das, dass wir gerade in dem Maße, wie wir spezialisiert werden, immer dümmer werden, dümmer nämlich im Hinblick auf die allgemein anstehenden Entscheidungen. Denn jeder Spezialisierte ist ja nur in einem ganz schmalen Sektor überhaupt kompetent.
Es kann also nicht sein, dass wir uns auf unsere Meriten verlassen in unserem kleinen Gebiet, denn in einem kleinen Gebiet Meriten zu haben, etwas zu können, etwas Einmaliges anbieten zu können, das auch hoch bezahlt und hoch geschätzt wird, bedeutet ja gerade, in allen anderen Hinsichten zu verblöden.
Zweitens: Man weiß: Je mehr jemand sich in einem Gebiet spezialisiert, also forscht beispielsweise, desto größer werden die Probleme. Denn forschen heißt, in immer weitergehender Weise einen Sachverhalt im Hinblick darauf zu betrachten, was an ihm problematisch ist und was man nicht weiß, nicht beherrscht etc. Der Fortgang der Forschung führt also zur immer weitergehenden Vergrößerung aller Probleme statt zur Verringerung.
Drittens: Probleme können prinzipiell nicht gelöst werden, denn wenn sie gelöst werden könnten, müsste man sie einfach lösen und hätte gar kein Problem. Aber wir haben dauernd Probleme, eben weil sie nicht lösbar sind, weil alle entscheidenden Probleme gerade deswegen wichtig sind, weil sie nicht lösbar sind. Also ist der Wissenschaftler vom Problemlösungsspezialisten – in der Einsicht, dass durch die Lösung aller Probleme wieder neue geschaffen werden – zu einem Problemschöpfer geworden, das heißt, zu einem, der die Themen vorgibt und auf das hinlenkt, was in einer Gesellschaft extrem interessant sein muss, weil das Überleben des Sozialverbandes oder vielleicht sogar der Menschheit davon abhängt.
Diese drei Dinge zusammengenommen, muss man also sagen, dass der Profibürger kapieren muss, dass, wenn wir uns zusammenschließen, um gemeinsam über unser Schicksal zu entscheiden, wir in Wahrheit nicht auf der Basis unserer Kompetenz arbeiten, sondern auf der Basis unserer Inkompetenz. In allen anderen Bereichen außerhalb meiner kleinen Nebennierenrindenproblematik, die ich untersuche, bin ich ein absoluter Dilettant. Das heißt, alle sind im Hinblick auf alle politischen Fragen mehr oder weniger Dilettanten. Die Demokratie ist die einzige Verfassung einer Gesellschaft, die nicht auf der Übermacht des Wissens, Könnens basiert, sondern auf der Einsicht, wir wissen nichts, wir können nichts und wir haben nichts. Denn gerade dadurch, dass wir so viel wissen, entsteht noch mehr Nicht-Wissen, gerade dadurch, dass wir so viele Probleme angehen, entstehen mehr Probleme. Mit anderen Worten: Es ist klar, dass wir uns nicht darauf verlassen können, die Themen loszuwerden, denn durch die Art, wie wir sie loswerden wollen, schaffen wir pausenlos neue.
Jetzt komme ich auf die Vergesellschaftung zurück: Wie funktioniert ein Zusammenschluss von Menschen, der darauf beruht, dass alle Beteiligten sich eingestehen, in Wahrheit wissen wir gerade durch zuviel Wissen immer weniger? Wie steht unser Vermögen, Sachverhalte zu beherrschen im Sinne von erledigen, im Kontrast zu der faktischen Erfahrung, dass jede Problemlösung neue Probleme schafft? Das ist eben die demokratische Begründung der Gleichheit der Menschen in der neuen Form. Und das ist unsere Intention der Bürgeruniversität. Nämlich: Wir gehören nicht einer gemeinsamen Sprach-, Essens- oder Kulturgemeinschaft usw. an, sondern wir gehören gemeinsam einer Weltgesellschaft von Menschen an, die alle mit den gleichen Problemen konfrontiert sind, die sie alle gleichermaßen nicht lösen können, der gegenüber sie keine Machtmittel einsetzen können (keine Atomkraft, keine Militärs usw.). Mit anderen Worten: In Zukunft haben Menschen nicht ihre Sprache gemeinsam, ihre Kulturgemeinschaft, ihre Ess-Sitten gemeinsam, sondern die Probleme haben sie gemeinsam.
