Vortrag / Rede Hochschulkongreß der SPD-Landtagsfraktion

Termin
29.06.1992

Veranstaltungsort
München, Deutschland

Veranstalter
SPD Bayern

Die Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft

Vortragsmanuskript

Variante 1

Selbstbewußte Wissenschaftler übernehmen bekanntlich nicht einmal die Verantwortung für ihr eigenes Tun; wie sollten sie da eine Verantwortung für die Gesellschaft akzeptieren? Wer Giftgase mischt, die Erfindung von Kernenergie und die der Chlorchemie für den ingeniösen Ausdruck freien Forschergeistes hält, hat sich seit eh und je darauf hinausgeredet, daß nicht er für die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft für ihn, vielmehr für sein Genie Verantwortung trage. Die von den Wissenschaftlern in Anspruch genommene gesellschaftliche Fürsorge besteht in der Gewährung von Forscherfreiheit und vor allem von Geldmitteln, mit denen der Forscher noch bedeutendere Erfindungen produzieren kann, die dann aber, wie gesagt, nicht er, sondern die Gesellschaft zu verantworten hat. Was ist die Logik des Argumentes? Wenn die Gesellschaft den Wissenschaften Forschungsmöglichkeiten und Forschungsfreiheit zur Verfügung stellt, muß sie auch die Verantwortung für die dabei entstandenen Resultate übernehmen. (Wenn Papa und Mama Bubi und seinen Freunden Messer, Schere und Licht zur Beschäftigung überlassen, müssen die kühnen Eltern für diese Entscheidung Verantwortung tragen.)

Fatalerweise rekurrieren aber bei uns Wirtschaft und Politik, Erziehung und Ausbildung, Rechtsprechung und öffentliche Meinung gerade deshalb und nur insofern auf Wissenschaft, als die Entscheider in diesen Bereichen die Verantwortung für Fehlentscheidungen der Wissenschaft zuschieben wollen. Der Unternehmer wird auf wissenschaftlich erarbeitete Marketingstudien nur verweisen, wenn seine Produkteinführung ein Reinfall war; ist sie hingegen erfolgreich, so wird er diesen Erfolg seinem eigenen unternehmerischen Genie verdankt wissen wollen. Oder: Ist die antiautoritäre Erziehung trotz permanenter Reformen der Schulreform ein Flop, dann werden sich die Schulpolitiker auf die wissenschaftlich unzulänglichen Pädagogik-Theorien zurückziehen, denen sie leider aufgesessen seien. Die ständig steigende Zahl von derart miserabel arbeitenden Akademikern gegenüber der Zahl solider Handwerker rechnen sich aber dieselben Politiker als Triumph ihres Regierungsprogramms an.
Wissenschaftler sehen die Verantwortung für die Resultate ihres Tuns bei der Gesellschaft – und deren Repräsentanten in den unterschiedlichsten Bereichen schieben die Verantwortung für ihre Entscheidungen den Wissenschaftlern zu, auf deren Arbeitsresultaten die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen gegründet worden seien.

Fazit zur Variante 1:

Beide Seiten betonen, daß die Übernahme von Verantwortung ihre Handlungsfreiheit unzulässig einschränke. Wo kämen wir denn da hin, wenn die freie Forschung zur Verantwortung für ihr Tun gezogen werden könnte? Dann wäre sie eben nicht mehr frei. Wohin kämen wir, wenn Richter, Erzieher, Unternehmer u.a. auch noch die Verantwortung für die von ihnen beanspruchten unabhängigen Wissenschaften übernehmen sollten? Wir kämen zu der Einsicht, daß es freie Bürger, freie Unternehmer und andere Freigeister ebenso wenig geben kann wie freie Wissenschaften.
Bisher hat man sich dieser Einsicht gerade von Seiten der Wissenschaft verschlossen, indem man in eine Unterscheidung zwischen wirklich freier Grundlagenforschung und angewandter Forschung flüchtete. Das ist tatsächlich Ausflucht und nicht Argument, denn sonst wären längst für die angewandten Wissenschaften ebenso leistungsfähige Logiken fällig gewesen, wie es sie für die freie Forschung gibt (vgl. Karl Popper, Liebling aller Kapitänsmützenträger). Nochmals: Es gibt bislang keine eigenständige Logik der Anwendung von Wissenschaft auf außerwissenschaftliche Problemstellungen. Dennoch ist klar: gäbe es solche Logiken, dann hätten sich sowohl Giftgasproduktion wie Plutoniummeiler und Neutronenbomben etc. "verboten". Wozu aber dann die freie Forschung, die ja keine mehr wäre, wenn sie nur für das Gebotene und nicht mehr für das Verbotene arbeiten würde? Wozu? Zur Entlastung der Wissenschaftler von Verantwortung – wenn man das weiß und mit diesem Selbstverständnis von Wissenschaft rechnet, wird man sich genau überlegen, für welche Forschungsziele Gelder bewilligt werden sollten und für welche nicht. Es sei denn, die Geldgeber verlangten von der Wissenschaft gerade die Entwicklung des eigentlich verbotenen Wissens (z.B. in der Industrie).

Erläuterung:

Im Sinne von Anwendungslogiken sind jene Problemlösungen "verboten", deren Nachfolgeprobleme "größer" oder noch risikoreicher sind als das Ausgangsproblem, das man wissenschaftlich zu lösen versprach. Die Rede von der freien Wissenschaft dient als Legitimation für Verantwortungslosigkeit des Wissenschaftlers als individuelle Tugend der Entdeckerlust und als soziale Tugend der absoluten Vorurteilslosigkeit; zwei wirklich dumme Fiktionen, die sonst für niemanden, nicht einmal fürs Militär gelten, weil es, im Unterschied zur Forschung bzw. zur Kunst, den Primat der Politik zu akzeptieren hat.

Interludium:

Wer stellt die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft? Etwa Ex-Kanzler Schmidt, kurz nachdem er zum Herausgeber der ZEIT berufen wurde – er, dessen verantwortungsethische Verachtung für die bloß gewissensethischen Schreiberlinge schier grenzenlos war? Damals schrieb Schmidt als ZEIT-Autor, daß er und seinesgleichen eines Tages vom Volk für ihre Unfähigkeit, die anstehenden großen Probleme ihrer Regierungszeit erkannt zu haben, zur Rechenschaft gezogen würden. In der Tat, gestand Schmidt, seien seine diesbezüglichen Versäumnisse eklatant, aber "schließlich hätte er als Regierungschef und Politiker ja wohl rechtens von den Wissenschaftlern erwarten können, daß sie ihn über diese brisanten Probleme unterrichteten". O-Ton Schmidt, man glaubt es kaum, weil man doch weiß, daß er als Kanzler sich selbst in allen wichtigen Fragen für kompetenter hielt als alle anderen, Nobelpreisträgerkohorten inklusive.
Mir stellten die Frage nach der Verantwortung der Verantwortungslosen einige Freunde, weil sie diese Frage für einen Witz hielten. Denn wer hätte je Parasiten nach ihrer Verantwortung für ihren Wirt gefragt? Wer stellt die Frage? Etwa ein Armeeangehöriger, den Wissenschaftler versuchsweise – aber ohne sein Wissen – radioaktiver Strahlung aussetzten, um die wissenschaftlich interessante Frage zu erörtern, wie lange man einen Menschen exponieren könne, bevor er versafte? Die Klärung dieser Frage verlangt bereits Anwendungspraktiken, deren Zulässigkeit mit der Exponierung angeblich erst geprüft werde. Solcher Selbstwiderspruch bei der Rechtfertigung freier Forschung grassiert vor allem in den Sozialwissenschaften, den Wirtschaftswissenschaften, der Humanmedizin und für die Politik. In diesen Bereichen fällt das wissenschaftliche Experiment mit den alltäglichen Realverläufen des Lebens zusammen. Die Resultate des Experiments sind genauso irreversibel wie die des Nichtexperiments. Also gibt es in diesen Bereichen keine gerechtfertigten Experimente. Eine Wissenschaft, die aber die Richtigkeit ihrer Behauptungen nicht experimentell überprüfen kann, wird alles mögliche behaupten. Damit hebt sie sich selbst auf.

