Moderation Begleitveranstaltung “Mobilität, Kommunikation und Wohnen im Jahr 2010” anläßlich der Ausstellung “Die Macht des Alters” | DEKRA-Hauptverwaltung

Einführung, Moderation und Ausstellungsführung: Bazon Brock

Termin
09.11.1999

Veranstaltungsort
Stuttgart, Deutschland

Vorwort - Manuskript

Gerade erst haben wir den 100. Geburtstag der Psychoanalyse gefeiert. Zu diesem Anlaß entdeckte man ein Dokument, das für die Etablierung der Begeisterungsgemeinschaft der Psychoanalytiker offenbar eine große Rolle spielte.
1919 erließ Ferenczy, ein Hauptschüler Freuds, einen Ukas zur Bildung eines „internen Kommitees“ - offensichtlich eine Bezeichnung in Analogie zu jenen internen Kommittees, mit denen die Freunde Lenins arbeiteten. Ferenczys Ukas betont, was man gerade bei Psychoanalytikern nicht erwartet, nämlich die Verpflichtung, die Lehre Freuds mit einem gewissen Dogmatismus selbst dann zu hegen, wenn man diese Lehre nach außen hin ganz anders darzustellen hatte. Den Mitgliedern des internen Kommittees der Freud-Schüler wurde aufgegeben, auf die Verwirklichung ihrer je eigenen Ideen zugunsten zentraler gemeinsamer Zielvorstellungen zu verzichten. Dieser Verzicht sei eine notwendige Voraussetzung für die schlagkräftige Arbeit der Freudianer.

Bei freundlichster Bewertung solcher Forderungen können wir sagen: Gemeinsam mit Anderen wichtige Konzepte durchzusetzen bedeutet immer, sich zu einem guten Teil von den eigenen Vorstellungen zu verabschieden. Was einstmals Dogmatismus hieß, verstehen wir milde als Logik der Gruppendynamik und der Sachzwänge.

Bei unserer gemeinsamen Erörterung von Mobilität, Kommunikation und Wohnen im Jahr 2010 sollten wir also weniger darauf abheben, unsere eigenen kreativen Vorstellungen ins Spiel zu bringen, als vielmehr unter Anerkennung unumgänglicher Sachzwänge der Technologien, der Ökonomie und der Sozialverpflichtungen gemeinsam Position zu beziehen.

Ein Beispiel für die Sachzwanglogiken im Bereich der Technologie: Was im Jahre 2010 technologisch ausgereift an den Markt kommt, muß bereits jetzt entwickelt werden. Bei aller Verkürzung der Konzeptions-, Entwurfs- und Realisierungsphasen durch elektronische Hilfsmittel, arbeiten die Entwickler bei Mercedes/Chrysler doch bereits jetzt an den Automobilen, mit denen wir 2010 Ortswechsel als Kommunikationsform bestreiten werden.

Ein Beispiel für die wirtschaftlichen Sachzwänge: bei aller Anerkennung der Notwendigkeit, vor allem im personalen Bereich zu rationalisieren, entlassen wir bereits heute unsere späteren Kunden.

Ein Beispiel für die Sachzwanglogiken im Sozialen: die Erörterungen über die Entwicklung der Alterspyramide unserer Bevölkerung können nicht so geführt werden, als hätten die Erörterungen noch Einfluß auf die Entwicklung; bis weit über 2010 hinaus läuft die Entwicklung, ohne daß sie noch jemand steuern könnte.

Diese Sachzwänge anzuerkennen bedeutet keinesfalls, stur dogmatisch vorzugehen.Vielmehr zeichnet unser kleines internes Kommittee die gemeinsame Anerkennung nicht mehr ins Belieben gestellter Voraussetzungen aus.

Was die Teilnehmer unseres Symposions vortragen, kann keinen Einfluß auf Entwicklung geltend machen.
Vielmehr wollen wir uns gemeinsam vor Augen führen, womit wir am Ende der nächsten Dekade zu rechnen haben, um unsere Arbeit für die zweite Dekade wenigstens tendenziell vorstrukturieren zu können.

Je mehr Menschen wir dazu veranlassen können, die feststehenden Gegebenheiten anzuerkennen, desto größer wird die Chance, daß wir uns in den absehbaren Entwicklungen bewähren.
Je mehr wir uns von dem schmeichelhaften Glauben an unsere individuelle Kreativität verabschieden, desto wirkungsvoller werden wir unsere persönlichen Befähigungen im Rechnen mit dem Unausweichlichen zur Geltung bringen können.

So sollten wir Mobilität im wohlverstandenen Sinne als Anpassungsfähigkeit verstehen. Wenn das Wetter schlecht wird, paßt man sich durch entsprechende Wahl der Bekleidung an die prognostizierte Wetterlage an, anstatt zuhause sitzen zu bleiben. Wenn ein zu befahrender Weg unbefestigt ist und tiefe Schlaglöcher aufweist, paßt man sich diesen Bedingungen durch Wahl eines entsprechenden Fahrzeugs an, anstatt auf die Erreichung des Fahrziels zu verzichten. Solche Anpassung bedeutet nicht die Preisgabe individueller Vorstellungen (Anpassung als Duckmäuserei oder willenlose Unterwerfung); vielmehr verlangt sinnvolle Anpassung an kalkulierbare Gegebenheiten Findigkeit und Einfallsreichtum, also „kreative“ Fähigkeiten.

Derartige Mobilität als Fähigkeit, mit Gegebenheiten zu rechnen, bedeutet:


- für den Bereich der Kommunikation, daß sich mit der immer dichteren Vernetzung keinesfalls die Kommunikation verdichten wird. Die Möglichkeit, jederzeit und an jedem Ort auf Daten, die das Netz bietet, zuzugreifen, entbindet uns nicht von der jeweiligen Notwendigkeit, durch eigenes Formieren, also Einstellung und Verhalten, aus den Daten In-Formationen zu bilden. Mobil werden wir, wenn wir unsere Fähigkeit trainieren, das Spektrum unserer Einstellungen, Verhaltensweisen zu erweitern, statt nach eingeübtem Schema bloß zu reagieren.


- Für den Bereich des Verkehrs, daß wir weit mehr als bisher je nach Situation die angemessenen und vorteilhaften Mittel der Fortbewegung nutzen, wobei sicher die Nutzung des PKWs und damit der Individualverkehr eine vorrangige Rolle spielt. Zugleich haben wir häufiger als bisher zu entscheiden, ob die realphysische Lokomotion tatsächlich notwendig ist oder nicht vielmehr durch Bewegung im virtuellen Raum kompensiert werden kann. Wir werden also die Pascal’sche Tugend, von unserem Zimmer aus die Welt zu bereisen, stärker ausbilden müssen.

- Für den Bereich des Wohnens, also der Verortung unseres Weltverhältnisses, bedeutet Mobilität als Anpassungsfähigkeit, daß wir in die Erwartung von Nutzungsformen auch Behinderung durch Krankheit oder Alter einbeziehen müssen. Die Wohnung wird der Ort, an dem wir über die größte und sachdienlichste Anzahl von Prothesen zur Kompensation körperlicher oder psychischer Einschränkungen verfügen.
Damit würde „das Alter“ nicht zu einer Phase verminderter Lebensäußerungen, sondern zu einer Phase, in der die kulturellen und zivilisatorischen Prothetiken am effektivsten genutzt werden können.
Wir werden im Alter mobilisiert, mit unseren Defekten intelligent umzugehen. Gerade das erspart man sich in den vorausgehenden Lebensphasen durch verschwenderische Nutzung der eigenen Bio-Energie, wodurch sich aber gerade auf längere Frist jene Defizite herausbilden, die wir herkömmlich als Alterserscheinungen beklagen.

Ich jedenfalls freue mich auf die Herausforderung durch das Alter, also auf die Erprobung meiner Intelligenz, mich ökonomischer zu verwalten als in den bisherigen Lebensphasen der verschwenderischen Selbstausbeutung.

Insgesamt also sollte Mobilisierung darauf abheben, soziale Anpassung/Integration zu fördern, um die Ressourcen der Individuen, wie der Gesellschaft, zur Bewältigung der Lebensanstrengung sinnvoller zu nutzen.