Nehmen wir das Beispiel Ökologie: Ökologie macht vor keiner Sprach-, Kultur- oder Konsumgrenze Halt. Das ist ein universales Problem, für das kein Mensch eine Lösung hat, weil jeder neue Ansatz einer Lösung neue Probleme schafft. Das Aufgeben der Atomkraft als ein Problem, das man loswerden will, schafft uns auf der anderen Seite natürlich neue Probleme durch die Verschandelung der Landschaft durch Windräder, der Zerstörung des Lebensraumes von Vögeln. Die Rettung dieser Welt vor atomarer Strahlung heißt gleichzeitig zum Teil ihre Zerstörung: Landschaftszerstörung, Heimatzerstörung. Sie sehen, was die grundlegenden Voraussetzungen dafür sind, dass man heute miteinander auf sinnvolle Weise zu kooperieren gezwungen ist, aus innerer Einsicht. Ich weiß angesichts unserer Probleme gerade durch meine Hochspezialisierung gar nichts, ich kann nichts und ich habe nichts, ich habe keine Machtmittel. Das klingt von Ferne wie eine sokratische Tugend, weil Sokrates ja schon gesagt hat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Aber um zu wissen, dass man nichts weiß, muss man ungeheuer viel wissen.
Unser Projekt basiert auf keinem Relativismus: es ist keine Gleichgültigkeit, keine Koketterie, sondern tatsächlich die Einsicht in das, was Forschung heißt. Je mehr ich forsche, je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich nicht. Also wächst mit dem Fortschritt des Erkennens, des Entdeckens der Teil dessen, was nicht erkannt wird, was erst als neuer Kontinent, als neues Problem zu erforschen ist. Professionalisierung der Bürger veranlasst sie also einzusehen, dass ihre neue Form von Gesellung, von Gemeinschaft darauf beruht, dass sie so psychisch stark sind, so persönlichkeitsgereift sind, dass sie nicht in Ideologien ausweichen, nicht in spiritistische Zirkel ausweichen angesichts der Unlösbarkeit der Probleme, sondern gerade sagen: „Moment, ich weiß nichts, ich habe nichts, ich kann nichts. Du auch nicht. Wie werden wir damit fertig?“ Das heißt, anstatt Probleme lösen zu wollen, müssen wir den Umgang mit ihnen lernen. Der alte Begriff in England hieß „management“. Der ist aber heruntergekommen. Ursprünglich, in den 1840er Jahren, hieß „managen“ nicht Problem lösen, sondern auf sinnvolle Weise mit ihnen umgehen anstatt sich die Allmachtsphantasien von bestimmten Politikern, Machtpotentaten oder Unternehmern anzueignen. Dieser Triumphalismus der Experten zur Lösung von Problemen hat sich völlig erledigt, den glaubt keiner mehr, denn inzwischen haben alle die Erfahrung gemacht, dass mit einer angeblichen Problemlösung nur neue Probleme entstehen. In den 1950er Jahren hat man die Atomkraft als saubere Lösung von Energieproblemen propagiert. Und was hat man gesehen? Atomkraft als Lösung für die Energieprobleme ist heute das Ausgangsproblem. Jetzt beschäftigen wir uns gerade mit dem Lösen des Problems der angeblichen Problemlösung. Und so geht das immer weiter.
Was braucht man für Fähigkeiten, um sich mit anderen Menschen anderer Kulturen, Sprachen notgedrungen angesichts derselben Problematiken zu vergesellschaften, sich zusammen zu tun? Wie wird man ein Weltbürger? Wie wird man psychisch stabil, um nicht Spiritisten, um nicht Verführern oder Ideologien ins Netz zu gehen, sondern zu sagen: Redet uns nie mehr von Problemlösung, sagt uns, wie man intelligent damit umgeht, dann können wir mit euch verhandeln. Erzählt uns nicht, ihr könntet mit Macht, mit Militär, mit Geist oder was auch immer die Welt in eine euch nützlich erscheinende Weise verwandeln, so dass es bequem, paradiesisch und mühelos läuft. Das ist alles ausgeschlossen. Und das ist das Programm unseres Profibürger-Studienganges: Diplom-Patient, Diplom-Konsument, Diplom-Rezipient, Diplom-Gläubiger, Diplom-Wähler.
Mit dem Profibürger beleben wir wieder den Gedanken der Akademien. In der alten Akademie-Zeit, sagen wir mal 17. Jahrhundert in Frankreich, gab es viele intelligente Leute, die sich aus der Universalsprache Latein auf ihre Regionalsprachen, auf ihre Muttersprache verlegten. Man befreite sich, kam zurück zur Muttersprache, hatte eine unglaubliche Kapazitätsentfaltung im Wissen und im Können und machte die betrübliche Feststellung, was nützt es denn, wenn in London 700 Leute interessante Dinge schreiben können, wenn keine Leser da sind. Wir gründen also eine Akademie, in der alle Teilnehmer sich wechselseitig garantieren, dass du schreibst, würdige ich, weil ich lese, was du schreibst. Alle Mitglieder haben sich wechselseitig die Versicherung abgegeben, durch das Sehen, Zuhören, Lesen die Sinnhaftigkeit von Musizieren, von Malen oder Schreiben zu garantieren.
Das ist heute wieder der Fall. Überall wird nur gepinselt, überall wird nur geschrieben – wo sind die Leser? Selbst Fachzeitschriften in den USA wie „Science“, „Nature“ und andere klagen darüber, dass niemand mehr die Kurzfassung der Artikel liest, geschweige denn die Langfassung. Man liest sie nur, um sie patentrechtlich auszubeuten oder andere Leute zu hintergehen und deren Eigentum für sich selbst zu nutzen. Das ist der einzige Grund. An intellektuellen Prozessen ist kein Mensch mehr interessiert. Es wird also nicht mehr gelesen.
Die Profibürger-Versammlung ist die Versammlung, in der alle Beteiligten sich wechselseitig garantieren: Wenn unsere Teilnehmer Schreiber sind, garantieren wir die Sinnhaftigkeit ihres Schreibens, weil wir lesen, was sie schreiben; wenn es Komponisten sind, gehen wir zu den Konzerten, weil wir uns darauf vorbereiten, auf gleiche Weise dem entsprechen zu können, was der Komponist als Hersteller gelernt haben muss. Das Gleiche haben wir gelernt, um sinnvoll hören zu können.
Also ist die Bürgerversammlung im Sinne dieser Profibürger-Auffassung eine Akademie von den Leuten, die sich auf empathischem Wege wechselseitig garantieren, dass das, was man tut, sinnhaft ist.
Ich möchte den Profibürger kurz am Beispiel des kompetenten Patienten erläutern:
Jeder weiß, wie ungeheuer wichtig seine Fähigkeit ist, den Aufenthalt in einer Klinik zu überstehen. Sonst kommt er nämlich kränker aus dem Krankenhaus zurück, als er reingegangen ist. Das werden heute sogar die Krankenkassen und die Klinikärzte selbst bestätigen. Jeder kennt ja die große Gefahr, sich im Krankenhaus mit Keimen anzustecken, also benötigen wir Patienten, die diese Gefahr kennen und die mit aufpassen, dass sie sich nicht anstecken. Das heißt, der Patient trägt Verantwortung für das, was mit ihm geschieht. Rechtlich ist das sowieso der Fall, denn wenn ich in die Klinik eingeliefert werde, muss ich unterschreiben: Hiermit übernehme ich (in rechtlicher, d. h. finanzieller Hinsicht) die Verantwortung für das, was man mit mir macht.
Der für sich selbst verantwortliche Patient, das ist eine ungeheure Zumutung für die meisten Zeitgenossen, die deswegen völlig überwältigt sind und natürlich gerne sich in die Obhut der Ärzte geben wollen, vertrauensvoll, das ist auch alles verständlich. Aber die Ärzte haben nicht mehr die Zeit, sie haben aufgrund der Abrechnungsverordnungen, aufgrund der Dienstvorschriften, aufgrund der Arbeitsablaufprozesse gar nicht mehr die Möglichkeit, sich ans Bett des Patienten zu setzen und jemandem 20 Minuten die Hand zu streicheln, damit der zu sich selbst und zu seinem Zustand wieder Zutrauen bekommt, weil er sieht, dass andere sich bemühen und sagen, es ist noch Hoffnung da. Das gibt es eben nicht mehr. Also muss man das selbst in die Hand nehmen.
In unserem Ausbildungsprogramm durch zwei Klinik-Chefs aus Aachen wird das Modul „Der kompetente Patient“ besonders nachgefragt: Wie werde ich ein mündiger, d. h. professioneller Bürger? Mündig im Sinne von „ich kann das beurteilen“, Profi im Sinne von: ich kann sagen „Halt, Sie sollen nicht mit dem gleichen Tuch die Leiste am Fußboden aufwischen wie meinen Patiententisch“. Und sobald der Patient anfängt, in seinem eigenen Interesse sich verantwortlich zu fühlen für das, was da abläuft, ändert sich die Lage.
Und jetzt komme ich zu einem ganz wichtigen Stichwort unseres Projekts: es geht um Aufklärung, Selbstbestimmung, und es geht auch um die Einsicht, dass wir uns nicht nur rational verhalten, sondern auch irrational. Rationalität ist das Wissen um die Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens. Wenn ich Grenzen meines eigenen Aussageanspruchs setze, erzeuge ich gleichzeitig das Jenseits der Grenze ganz automatisch. Es ist mit dem Begriff der Grenze verbunden, dass, wenn ich diesseits der Grenze rational argumentiere, notwendigerweise die andere Seite in den Blick bringe, nämlich die Irrationalität. Mit anderen Worten: Der westliche Rationalismus ist derjenige, der einen vernünftigen Gebrauch von der Orientierung auf das Irrationale ermöglicht. Rationalität erzeugt Irrationalität als Komplementarität, nicht mehr als dialektische Vermittlung. Das steckt ebenfalls in unserem Projekt, die Ablösung von der einseitigen Rationalität.
Man muss also als Welt-Bürger lernen: Wir im Westen sind nicht nur rational, alle anderen sind irrational, sondern wir müssen die andere Seite der Rationalität entdecken, unsere Wut, unsere Emotionen, unsere Liebe. Wenn die Eltern der Tochter sagen: „Mein Kind, Du willst diesen Idioten heiraten? Der hat keine Ausbildung, der hat noch nicht mal die Mittlere Reife geschafft, der hat kein Haus, kein Vermögen. Warum heiratest Du den? Das ist völlig unsinnig zu heiraten, denn heiraten ist eine soziale Bindungsform mit bestimmten kalkül-strategischen Überlegungen, Kosten-Nutzen-Rechnung etc.“ Dann sagt die Tochter: „Siehst Du, Mutter, Du hast völlig recht: Er hat nichts, er kann nichts, er weiß nichts. Und wenn ich mich ihm hingebe und binde, dann ist das genau der Ausdruck des Jenseits des Kalküls, der Ausdruck der Absurdität im religiösen Sinn oder der Liebe im christlichen Sinne."
Die Bürger müssen lernen, Aufklärung im wahren Sinne – vorkantisch sozusagen – oder nachkantisch zu sehen, denn Hegel hat diesen Einwand Kant gemacht: „Lieber Kant, wenn du die Grenzen der menschlichen Erkenntnis festlegst, erzeugst du zwangsläufig das Jenseits der Erkenntnis.“ Die wahre Aufklärung heißt, wer auf Rationalität besteht, muss lernen, einen vernünftigen Gebrauch von der Unvernunft zu machen.
Das ist grundlegend für die Bürgerakademie, für die Ausbildung des Profi-Bürgers. Er ist deswegen professionalisiert. Er ist in der Lage, mit sich selbst als Gegenstand seines eigenen Handelns umzugehen. Das nennt man Reflexivität. Er hat ein wohlverstandenes Interesse an sich selbst, denn er will lernen, sich selbst zu würdigen, und dazu muss er anderes würdigen können, dazu braucht er gewisse Kenntnisse und Vorgaben. Dazu gehört auch das Wissen, dass es jenseits der Rationalität auch das Irrationale gibt, erst beides macht uns zu Weltbürgern, die sich nicht mehr als angeblich rationale Wesen von anderen angeblich irrationalen Kulturen abschotten.