Buch Museen ohne Zukunft./Museums without Futures
Dt. /Engl.
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In den sechziger Jahren erweiterte sich die Förderung öffentlicher Museen aus öffentlichen Haushalten infolge der offensiven Bildungspolitik, die auch Hochschulen, Gymnasien, Rundfunk- und Fernsehanstalten, Lehrmittelverlage und die "neuen Medienangebote" umfasste. Aber die Museen waren naturgemäß nicht in der Lage, die kurzfristig aufeinanderfolgenden Reformen der Bildungsreformen mit ihren Präsentationen nachzuvollziehen. Die bildungspolitische Legitimation brach ab.
In den siebziger Jahren wiesen die Kulturforscher Fohrbeck/Wiesand nach, daß mehr Zeitgenossen Museen besuchen als etwa Sportstätten incl. Fußballstadien. Damit war dem Kulturpolitikerargument widersprochen, demzufolge die Arbeit der Museen nur von wenigen Angehörigen bürgerlicher Eliten wahrgenommen werde, die Mehrheit aber, der man demokratisch verpflichtet sei, interessiere sich überwiegend für Sport und Populärkultur. Auch in neusten Erhebungen wird die Feststellung von Fohrbeck/Wiesand bestätigt.
In den achtziger Jahren, der Zeit des Neubaubooms für Museen, wurden ökonomische Gesichtspunkte für die finanzielle Förderung öffentlicher Museen mit dem Argument geltend gemacht, daß durch Umwegrentabilität (Übernachtungen, Reisekosten und Verzehr, Merchandising und touristischen Kaufimpuls) ein Gutteil der Fördergelder als Investitionen für die regionale Wirtschaft wirksam würden.
Zudem seien Museumsförderungen (wie die der Theater, Archive und Medienzentren) sozialpolitische Investitionen im Sinne der Gewerkschaftsforderungen, weil bis zu 85 % der Institutsetats für die Honorierung der Mitarbeiter und nicht für die Programmarbeit verwendet würden. Das hieß, höchstens 20 % der Förderungssummen wurden für die Ausstellungstätigkeit und Veröffentlichungspraxis der Kultureinrichtungen verwandt. Diese relativ geringen Mittel konnten die Institute nur durch Steigerung der Besucherfrequenzen erhöhen. Um das zu erreichen, mußten einerseits haushaltsrechtliche Voraussetzungen geschaffen und andererseits die Attraktion der Museumsangebote gesteigert werden. Das geschah durch die kontraproduktive Orientierung auf Erlebnis- und Ereignisqualitäten des Museumsangebots. Kontraproduktiv war die Orientierung an Erlebnis- und Ereignishaftigkeit, weil die Veranstalter so gezwungen wurden, ihre eigene Arbeit ständig durch spektakuläre Überbietung der vermeintlichen Attraktivität zu entwerten. Heute haben selbst spektakulärste Ausstellungsereignisse durch die Vielzahl parallel laufender Angebote mit erheblichem Rückgang der Besucherzahl und der Zahl der Katalogverkäufe zu rechnen. Außerdem wurden die Angebote von Unternehmen und Privaten der Spektakelforderung unterworfen, gestützt auf Etats für Messe- und Medienauftritte, wie sie selbst den gut dotierten Museen nicht zur Verfügung standen. Die Kulturpolitiker empfahlen, nach dem Muster der Wirtschaft Kultur zu präsentieren. Ihr propagiertes Musterbild war der Unternehmer von der Heyde aus Stuttgart. Indes geriet das Patentrezept zum finanziellen Fiasko.
In den neunziger Jahren orientierte sich die Kulturpolitik an Private- Public-Partnerschaften über ein erweitertes Sponsoringkonzept. Soweit die Sponsoren als Partner der Museen keinen Einfluß auf die Austellungsprogramme nehmen würden – und tatsächlich verzichteten sie auf diesen Einfluß vollständig –, schien das Konzept Private-Public-Partnerschaft aussichtsreich zu sein. Bei näherer Betrachtung erwies sich, daß man von tatsächlicher Partnerschaft wohl kaum ausgehen kann, wenn höchstens fünf Prozent der Etats durch die Wirtschaftspartner aufgebracht werden.
Es überrascht wenig, daß gegenwärtig die Entscheider über öffentliche Haushalte auf jede kulturpolitische Konzeption verzichten, weil sie meinen, bei extrem verknappten Etats erübrige sich Politik schlechthin. Dem ist entgegenzuhalten, daß gerade bei knappen Etats für die Entscheidung über die Mittelvergabe auf politische, also im Fall der Museen auf kulturpolitische zurückgegriffen werden muß. Um solche Konzepte zu entwickeln, müssen die genuinen Leistungen von Museen herausgestellt werden.
Die wichtigste kulturelle Leistung von Museen liegt wohl in "Zeitschöpfung", weil Museen den jeweils gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebensformen den Bezug auf historische Zeit wie auf zukünftige Zeit, auf biographisch strukturierte Lebenszeit wie auf jene Zeiterfahrungen ermöglichen, die unseren Arbeitsabläufen, Organisationsformen und Vermittlungskonzepten zugrunde liegen. Solche Zeitschöpfungen sind nicht nur unmittelbar ökonomisch wichtige Ressourcen (Time is money – etwa im Recycling, wenn museale Bestände der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre als Remakes und Redesign auf den Markt kommen). Viel entscheidender ist Zeitschöpfung durch Vergegenwärtigung historischer Potentiale für die Gewinnung von Wert- und Bewertungsmaßstäben der Orientierung auf Zukunft als wirtschaftlich wichtigstem Zeitmodus. Die Zeitform Zukunft wird für die Wirtschaft in der Form des Kredits realisiert, aber die durch Geld vermittelte Überführung von Produktideen und anderen Handlungskonzepten in reale Waren verlangt Wert- und Bewertungsmaßstäbe, die nur aus der Arbeit von Museen gewonnen werden können. Denn diese Museen sind auf die Operation mit Zukunftsannahmen spezialisiert wie kein zweiter Sozialbereich. In den Museen werden zahlreiche ehemalige Zukünfte, die inzwischen zu unserer Vergangenheit wurden, verwaltet.
Alle Vergangenheit ist ehemalige Zukunft, also lassen sich verläßliche Bewertungen von Zukunftsannahmen nur aus der Historie gewinnen (durch Vergleich der vielen ehemaligen Zukunftsannahmen, repräsentiert durch die musealen Objekte, mit dem faktischen Verlauf dieser Geschichte).
Ermöglicht Geld die Überführung von Virtualität in Realität, also die Vermittlung von virtuellen Konzepten als Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen und Willensäußerungen an reale Güter, so leistet die Wertorientierung die Vermittlung der Zeitmodi, also die begründete, stichhaltige, verläßliche Orientierung auf Zukunft in der Vergangenheit durch die Vergegenwärtigung dieser Vergangenheiten: das ist die Arbeit der Museen.
Mit der Vergegenwärtigung unserer Vergangenheiten realisieren Museen Zukunft nach relevanten Bewertungsmaßstäben, die sich aus der inzwischen möglichen Beurteilung vergangener Zukunftsannahmen ergeben. Derartigen Wertbestimmungen unterliegen inzwischen alle Zeitgenossen und nicht mehr nur herausragende Individuen und Gruppierungen wie Herrscher, Feldherren, Staatengründer, Unternehmer, Religionsstifter, Literaten, Musiker, Künstler und Architekten. Denn jeder, der sich um Integration in soziale, ökonomische oder politische Lebens- und Arbeitsbedingungen bemüht, ist z.B. biographiepflichtig – man verlangt ihm nämlich den Ausweis eines Lebenslaufes ab, aus dessen historisch abgeschlossenem Teil auf die erwartbaren, zukünftigen Verhaltens- und Arbeitsweisen geschlossen werden soll. Eine wichtige Umsetzung der Biographiepflichtigkeit besteht in der Verpflichtung auf Ausweis einer konsumeristischen, kulturellen, sozialen und politischen Identität – repräsentiert durch Erwerb und Gebrauch von Waren als Lebensgütern. Waren, die mit Attributen solcher Identitäten ausgestattet werden, nennt man Kulturgüter. Inzwischen generiert die Volkswirtschaft mehr als 50 % des Bruttosozialprodukts durch kulturelle Merkmalsdifferenzierung. Alle diese Produkte unterliegen der Verpflichtung auf Repräsentanz von derartigen Identitäten. Vorrangig in Kulturinstitutionen wie Museen, Archiven und Schulen erwerben die Zeitgenossen als Mitarbeiter und Mitglieder von Unternehmen oder Verbänden ihre Befähigung zur kulturellen Distinktion. Wer diese kulturelle Unterscheidungsfähigkeit nicht besitzt, ist sowohl für die Warenproduktion, wie für Distribution und Konsumtion kaum noch verwendbar. Da inzwischen weltweit auf Standards der Produktion wie Verfügung über Material, Technologie, Fertigungsverfahren zurückgegriffen werden kann, bleibt für die Auszeichnung und den Wettbewerb der einzelnen Wirtschaftsregionen nur die Erhöhung der kulturellen Unterscheidungsfähigkeit ihrer Mitglieder und ihr Wissen um die Kriterien der kulturellen Unterscheidung, die in anderen Regionen präferiert werden.
Die Arbeit der Museen wird für die Volkswirtschaften im Zeitalter der Globalisierung wichtiger als sie es je zuvor war, weil nur noch kulturelle Unterscheidungsfähigkeit Präferenzen im Warenangebot ermöglicht. Da im oben angedeuteten Sinne inzwischen alle Waren den Charakter von Kulturgütern auszuweisen haben, werden auch alle kulturellen Produktionen zu Waren. Die Kulturproduktion der Museen ist in diesem Sinne längst Ware, die aber – und das ist vorrangig – als Wertgenerierung bemessen werden muß und nicht als Kapitalgenerierung. Kapital, also unser Vermögen, vermittelt über Geld nur die objekthafte Realisierung kultureller Konzepte durch Ausstellungen. Als solche sind sie durch ihre schiere Faktizität bemerkenswert, wenn sie diese Wahrnehmbarkeit auch inzwischen durch die Vielzahl paralleler Veranstaltungen mehr und mehr einbüßen. Diesem Bedeutungsverlust entgehen die Präsentationen der Museen, wie auch die unzähligen Produkte im Markt, nur, indem sie die Bewertungsmaßstäbe und -kriterien sichtbar werden lassen, die sie aus dem Vergleich der ehemaligen Zukunftsannahmen gewinnen.
Kurz und parallel zu der ganz anders begründeten Forderung von Boris Groys: Die Museen erfüllen auch ihre volkswirtschaftlich relevanten Aufgaben als moralische Anstalten, denn jede ästhetische Operation als Vermittlung von virtueller, intrapsychischer Gedankensphäre zu den realisierten sprachlichen Zeichen kann nur an der ethischen Operation geeicht werden, mit der wir unsere Zukunftsannahmen rechtfertigen, wenn wir uns selbst und andere diesen Annahmen direkt oder indirekt unterwerfen.
Der Rest ist Müll, der allerdings – vor allem als strahlender – eine Verehrung abverlangt, wie sie einstmals nur den Göttern zukam. Selbst in dieser Hinsicht sind Museen als Müllcontainment der Kulturen von unüberbietbarer Bedeutung. In ihnen manifestiert sich Dauerhaftigkeit als höchster Wert.
15.000 Jahre Halbwertzeit der Kathedralen für den Müll bedeutet eine Zeitschöpfungsleistung für die Zukufnt, die selbst alle kulturellen Vergangenheiten der Menschheit übertrifft.
Motto: We kehr for you.
Buch · Erschienen: 01.01.2002 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Zika, Anna