Variante 2:

Keine Verantwortung übernehmen zu wollen, hält entsprechend aktionsgeile Wissenschaftler nicht davon ab, Handlungsanleitungen für Politik, Wirtschaft usw. anzubieten respektive zu verkaufen: Anleitung zum richtigen, gesunden, glücklichen Leben; Anleitung zur Verwirklichung des Fortschritts oder gar zur Errichtung von irdischen Paradiesen. Wann immer aber ein wissenschaftlich stichhaltiges Konzept im vorgeblichen Sinne verwirklicht wurde, war das Resultat eine totalitäre Zwangsgesellschaft, eine psychiatrisch auffällige Gurukratie oder ein kindischer Selbstbetrug. Daß bisher alle etwas umfassenderen Realisierungen wissenschaftlicher Entwürfe seit Platons syrakusanischen Abenteuern bis in unsere Tage das Gegenteil dessen bewirkten, was sie als der Weisheit besten Schluß versprachen, liegt in anthropologischen Bedingtheiten begründet, für die die Wissenschaftler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Gefährlich werden Wissenschaftler, sobald sie aber diese Bedingtheiten ignorieren. Beispiel: Fünf Generationen ausgefuchster Empiriker der Zoologie, Ethnologie und Anthropologie haben zwischen 1800 und 1930 (wissenschaftlich völlig einwandfrei) Wissen zusammengetragen, das u.a. als Rassenlehre der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Sie ignorierten dabei die menschliche Naturlogik, daß man sich Wahrheiten, gar wissenschaftlich bewiesenen, unterwerfen müsse, wolle man sich nicht als Banause oder als Ideologe erweisen. Also machten z.B. die Nationalsozialisten mit der überall an Europas Universitäten gelehrten Rassenkunde ernst, indem sie die Gesellschaft diesem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch (den sie für ein Naturgesetz hielten) unterwarfen. Sie machten auch mit vielen anderen wissenschaftlich erschlossenen Wahrheiten ebenso Ernst, radikalen blutigen Ernst. Zugleich führten sie dieses Ernstnehmen dafür an, daß sie eben doch keine Kulturbanausen seien. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß diesem Ingeltungsetzen wissenschaftlicher Wahrheit lange vor Arbeitern und Angestellten viele Akademiker begeistert zustimmten (sogar schon vor 1933); sie stimmten ja sich selbst als Trägern und Hütern dieser wissenschaftlichen Wahrheit zu. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem eben deshalb wissenschaftlich genannten Marxismus-Leninismus und der Verwirklichung seines Wahrheitsanspruchs durch Stalin und Polpot, durch Mao und Ulbricht, um nur ein paar Beispiele aus unserem Jahrhundert zu nennen.

Erläuterung:

Als wissenschaftliche Wahrheit wird von Wissenschaftlern jenes Aussagekonstrukt ausgewiesen, das von der Fachkollegenschaft benutzt wird, um wahre von falschen Behauptungen zu unterscheiden, denn diese Unterscheidung begründet Wissenschaft gegenüber dem bloßen Meinen oder dogmatischen Behauptungen oder punktuellen Evidenzen. Unterscheider von Wahrheiten und Unwahrheiten nennen wir dann Wissenschaftler, wenn sie diese Differenzierung mit Verweis auf ihre Fachkollegen respektive ihre Autorisierung durch Kollegen (Promotion, Approbation, Delegation) begründen. So gehen aber auch Mitglieder von Glaubensgemeinschaften, Parteien und Innungen vor. Allerdings weisen sie ihre Begründungen für diese Unterscheidungen nicht explizit und schon gar nicht theoretisch schlüssig aus, sondern nur implizit, als selbstverständliche Annahmen, von denen sie ungeprüft vermuten, daß ihre Genossen sie teilen.

Neben der wissenschaftlichen gibt es auch noch eine zweite Form expliziten Theoretisierens – die künstlerische. Unabhängig davon, ob einer mit mathematischen Formeln operiert, malt oder Geldgeschäfte tätigt, werden wir ihn als Künstler ansprechen, wenn er seine Aussagenansprüche mit Verweis auf sein eigenes Tun begründet. Der Künstler wird nicht die Bedeutsamkeit seiner Arbeit daran messen, wie weitgehend alle anderen Fachkollegen genauso malen, mit Wirtschaftsdaten jonglieren oder mathematische Theoreme aufstellen. Er wird seine Leistung als Künstler darin sehen, unabhängig von Anderen, unterscheidbar von Anderen, Positionen zu beziehen.

Frage:

Welche Bedeutung hat bei uns gegenwärtig die künstlerische Legitimation von Aussagenansprüchen? Was nutzt uns künstlerische Beispielhaftigkeit, die darin besteht, gerade nicht auf andere, gar viele andere Menschen übertragen werden zu können? Daß wir gerne wissenschaftlich argumentieren, um in Übereinstimmung mit der Mehrheit unserer Fach-, Zunft- und Parteigenossen zu urteilen, ist verständlich. Es entlastet, wie gesagt, von der Verpflichtung zur eigenen Verantwortung. Genau das aber verlangt das künstlerische Vorgehen: Verantwortung für sein Tun ist vom Künstler auf niemanden abzuwälzen, es sei denn um den Preis, ein künstlerisch unbedeutender Epigone zu sein. Künstlerische Positionen machen also heute das Prinzip der Eigenverantwortung am deutlichsten sichtbar. Wie wenig Hitler tatsächlich Künstler war – als den er sich sah –, belegt seine pathetische Deklamation, die Verantwortung für alles übernehmen zu wollen. Hitler nahm also seiner Klientel die Verantwortung für ihr Tun ab. Ebenso klar ist, daß ein Künstler bzw. künstlerisch sich legitimierender Kenner des erfolgreichen, richtigen, notwendigen Weges Führer anderer Menschen sein kann, soweit Führungsanspruch mit Verweis auf konkurrierende alternative Programme begründet werden muß.

Variante 3:

Wissenschaftler haben keinen privilegierteren Zugang zu Wahrheiten und Nützlichkeiten als Handwerker oder Stammtischler. Sie sind jedoch weit besser dagegen gefeit, auf behauptete Wahrheiten und Nützlichkeiten hereinzufallen. Wieso das? Weiß man doch, daß reihenweise sogar befähigte Natur- und Geisteswissenschaftler aller Sparten und Fächer ideologischem Budenzauber erlegen sind, ja ihn sogar selbst inszenierten. Nun, für die dritte Variante der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft wird vorausgesetzt, daß sich Wissenschaft und Nichtwissenschaft ausschließlich durch die Art und Weise unterscheiden, wie Aussagenansprüche begründet werden; sie unterscheiden sich nicht durch das, was sie sagen. Auch Alltagsmenschen haben z. B. ein kosmologisches Konzept, einen Kanon unumstößlicher Grundannahmen oder Strategien erprobenden Handelns parat, deren Varianten mindestens so zahlreich sind wie die der Wissenschaften; aber wissenschaftlich begründete Erzählung über die Entstehung "der Welt" läßt sich sinnvoller diskutieren als eine Legende.

Warum? Weil – in diesem Verständnis – wissenschaftliche Aussagen selber jenen Kriterien zu genügen haben, die sie gegenüber den Behauptungen anderer zur Geltung bringen, d.h., sie sind Gegenstand der Selbstkritik. Woraus wird die Kritik begründet? Nicht aus der Verfügung über die Wahrheit, sondern im Gegenteil aus der prinzipiellen Unmöglichkeit, die Wahrheit zu besitzen, sie für sich reklamieren zu können. Wissenschaft ist Kritik von Wahrheitsbehauptungen und den daraus abgeleiteten Zwängen, sich der Wahrheit unterwerfen zu müssen. Nur unter Bedingungen, die wir für "utopisch" halten müssen, wäre die Wahrheit tatsächlich zu sagen und in Geltung zu setzen. Also ist Wissenschaft auf den Entwurf von kontrafaktischen Utopien der wahren Welt angwiesen, um überhaupt kritikfähig zu sein. Die Utopie ist Begründung aller Kritik der Wissenschaft an den Ansprüchen von Menschen (von deren Institutionen oder Repräsentanten), in der Wahrheit zu stehen und der Wahrheit zur Herrschaft zu verhelfen. Wissenschaft ist nichts anderes als eine spezifische Form der Kritik von Aussagenansprüchen. Nach dieser kritischen Wissenschaft besteht gegenwärtig kein Bedarf, obwohl auch Wissenschaft als Handlungsanleitung wenigstens in einer Phase auf Kritik an den verbesserungswürdigen Produkten und Verfahren beruht. Nach kritischer Wissenschaft besteht kein Bedarf, weil sie sogar die allgemein für evident gehaltenen Wahrheiten zum Problem erhebt. Sie problematisiert wirtschaftliche, politische, soziale oder andere angebliche Problemlösungen, insofern sie zeigt, daß die Mittel der Lösung durch ihre Zwecke dann nicht geheiligt werden, wenn die Anwendung der Mittel selbst neue Probleme kreiert. Beispiel: Eine wissenschaftliche Lösung für das Problem Nahrungsmangel ist die Steigerung des Prohektarertrages durch Düngung, die ihrerseits zur Grundwasserbelastung führt. Wenn die Zunahme der Weltbevölkerung als entscheidende Ursache wachsender Nahrungsknappheit erkannt ist, bietet die herkömmliche Ertragssteigerung nur Scheinlösungen. Der Wissenschaft bliebe dann die Kritik an den verschiedensten Bedingungen der Steigerung der Bevölkerungsexplosion: Kritik an der katholischen Dogmatik und am protestantischen Fundamentalismus, Kritik am Selbstverständnis der Drittweltländer als Opfer imperialistischer Ausbeutung, an der Unterwerfung unter die naturlogische Dummheit, ein Staat sei umso leistungsfähiger, über je mehr Menschen er verfüge und ähnlichem.

Erläuterung:

Wenn weder Individuen noch Gruppen Wahrheitsgehorsam einfordern können, werde alles zur bloßen Geschmacksfrage, meinen die Verächter kritischer Wissenschaft. In der Tat ist alles Geschmackssache, vorausgesetzt man hat einen – vorausgesetzt also man ist unterscheidungsfähig. Wissenschaft als Kritik manifestiert sich demzufolge als Befähigung zum durchgängigen Unterscheiden. Das Urteilen ist nur eine Form des Unterscheidens. Erst das Unterscheiden ermöglicht den Aufbau von Bedeutung; die aber schützt vor der relationistischen Resignation, daß die potentiellen Möglichkeiten zu unterscheiden endlos sind und alle gleichermaßen gültig. Diese Gleichgültigkeit gilt es in erster Linie wissenschaftlich zu kritisieren.

Fazit:

In dieser Kritik an sich selbst nimmt die Wissenschaft Verantwortung wahr. Dagegen einzuwenden, man könne nicht permanent unter den Druck der Selbstrechtfertigung gestellt werden, mag zwar für Nichtwissenschaftler verständlich sein. Wissenschaftler aber, die nach Belieben aus der Verantwortung aussteigen, weil ihnen zu ihrer kritischen Befragung keine stichhaltigen Antworten einfallen oder die selbstmitleidig für ihre eigene Abdankung Schonung verlangen, geben komische Figuren ab.
Als solche könnten sie gegenwärtig immerhin die grassierende Wissenschaftsgläubigkeit abzubauen helfen. Jeder Wissenschaftler, der seine eigene Glaubwürdigkeit beim Publikum aufs Spiel setzt, indem er seine Obsessionen, Perversionen, seine ideologischen Deformationen und seine allgemeine Verhaftung an banale Vorurteile zur Schau stellt, ist ein Faktor der Aufklärung. Nachdem die Aufklärer glaubten, alle Welt aufklären zu sollen, ist es jetzt an der Zeit, mit den eigenen Macken, Interessen und Machtgelüsten vertraut zu werden. Das Publikum wird schon noch lernen, diejenigen Wissenschaftler höher zu schätzen, die sich selbst nicht über den Weg trauen, anstatt Honorar und Beifall dafür zu verlangen, daß sie sich als Inkarnation machtvoller Weisheit jederzeit dienstbereit zeigen.

Die Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft I
Hochschulkongress, 29.06.1992

Die Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft II
Hochschulkongress, 29.06.1992

Die Verantwortung der Wissenschaft für die Gesellschaft (Schlusswort)
Hochschulkongress, 29.06.1992

siehe auch: