Vortrag / Rede Unser Afghanistan?

Originaltext zur Ausstellung Bazonnale Afghanistan 2010

Termin
22.09.2010, 19:00 Uhr

Veranstaltungsort
Weimar, Deutschland

Veranstalter
Bazonnale - Michael Cremer

Length
28 min

Unser Afghanistan?

Minister Struck meinte, Deutschland werde in Afghanistan verteidigt. Dem antworten gegenwärtig Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler in Weimar mit der alternativen Behauptung, Deutschland werde in Afghanistan in Frage gestellt, oder gar abgeschafft, weil hier kaum jemand die Wirklichkeit anzuerkennen bereit ist, dass unser Afghanistanproblem in Europa liegt wie seit Shakespeares Zeiten Böhmen am Meer.

Von Künstlern lernen? Ja, gibt’s denn das? Was wäre denn schon bei denen zu holen, die mit größtem Aufwand an Energie und familiären Hilfskräften immer erneut beginnen müssen, einen Akt oder ein Sonnenblumenbouquet aufs Papier zu bringen oder gar teurer Leinwand aufzunötigen. Jahrhunderte lang immer wieder Stillleben und Porträt der Geliebten am offenen Sommerfenster – was ist daran beispielhaft? Die Antwort ist so simpel wie bedeutsam, denn die Quintessenz künstlerischer Erfahrung lautet: Es gibt keine Lösungen. Raffael löste nicht durch größere Begabung, höheren technischen Standard und den Fortschritt der Zeit die Probleme des künstlerischen Arbeitens, die sich seinem Lehrer Perugino gestellt hatten. Und Michelangelo schaffte nicht durch die noch weitergehende Entwicklung von Kenntnis und Technik des Gestaltens die Problemstellungen Raffaels aus der Welt und so weiter. Im Gegenteil, Perugino, Raffael, Michelangelo sind noch Jahrhunderte später, also in unserer Gegenwart, singuläre Erscheinungen, weil die Kunstgeschichte eben nicht durch den Fortschritt der Darstellungs- und Gestaltungsprobleme bestimmt wird. Die einzelnen Künstler sind gerade deshalb auf unabsehbare Zeit bedeutsam, weil sie niemand in ihrer Fähigkeit überbieten kann, Fragen zu stellen, die gerade deshalb bedeutsam sind, weil es auf sie keine Antworten gibt. Das gleiche gilt für Wissenschaftler, die sich nicht als Problemlöser, gar als Gott imitierende Weltenschöpfer verstehen können. Wer forscht, wird mit dem Fortgang der Arbeiten nur immer tiefer in ein Problem eindringen, dessen Dimension ohne die Forschung nicht einmal erahnbar ist. Anfänger glauben, sie könnten mit dem Einsatz von hinreichenden Forschungsgeldern und optimaler Organisation des Wissenschaftsbetriebs in kalkulierbarer Zeit das gewünschte Ziel erreichen – und das schreiben sie dann auch bedenkenlos in ihre Anträge auf Drittmittel.
Es spricht Bände für die intellektuelle Verkommenheit der Entscheidereliten, gerade Anträge positiv zu beantworten, in denen schon als profitables Resultat behauptet wird, was ja erst erforscht werden soll.

Also: Es gibt keine Lösungen, es sei denn, man akzeptierte pragmatisch das Schaffen von neuen Problemen als Lösung für alte. Energieknappheit wird in unüberbietbarer Weise durch die Entwicklung von Atomkraftnutzung beseitigt, allerdings um den Preis, nun sich noch größere Probleme mit der Absicherung gegen Verstrahlung und mit der Endlagerung von Brennelementen einzuhandeln. Immerhin kann man sich sinnvoll darauf einigen, dass das Schaffen neuer Probleme als Lösen der alten dann akzeptiert wird, wenn die Nachfolgeprobleme einzeln kleiner sind als das Ausgangsproblem. Genau das aber lässt sich ohne Forschung gar nicht beurteilen, die dann aber, siehe oben, dazu führt, dass Kenner selbst da noch Probleme sehen, wo man sie als Alltagsmensch mit langer Erfahrung nicht einmal vermuten würde.
Es bleibt also dabei: Es gibt keine Lösungen, sondern nur mehr oder weniger überzeugende Vorschläge, wie man mit den prinzipiell unlösbaren Problemen umgehen könnte. Das bezeichnet der Begriff „Management“ im ursprünglichen Sinne, was zu der Feststellung führt, dass wir leider kaum über Manager verfügen, aber reihenweise über gottanmaßliche Herrschaften mittleren Alters, genannt Master of the Universe, die z.B. als ehemalige C.E.O.s von Karstadt, Telekom, Mercedes Chrysler oder als Investementbanker das „E“ in C.E.O. als „Exekution“ verstehen. Natürlich wird nur noch selten mit der Guillotine exekutiert oder mit sozialer Auslöschung. Das elegante zeitgenössische Instrumentarium für Problemlösung als Auslöschung besteht aus robuster Gnadenlosigkeit, genannt Toleranz, aus Entgrenzungspathos der Globalisierung, genannt Freiheit, und aus Pornographie des Kapitals, genannt Konsumentenglück.
Da nun kommt die Kraft des künstlerischen Arbeitens voll zur Geltung: Probleme der Bedürfnisbefriedigung, z.B. nach Nahrung, sind prinzipiell nicht ein für alle Mal lösbar, weil eine befriedigende Mahlzeit nicht vor dem nächsten Hunger schützt. Bedürfnisse werden nicht durch Befriedigung gelöscht, sondern müssen ausgedrückt und zum Thema gemacht werden. Probleme werden nicht gelöst, sondern durch Ausdrucksvermögen, Geistesgegenwart und Forscherkraft so formuliert, dass im Idealfall sie weder geleugnet, verdrängt noch durch Zerstörung gelöscht werden können.

In Weimar bieten Künstler für vier Wochen die Gelegenheit, ihr eben angedeutetes Selbstverständnis auf die Wahrnehmung des „Problem Afghanistan“ zu übertragen. Der gewählte Ausstellungsort bietet einen zeitgeschichtlichen Rahmen, wie er passender nicht erfunden werden könnte: die gigantische Architektur der Waffenindustrie aus der Blitzkriegphase des Dritten Reiches mit Gleisanschluss nach Buchenwald repräsentiert bis zu ihrem Untergang als Standort der KET (mal KartoffelernteTechnologie, mal Kriegsernte-Theologie) die militärischen, technologischen und politischen Dimensionen unserer Wirklichkeit, also auch der afghanischen. Auch dort gab man sich den Illusionen blitzhafter Auslöschung von Gegnern durch gigantische Waffentechnologie hin. Man glaubte in Allmachtsphantasien, nach Belieben mit ein paar hergelaufenen Stammeskriegern, geprägt von archaischen Strukturen, fertig zu werden. Imperiale Überheblichkeit des Westens gegenüber allen, die in der Geschichte der Moderne nicht die geringste Rolle gespielt haben, erlebt nun ihr Desaster, aberes ist nur ein Desaster aus der Sicht der Machtarroganz, die alle Konflikte lösen zu können glaubt – oder glaubt, Konflikte zwischen Dritten zu eigenem Gunsten nutzen zu können. Wie, so fragen die Künstler mit ihren Arbeiten, würde sich die Sicht auf Afghanistan (und analog auf drei Dutzend weiterer heißer Konfliktfelder) verändern, wenn man davon ausginge, dass es für Auseinandersetzungen besagter Art keine Lösungen gibt? Wie kann man sich das vorstellen? Frei nach Karl Schmidt (Achtung: hoher Ausschlag auf dem Nazimeter), ist der Gegner die eigene Frage in Gestalt? Also sind Islamisten und andere Fundamentalisten deswegen für unser Selbstverständnis produktiv, weil sie uns die Frage aufnötigen, ob man die bürgerlichen Freiheiten aussetzen darf in der Absicht, sie zu verteidigen, oder ob auch all jenen die Freiheitsgarantien der demokratischen Gesellschaften zugestanden werden müssen, die diese Freiheiten nutzen, um totalitäre Regime zu etablieren. Offenbar verkörpern die Fundamentalisten unsere eigene Furcht, gerade mit der Ohnmacht unserer Macht rechnen zu müssen, weil sich herausstellt, dass selbst die allgewaltigen USA nicht mehr eine wie auch immer begründete Ordnung der Welt garantieren können.

Individualpsychologisch hat jeder die Erfahrung des Zerfalls elterlicher Autorität erlebt. Man erwartet gerade von den Eltern Sicherheit durch Widerstand gegen die jugendliche Willkür im Wünschen und Wollen. Dieser Erfordernis sich mit antiautoritärem Pathos zu entziehen, ist nicht ein Zeichen von Toleranz, sondern von Verantwortungslosigkeit. Übertragen heißt das: „Würdigt, ja, ehret endlich Islamisten, Ethnizisten, Kulturalisten, Nationalisten, indem ihr sie als eure ernsthaften Gegner anerkennt, die mindestens so gut wie ihr selbst Kapital als Feuerkraft, Internetpornographie als Aufhebung jeglicher individuellen Verantwortung und kulturell religiöse Identität für Erpressung von Loyalität einzusetzen vermögen.“
Im Einzelnen ergeben sich dann erhellende Einsichten, etwa über die Analogie zwischen Totschlagen und Totschweigen, zwischen rigider Zensur und der jeweiligen Sitten und Anstände einerseits und den mit strafrechtlicher Verfolgung bedrohten Verstoß gegen die Verabredung von politischer Korrektheit andererseits; in beiden Fällen soll das folgenreiche Bestreiten von Wahrheits- oder Machtansprüchen verhindert werden. In radikalster Zuspitzung nötigen uns die als solche hochgeschätzten Gegner die Frage auf, worin der Unterschied zwischen mafiotischen Organisationen und legitimierten Regierungen bestehen soll, wenn sie gleichermaßen sich als Hehler betätigen, gezielte Tötungen zulassen, gar befehlen, Angriffskriege führen und bedenkenlos die soziale Kommunikation zerstören, indem sie Vertrauen missbrauchen; das taten sogar angeblich auf Vertrauen und nichts als Vertrauen begründete Unternehmungen, wie es Banken sein wollen. Künstler hingegen operieren von vornherein mit Aufklärung durch Enttäuschung, denn man muss ja wohl seine optische, begriffliche, ideologische Täuschbarkeit verlieren, also ent-täuscht werden, um den Anforderungen an den Umgang mit Kunstwerken wie generell mit Bildwerken gewachsen zu sein. Vor allem aber wissen Künstler die normative Kraft des Kontrafaktischen, also die handlungsleitende Macht von Wahnsinn und Irrsinn, von Phantasmagorien und Halluzinationen anzuerkennen. Was wir im Triumphalismus heutiger Terroristen erleben, ist die sie überwältigende Erfahrung, dass der rechte Glaube zur höchstenRadikalität befähigt, die sich in ihren Wirkungen selbst beweist. Und das ist ganz und gar logisch, denn warum würde man von der halben Welt so radikal bekämpft, wenn die eigene Position nicht derartig bedeutsam wäre, dass andere sie auszulöschen wünschen. Es geht unter Künstlern nicht um Auslöschungskonkurrenz, sondern um Wettbewerbskonkurrenz, weil nur in Bezug auf andere Werke die jeweils eigenen in ihrem Anspruch gerechtfertigt werden können: „Pflege deine Konkurrenten, denn sie allein bieten den Verweis auf deine Eigenständigkeit im Vergleich mit ihnen.“ Seit zweihundert Jahren haben Künstler aus der Erfahrung von Unverständnis, Ablehnung, Ausgrenzung und Misserfolg die Begründung für die Bedeutung ihres Tuns gewinnen können. Warum sollte man sie verfolgt und gedemütigt haben, wenn ihre Botschaften gleichgültig oder banal wären? Es ist wohl wahr, dass die christliche Lehre von der Gotteskindschaft der Menschen eine Voraussetzung für die Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen gewesen ist und dass erst in der künstlerischen Autonomie von Autorschaft die Freiheit der Individuen erfasst worden ist. Wir sollten uns aber schleunigst auf die Geschichte dieser Begründungen zurückbesinnen, um anerkennen zu können, was wir den heutigen Prätendenten auf Weltbeherrschung verdanken könnten. Menschen sind von Natur aus kulturpflichtig, denn ohne Eingliederung in Hege und Leitung durch einen Kulturverband gewönnen wir als Individuen nicht Überlebensfähigkeit. Aber die Unterwerfung unter die Dogmen von Religionen und Kulturen erzwingt den permanenten Kulturkampf. Die Abkoppelung aus der kulturell religiösen Legitimation, wie sie historisch die Künstler und Wissenschaftler erstmals erreicht hatten, wird nun auch für andere Bereiche wie Politik und Ökonomie um so unabdingbarer als wir den jeweiligen geschätzten Gegnern die Täuschung verbieten, sie könnten noch mit einem finalen Sieg ihrer Herrschaftsabsicht rechnen. Wer die Auseinandersetzung verweigert, mit welchen Argumenten auch immer, verweigert sich dem Aufbau einer universalen Zivilisation, unter deren Gegebenheit der Wettbewerb der Kulturen und Religionen überhaupt erst gewürdigt werden kann. Das also heißt, von Künstlern und Wissenschaftlern zu lernen.

siehe auch: