Festschrift 150 Jahre Künstlerverein Malkasten.

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Erschienen
1997

Herausgeber
Lohmann, Julia

Erscheinungsort
Düsseldorf, Deutschland

Seite 262 im Original

Deklaration zum 12.9.

Der Malkasten wird extemporale Zone.

Der Ausdruck ‚exterritorial‘ ist uns auch im Alltagsleben einigermaßen vertraut. Dennoch umgibt z.B. die exterritorialen Residenzen und Geschäftsräume der Botschafter fremder Länder eine gewisse irritierende Aura. Denn wir sind mit der Vorstellung überfordert, einen kontinuierlich gegebenen territorialen Raum mit Inseln der Fremdheit, ja der Anschauungsleere zu durchbrechen und zu zerstückeln.

Aber: Territorien, z.B. als Staaten, werden nicht in erster Linie durch ihre geographischen Grenzen definiert, sondern als Lebensräume, in denen Sitten und Gebräuche, Rechtsformen und Kommunikationsverfahren für alle Bewohner gelten. Durch diese verpflichtende Gemeinsamkeit gelingt es den im Territorium Lebenden zu kalkulieren, wie andere handeln, urteilen und erleben, woraus sich eine hinreichende Sicherheit auch über zukünftiges Kommunizieren aller Beteiligten ergibt. Wer sich nicht daran hält, wird mit Sanktionen belegt. Derartige Gemeinschaften nennen wir Kulturen. Kulturen sind also durch Kommunikation aufrechterhaltene Beziehungsgeflechte zwischen Menschen, um Verbindlichkeit für eben diese Beziehungen zu garantieren. Die Reichweiten solcher Verbindlichkeiten markieren die Grenzen der Territorien als Lebensräume.

Wir haben Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß es in solchen Lebensräumen Inseln anderer Verbindlichkeiten, also anderer Kulturen geben kann. So markieren wir schleunigst diese Inseln als Ghettos, z.B. die von Einwanderern, wenn sie darauf bestehen, ihre eigene Kultur aufrechtzuerhalten. Solche Ghettos sind informelle exterritoriale Räume, die die Tendenz haben, sich auch formal zu stabilisieren – eben nach dem Beispiel der Exterritorialität von Botschaften fremder Mächte oder von Kolonien des imperialen Zeitalters. Aber unsere Schwierigkeiten, die Einheit der Lebensräume am Anschauungsmodell von Schweizer Käse, dem durchlöcherten, zu begreifen, läßt sich erheblich mildern; wir müssen uns nur erinnern, daß wir eine gewisse Territorialität jeden Tag für unsere eigenen, privaten Lebensräume, die Wohnungen, in Anspruch nehmen, sogar grundgesetzlich garantiert.

Obwohl alle Kulturen den Eindruck erwecken, als seien die für sie geltenden Verbindlichkeiten zwischen ihren Mitgliedern von ewiger Dauer und seit unvordenklichen Zeiten in Geltung, machen die Individuen die Erfahrung, daß sich ihre kommunikativen Beziehungen z.T. mit großer Schnelligkeit, ja Plötzlichkeit verändern. Sie werden in ihrer eigenen Kultur unzeitgemäß – ein eklatanter Widerspruch zur Annahme, daß Kulturen Stabilität in den Beziehungen ihrer Mitglieder garantieren sollen.

Erstaunlich viele Individuen wie kleinere und größere Gruppen leben innerhalb der Kulturen auf informellen Inseln der Unzeitgemäßheit. Das Gefühl, aus den Zeithorizonten der eigenen Kultur getreten zu sein, verunsichert; also bemüht man sich, die Unzeitgemäßheit zu institutionalisieren. In allen Kulturen gibt es dafür Vorkehrungen: von der Einrichtung von Kulten zur Verehrung der Ahnen, den Unzeitgemäßen schlechthin, über die Anlegung von Archiven historischen Wissens bis zur Gründung von Museen. Solche kulturellen Institutionen definieren extemporale Zonen in einem Lebensraum: Inseln der Seligen, Paradiese derer, die die Stunden nicht zählen müssen, Inseln der Permanenz, der Zeitlosigkeit. Sie werden damit zu den eigentlichen Repräsentanten des kulturellen Selbstverständnisses und seiner Begründung, seit unvordenklichen Zeiten zu bestehen und bis in unabsehbare Zukunft zu dauern.
Dieses Zeitverständnis der Kulturen bezeichnet man als uchronisch (aus dem Griechischen übersetzt also als zeitlos im Sinne von andauernd).

Versuchen wir, für diese Ewigkeiten eine territoriale Entsprechung zu finden, werden wir von der Uchronie auf die Utopie (aus dem Griechischen übersetzt ortlos im Sinne von überall) verwiesen.

Wenn wir uns entschließen, das 150jährige Bestehen der Kulturinsitution Malkasten zu feiern, setzen wir uns der Zumutung von Uchronie und Utopie aus, also der Erfahrung von Ortlosigkeit im Überall und der Zeitlosigkeit in jedem Augenblick. Wir sind an einem territorialen Ort in der Düsseldorfer Innenstadt, sollen ihn aber erfahren als nicht mehr durch seine Grenzen bestimmt. Wir versammeln uns in einem bestimmten Augenblick, sollen ihn aber als immerwährenden erleben.

Wir haben den Malkasten als Repräsentanten unseres kulturellen Selbstverständnisses zu bestätigen, seine Bedeutung aber gerade aus der Überschreitung dieses Horizonts zu begründen. Wir feiern die Würde des historischen Alters, also die kulturelle Dauer, geben aber zugleich das Zeitmaß kalendarischer Jahre auf, um zu genießen, was Dauer heißt. Wir begegnen uns in diesem historischen Gebäude, müssen aber gleichzeitig den Anspruch auf seine Authentizität fallen lassen, nicht nur weil es mehrfach umgebaut wurde, sondern weil es als Institution und nicht als Anhäufung von Ziegelsteinen existiert. Eine bemerkenswerte Zumutung von Orts- und Zeiterfahrung. Dieser Merkwürdigkeit nähert man sich wohl am besten, wenn man sich für sie auf die alltägliche Erfahrung besinnt, die wir mit der Befindlichkeit in Zwischenbereichen alle gemacht haben: als Wartende in Warteräumen, als Autofahrer im ruhenden Verkehr des Staus, als Touristen im Zeitausstieg der Ferien in irgendeiner Ferne, als selbstvergessen Spielende in Kinderzimmern, als Barbesucher nicht enden sollender Nächte, als Patienten in Krankenstationen, denen vor allem abverlangt wird, geduldig zu warten, daß sich so oder so im Warten die Zeit erfüllt.

Der Malkasten ist in diesem Sinne Warteraum der Ewigkeit; Spielzimmer der Selbstvergessenheit; Bar der ewigen Wiederkehr des Verlangens danach, berauscht über die Zeit der Terminkalender zu triumphieren; Strand der historischen Ferne vor dem Horizont gemalter Himmelsbläue und Kunstwerksonnen! Der Malkasten ist exterritorial, weil nur den Mitgliedern vorbehalten, extemporal, weil wir in ihm Zeit nicht konsumieren, sondern gewinnen; utopisch, weil ein gedankliches Konstrukt, und uchronisch, weil auf Dauer orientiert. Der Malkasten ist mehr als ein Museum, in dem virtuelle Zeitgestalten wie Epochen, Künstlerschulen, Traditionen erschaffen werden; im Malkasten virtualisieren sich die Künstler selbst zu Dauergestalten des Lebendigseins, auch wenn diese Versammlung manchem den Eindruck von Wachsfigurenkabinetten nahelegt.

Der Malkasten ist mehr als ein Warteraum in Arztpraxen – im Malkasten gilt nur als guter Arzt, wer sich selber helfen kann, wer eben Künstler ist. Wer im Malkasten wartet, wartet nicht mehr darauf, daß etwas anderes eintritt als die möglichst endlose Verlängerung des Aufenthalts selbst. Der Malkästler verfügt bereits über die Kraft zum erwartungslosen Warten; er ist nicht mehr gläubig darauf fixiert, daß sich die Hoffnungen auf die Kunst erfüllen, sie müsse sein Leben radikal ändern. In den Malkasten werden nicht Banausen, also Saulusse der Kunstgläubigkeit gelockt, um als Paulusse nach Hause geschickt zu werden. Hier gilt es umgekehrt, die Naivität eines Kunstpaulus aufzugeben, um sich souverän den Problemen zu stellen, die sich Künstler zumuten:

  • sie wissen auch nicht mehr als ihr, aber wir gehen mit unseren Beschränktheiten und Defekten produktiv um;
  • sie werden die häßliche Welt nicht endgültig behübschen und dem Schrecken keine ästhetischen Masken aufsetzen;
  • sie flüchten nicht vor Schuldeingeständnissen oder Versagensängsten in Allmachtsphantasien und Selbsterhebungsglorie;
  • sie sind Künstler, weil sie es aushalten, sich selbst radikal entgegen zu treten, anstatt nur andere der Kleinheit, Eitelkeit, Beschränktheit zu bezichtigen.

Jeder aufgeklärte Verkehrsteilnehmer im Stau wird nicht mehr die böse Regierung oder die Autoindustrie für diese offensichtliche Widerlegung des Mobilitätsanspruchs verantwortlich machen, sondern sich selbst als Ursache des Stillstands erkennen; so erkennt hoffentlich jeder Malkästler sich als Ursache jener Mißlichkeiten, die heute alle Kulturhinterwäldler lauthals beklagen:

  • Mißbrauch der Kunst als Dekor des Wohllebens;
  • das Verkommen der Künstler zu Unterhaltungsclowns;
  • die Anrufung der Kulturpflichtigkeit von Staat und Gesellschaft, während man sein säuisches Behagen in der Kultur auslebt, Kartoffelchips mampfend und durch die Fernsehkanäle zappend.

Wenn dem so ist, und weil dem so ist, können wir zum 150. Gründungsjubiläum dem Malkasten eine hoheitliche Email-Intarsie an die Pforten heften, so irritierend auratisch, wie sie eine exterritoriale Residenz großer fremder Mächte eben ausweist:

ZEITFREIE ZONE – Repräsentanz der Ewigkeit in jedem Augenblick.

siehe auch: