Buch Comic Kalender 1994.

Redaktion: Bentlin, Dirk

Erschienen
1993

Erscheinungsort
München, Deutschland

Umfang
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Comics Ästhetische Macht der Blickfesselung.

Ein Gespräch mit Dirk Bentlin

Einmal abgesehen davon, daß auf dem Comicmarkt eine Menge Schund existiert, wie urteilen Sie über die neuere Entwicklung: "Vom Comic zur Kunst" – läßt sich auch sogenannte Massenware mit Anspruch verbinden?

Die künstlerisch konzeptionelle wie die gestalterische Qualität der Comics ist in den vergangenen zehn Jahren ganz erheblich gestiegen, weil Jungkünstler im Comic eine angemessene Form kommerzieller Auswertung ihrer Arbeiten sehen konnten. Für jüngere Zeichner blieb der Comic nicht mehr nur subkulturelles Genre; sie nutzten aber die Rezeptionsgewohnheiten der Subkultur weiterhin aus: Die Beiläufigkeit des Lesens von Comics, ihre Annäherung an Bildsequenzen, Schnittformen, Überblendungstechniken und Text-Bild-Relationen, wie sie im Musik-TV geläufig sind. Sie verwandelten diese subkulturellen TV-Clip-Erzählungen in Printversionen mit dem Vorteil, daß ihre Produkte überall zu geringsten Kosten und mit geringstem Aufwand in Szene gesetzt werden konnten. Zudem arbeiten eine Reihe von Comic-Zeichnern mit Diaprojektionen als Vorlagen, die sie den elektronisch generierten TV-Sequenzen entnahmen. Aus der hochkulturellen Sphäre, vornehmlich der Malerei (von Lichtenstein bis Polke) guckten sich die Comic-Zeichner Strategien ab, mit denen man seine Bildproduktion, umstrahlt von der Aura eines künstlerischen Kulturproduzenten, betreiben kann. Die Comic-Zeichner wurden zu Künstlern des herkömmlichen Verständnisses: individuelle Urheber, Schöpfer, Stilbildner einer ganz eigenen Bildwelt. Heute läßt sich keine zeitgenössische Grafikausstellung veranstalten ohne Beiträge von Comic-Zeichnern.

Ist die Ästhetik nicht gerade auch in Comics ersichtlich, in denen meist mit sehr konkreten Darstellungsmethoden gearbeitet wird?

Für die Kennzeichnung des Zeitgeistes in den Dekaden des 20. Jahrhunderts wurden immer schon Comics an erster Stelle berücksichtigt. Da die ästhetische Macht der Blickfesselung inzwischen weitestgehend an den Journalismus übergegangen ist und Comics sehr viel stärkerer Bestandteil dieses Journalismus sind als herkömmliche Kunstwerke aller Techniken und Gattungen, wurden Comics wesentliche Träger des ästhetischen Potentials. Im I9. Jahrhundert ist dieses Potential im Journalismus in erster Linie durch die Karikatur repräsentiert worden, weil in der Karikatur die Differenz zwischen gedanklichem Konzept und bildsprachlichem Ausdruck besonders krass sein mußte. Diese Differenz definiert ganz generell die ästhetische Dimension von Kommunikation. Gegenwärtig haben im Bereich der Printmedien Comics die größte ästhetische Auffälligkeit, weil sie die radikalsten Brüche der Inhalt-Form-Beziehung oder der Einheit von Zeichen und Bezeichnetem riskieren, d h. andererseits, daß Comics für den Betrachter deshalb so interessant sind, weil sie ihm größte Leistung abverlangen, Konzept und Bild zu einer Aussage zusammenzuschließen.

Inwiefern gilt der heute weithin immer noch herrschende Vorwurf, daß Bilderwelten den Mangel an Phantasie fördern?

Seelisch-geistige Verarmung oder andere beklagte Resultate exzessiven Bilderkonsums entstehen nicht durch das bloße Betrachten der Bilder, sondern durch ihren Gebrauch bzw. Mißbrauch. Nach dem Muster des pornographischen Bildgebrauchs benutzen unaufgeklärte Geister jeden Alters und jeden Berufsstandes Bilder als Handlungsvorlagen. Man überträgt die Wirkungen und Weltanschauungen von Bildern in die Alltagswelt: Kinder spielen dann nicht Gangster und Bulle, sondern sie werden nach dem Vorbild der Bilder zu Gangstern und Bullen; Pornokonsumenten stimulieren nicht ihre Sexualphantasie an den Bildern, sondern sie vollziehen sie in der Realität nach, verwandeln sich in den Marquis de Sade und Justine.

Die Literaturform des Comic ist noch relativ neu. In den Bildern zeichnen sich weltliche Phantasien ab, die nicht nur Humorvolles, sondern auch Schrecken und Ängste widerspiegeln. Diese Darstellungen von Sex und Gewalt passen nicht unbedingt in das bürgerlich vordergründige Klischee von Moral und Ethik. Inwiefern können Comics Werte bilden?

Wenn nicht Kunstwerke, TV-Bilder, Comics, Romane oder andere Produkte der menschlichen Phantasie, sondern deren Anwendung das eigentliche Problem darstellt, kann eine Diskussion über Verhaltenskonventionen, über Werte und menschliche Beziehungsformen nicht bei der Phantasie/Bildproduktion ansetzen. Sogar Kinder werden nicht von den Bildern zu Brutalität und Aggression verführt, sondern durch ihre Vernachlässigung durch Eltern oder Erzieher, die es versäumen, den Kindern unmißverständlich den Unterschied zwischen Phantasie und Realität, zwischen Vorstellen und Handeln klarzumachen. Beim klassischen Märchenlesen wurde früher den Kindern gegenüber durch den Vorleser oder den Erzähler jener entscheidende Unterschied präsentiert: Der Urheber, der Erzähler garantierte kraft seiner Autorität, daß Phantasie und Realität strikt unterschieden blieben. Er repräsentierte das Realitätsprinzip in seinem eigenen Beispiel: Er selber führte sich gerade nicht als gewalttätiger Räuber oder menschenfressender Riese auf. Bei dem heutigen Konsum von Phantasma-Orgien bleibt den Kindern die Bildmaschine TV respektive Comic-Heft als Garant des Realitätsprinzips unfaßbar, weil Menschen nur in den anderen Menschen ein Beispiel für den realitätstüchtigen Umgang mit Phantasien geben können. Kinder müssen also angeleitet werden, von den Bildproduktionen den richtigen Gebrauch zu machen, so wie wir in unserer Kultur insgesamt lernen mußten, von den seit der Renaissance produzierten Bildwelten der Kunst richtigen Gebrauch zu machen. Daraus ergibt sich eine wichtige Schlußfolgerung: Die Bildproduktionen müssen als künstliche bzw. künstlerische Formen erkennbar werden. Auch aus diesem Grunde scheinen viele Comic-Zeichner ihre Arbeitsproduktion in den Rang von Kunstwerken erheben zu wollen.

Gibt es Comics, die Ihnen besonders gut gefallen? Nennen Sie einige Beispiele.

Historische Abteilung:
–Winsor McCay: Little Nemo
–Karl Alfred von Meysenbug: Einführung in die Kantische Philosophie
–Walt Disney: Donald Duck

Zeitgenössische Abteilung:
Jules Feiffer; Chaval; Reiser; Simon E. Wassermann; Walter Moers ... um nur einige Beispiele zu nennen.

siehe auch: