Buch Technik und Kunst

Dietmar Guderian (Hg.): Technik und Kunst, Bild: Düsseldorf: VDI, 1994..
Dietmar Guderian (Hg.): Technik und Kunst, Bild: Düsseldorf: VDI, 1994..

Reihe: Technik und Kultur; Bd. 7

Dieser Band beginnt mit dem sich wandelnden Verhältnis von Technik und Kunst im Laufe der Geschichte. Themen: Technische Hilfsmittel für künstlerisches Gestalten Technik als Thema in Kunstwerken: in Malerei, Grafik und Plastik, in der Literatur, der Musik und der darstellenden Kunst.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung, S. 1-6
Dietmar Guderian

1. Was ist Kunst? S. 7

1.1. Der Kunstbegriff im Wandel, S. 9-26
Hans-Georg Gadamer

1.2. Über die Schwierigkeiten, moderne Kunst zu vermitteln, S. 27-38
Bazon Brock

2. Technik als Werkzeug zur Gestaltung von Kunstwerken, S. 39

2.1. Kunst und Technik im klassischen Altertum — die antike Bronzetechnik, S. 41-52
Peter C. Bol

2.2. Eisen in der modernen Kunst, S. 53-58
Willy Rotzler

2.3. Technik und Kunst in der Skulptur der Moderne, S. 59-66
Eberhard Fiebig

2.4. Die Technik der Musikinstrumentenherstellung am Beispiel des klassischen Instrumentariums, S. 67-91
Hubert Henkel

2.5. Die Entwicklungsgeschichte des künstlich erzeugten Tons, S. 92-102
Hubert Henkel

2.6. Fotografische Technik und Malerei im Dialog, S. 103-127
Erika Billeter

3. Kunst und Handwerk, S. 129

3.1. Kunsthandwerk und Technik, S. 131-145
Astrid Guderian

3.2. Möbel: Konstruktion und Gestaltung, S. 146-162
Bernhard Bischoff

4. Grenzbereiche Zwischen Technik und Kunst, S. 163

4.1. Künstlerische Auseinandersetzung mit neuen Technologien, S. 165-175
Dietmar Guderian

4.2. Computergraphik als Kunst, S. 176-187
Herbert W. Franke

4.3. Künstler, Computer und tanzender Bär, S. 188-194
David Galloway

4.4. Technische Erscheinungen von ästhetischem Reiz, S. 195-210
Dietmar Guderian

5. Technik als Thema von Kunstwerken, S. 211

5.1. Der Bergbau des 16. und 17. Jahrhunderts in seinem künstlerischen Ausdruck, S. 213-232
Rainer Slotta

5.2. Industrielle Revolution in der Bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, S. 233-261
Christoph Bertsch

5.3. Der Arbeitsprozeß und der Mensch im Arbeitsprozeß — vom Beginn der Industrialisierung bis zur Gegenwart, S. 262-277
Dietmar Guderian

5.4. Die Kunst als Ventil — Technikangst und Technikbegeisterung, S. 278-330
Dietmar Guderian

5.5. Graphik, Design und Technik — die visuelle Kommunikation der Industrieunternehmen, S. 331-344
Karl Duschek

5.6. Architektur als Ausdruck unserer Zeit, S. 345-353
Fritz Leonhardt

5.7. Architektur im 20. Jahrhundert — vom floralen Stil zum Dekonstruktivismus, S. 354-375
Eva-Maria Schumann-Bacia

5.8. Technik als Thema der Musik des 20. Jahrhunderts, S. 376-406
Hans-Joachim Braun

5.9. Technik und Sprache, S. 407-413
Astrid Guderian

5.10. Technik in der Literatur der Neuzeit, S. 414-438
Dietrich von Engelhardt

5.11. Das literarische Gedankenexperiment — zur Technikgeschichte der Science Fiction, S. 439-449
Susanne Päch

5.12. Technik und Lyrik — die Geschichte einer Beziehung, S. 450-493
Astrid Guderian

Erschienen
1993

Herausgeber
Guderian, Dietmar

Verlag
VDI-Verl.

Erscheinungsort
Düsseldorf, Deutschland

ISBN
978-3-642-95793-2

Umfang
XVIII, 541 S. : Ill. ; 26 cm

Seite 27 im Original

Über die Schwierigkeiten, moderne Kunst zu vermitteln

Entgegen landläufiger Auffassung ist die Schwierigkeit, moderne Kunst zu vermitteln, keine andere und keine größere als die Vermittlung vormoderner Kunst.

Die Tatsache, daß die moderne Kunst weitgehend nicht gegenständlich arbeitet, also keine konventionell identifizierbaren Bildsujets verwendet, sondern diverse Varianten „abstrakter“ Darstellung nutzt, besagt keinesfalls, daß die moderne Kunst nicht nach Bildthemen aufschlüsselbar oder unter formalen Aspekten bestimmbar wäre.

Für die „Lesbarkeit“ von Bildern macht es keinen Unterschied, ob etwa ein vormoderner Rubens „Kühe auf einer Weide“ zum Bildthema erhebt, oder ein moderner Künstler wie Kasimir Malewitsch dem Betrachter ein schwarzes Quadrat auf einer Leinwand präsentiert (1).

Bildleseverfahren wie zum Beispiel die Ikonografie und Ikonologie sind auf moderne und vormoderne Werke gleichermaßen anwendbar. Dasselbe gilt für Methoden der Formanalyse, wie sie Alois Riegel entwickelte, und für stilgeschichtliche Untersuchungen, bzw. problemgeschichtliche oder gestaltpsychologische, die Kunstwissenschaftler wie Ernst Gombrich entfaltet haben.

Von den kunstwissenschaftlichen Formen des Umgangs mit Kunstwerken und mit angewandter Kunst, dem Design her gesehen, unterscheiden sich die Schwierigkeiten mit moderner und vormoderner Kunst nicht.

Erwartung von Laien bei Betrachtung von moderner Kunst

Bei dem nicht explizit theoretisch, also nicht wissenschaftlich begründeten Umgang von Kunstinteressierten mit Werken scheinen sich Schwierigkeiten der Vermittlung deshalb zu ergeben, weil die Laien glauben, es müsse einen unmittelbaren Zugang zu den Werken geben; die Laien setzen auf ihre Fähigkeit, in der bloßen „gefühlsmäßigen“ Hinwendung und voraussetzungslosen Betrachtung sich den Werken annähern zu können.

Sicherlich kann man sich der Wirkung von „Bildern“ auf diese Weise aussetzen wollen – was aber dabei herauskommt, reicht nicht hin, sich der Kunstwerke unterschiedlicher Kulturlandschaften und Epochen, sowie unterschiedlicher künstlerischer Haltungen und Konzepte zu vergewissern; denn unser Gefühlshaushalt ist im Vergleich zu unseren kognitiven Fähigkeiten auffällig beschränkt. Deshalb reduzieren sich die Äußerungen der Laien vor Kunstwerken auf Aussagen wie „das gefällt mir“, „das sagt mir etwas“, „das berührt mich, das ist schön“; was aber da berührt und gefällt (oder eben nicht), können die Laien weniger spezifizieren.

Wenn jemandem ein Gemälde von Peter Paul Rubens (1577–1640) gleichermaßen gefällt wie eines von Roy Lichtenstein, so ist damit über die Werke selbst so gut wie nichts gesagt. Laien, die Kunstwerke – wie sie häufig sagen – mit dem Bauch wahrnehmen, können historische und konzeptuelle Kontexte, Wirkungsgeschichte und kulturelle Prägungen, die mit den Werken und in den Betrachtern selbst vorgegeben sind, nicht auf ihre Besonderheit, ja Einmaligkeit, hin wahrnehmen; ihnen muß deshalb gerade das entgehen, was die spezifischen Qualitäten und Bedeutungen eines Rubens oder eines Lichtenstein ausmacht.

Die äußerst schmale Basis gefühlsmäßiger Einlassung auf Kunstwerke beruht auf der Annahme, die Bedeutung stecke in den Objekten, wie ein Keks in der Schachtel (2).

Der Laie meint, von der Erscheinung unmittelbar, also unvermittelt, auf das Wesen schließen zu können; er geht von der Identität von Inhalt und Form, von Darstellung und Dargestelltem, von Zeichen und Bezeichnetem aus. Demzufolge glaubt er, bei Werken moderner Kunst auf größere Schwierigkeiten zu stoßen als bei denen der Vormoderne, weil sie ihm keine Belege für seine Vermutung bieten, von der versunkenen Betrachtung in die Anmutung des Werkes auf dessen Wesen und Bedeutung rückschließen zu können.

Folgerichtig kommen die Laien vor modernen Kunstwerken zu der Behauptung, diese Werke hätten also gar keine Inhalte; sie seien bloße Zeugnisse eines beliebigen Operierens mit Formen und Farben, respektive Materialien, die Jedermann, ja jedes Kind genauso hervorbringen könnten.

Der Laie fragt sich nicht – und zwar gleichermaßen vor Werken der Moderne wie vor denen der angeblich gesicherten Traditionen –, warum eigentlich beispielsweise um 1500 Künstler der gleichen Kulturlandschaft für die gleichen Auftraggeber und gleiche Verwendungszwecke zu ganz unterschiedlichen Fassungen der Aufgabe gekommen sind, die Geburt Christi dazustellen; oder aber, warum um 1904 Maler ein- und derselben Generation in Dresden vor den gleichen Landschaften zu so unterschiedlichen Landschaftsdarstellungen gekommen sind, wie sie von den Malern der „Brücke“ überliefert wurden.

Der auf unvermittelte Konfrontation mit den Werken bestehende Laie hat keinen Zugang zu deren ästhetischer Dimension. Er glaubt, das Ästhetische als festgeschriebene Größe für Schönheit behaupten zu können, ohne darüber nachzudenken wie eine solche normative Wertskala – gäbe es sie denn – für Künstler und Betrachter verbindlich etabliert werden könne; er hält, naiverweise, solche Schönheit zu erreichen, für eine selbstverständliche Aufgabe der Künstler, und beläßt den Begriff der Schönheit irgendwie im Ungefähren als überindividuelle ahistorische und transkulturelle Größe.

Die augenfällige Abweichung von solchen Schönheitsnormen versteht der Laie nur als Resultat mangelnder handwerklicher Fähigkeiten der Künstler, wobei die angeblich großen Künstler der Vormoderne ihr Handwerk eben noch meisterlich beherrschten, die modernen Künstler aber solche Befähigung nur vortäuschten, um ihre persönlichen Defekte oder ideologischen Beschränkungen vergessen zu lassen. Wer anders male, als es dem verbindlich gesetzten Schönheitsideal des Betrachters entspreche, sei entweder das bedauernswerte Opfer seiner „kranken“ Wahrnehmungsorgane, vornehmlich der Augen, oder er sei gefühlspervers bzw. ideologisch entartet, zum Beispiel als „kultur-bolschewistisch agitierender jüdischer Verschwörer“, dem man nicht auf den Leim gehen wolle und dessen politisch-sozialer Umstürzlerei der Boden zu entziehen sei (3).

Der Begriff des Ästhetischen

Alle bisherigen Versuche, das Ästhetische mit dem Schönen gleichzusetzen und normativ zu bestimmen, bzw. zu messen, sind gescheitert. Auf unser Jahrhundert bezogen scheiterten gleichermaßen die Versuche totalitärer, nationalsozialistischer, faschistischer oder sozialistischer Regime, ästhetische Normen verbindlich durchzusetzen, wie auch die Versuche von Informationsästhetikern – zum Beispiel Max Bense – scheiterten, den ästhetischen Rang von Kunstwerken messend zu erfassen. Diese Versuche gingen ins Leere (um so bedauernswerter ihre zahllosen Opfer), weil sie auf einen Begriff des Ästhetischen rekurrierten, der im Rahmen bestimmter philosophischer Problemstellungen, der Ontologie, zwar sinnvoll zu sein schien, aber für die Hervorbringung und Aneignung konkreter Kunstwerke unbrauchbar war.

Mit der Umorientierung der Wissenschaft von der Ontologie auf die Biologie der Erkenntnis entstand ein anderer Begriff des Ästhetischen (4). Die ästhetische Dimension aller menschlichen kommunikativen Handlungen läßt sich auf Konstanten unseres Weltbildapparates und seiner funktionalen Leistungen gründen. Das Ästhetische wird dieser Auffassung zufolge als unaufhebbare Differenz zwischen psychischen und gedanklichen Operationen einerseits, so wie deren sprachlichen Manifestationen andererseits verstanden.

Außer in Tautologien und mathematisch definierter Eineindeutigkeit von Zeichen gibt es weder für den Urheber einer kommunikativen Handlung, noch für deren Adressat oder Beobachter die Möglichkeit, Ausdruck und Ausgedrücktes, Inhalt und Form, Anschauung und Begriff, Zeichen und Bezeichnetes identisch zu setzen. Die Nichtidentität von sprachlichen Zeichen – als Wort, als Bild, als Geste, als Handlung – mit den ihnen zuordenbaren Gedanken und Vorstellungen, läßt sich aber auch nicht lexikalisch oder in irgendwelchen anderen Festschreibungen analoger Zuordnungen „enträtseln“, wie man Geheim- oder Privatsprachen aufschlüsseln zu können glaubt.

Die Schwierigkeiten im Umgang mit Kunstwerken sind demzufolge keine anderen als die, die uns in jeder Kommunikation zwischen Menschen zugemutet werden. Insofern Künstler als Spezialisten für das Ästhetische angesprochen werden können, resultieren ihre je besonderen Arbeiten aus dem Versuch, die prinzipiell unaufhebbare Differenz von Anschauung und Begriff oder Zeichen und Bezeichnetem gerade zum Thema ihrer Arbeiten zu machen. Im Unterschied zu Kommunikationstrainern, Kunsttherapeuten und Sprachlehrern heben Künstler nicht darauf ab, die ästhetische Differenz zu eliminieren, sondern sie fruchtbar werden zu lassen für die Entfaltung abweichender Vorstellungen und Gedanken. Sie nutzen andererseits die ästhetische Dimension produktiv, indem sie die Unmöglichkeit demonstrieren, etablierte Gedanken oder Vorstellungen eindeutig zu vergegenständlichen. Das reiche Werk vieler Künstler besteht aus den immer erneuten Versuchen, sich ihren relativ wenigen Formvorstellungen, kognitiv entwickelten Begriffen und ihren Emotionen anzunähern. Dennoch sind ihre Arbeiten nicht bloße Variationen des immer gleichen Themas, da jede Zeichenfiguration in hohem Maße offen und unbestimmt bleiben muß, also nicht kalkulierbare Abweichungen von jenen Visionen, Gedanken oder Emotionen erzwingen, mit denen der Künstler ans Werk ging.

Anleitung zu produktivem Umgang mit Kunstwerken

Kunstvermittlung als Anleitung zu einem produktiven Umgang mit Werken kann nicht darauf ausgerichtet sein, den Rezipienten einen Kanon verbindlicher Deutungen und Bedeutungen zur Verfügung zu stellen. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich darauf auszurichten, die Unterscheidungsfähigkeit der Rezipienten zu entwickeln, wobei die Kriterien der Unterscheidung und deren – je nach Interesse – methodischen Konventionen und in Handlungskontexten spezifisch vorgegebene Verknüpfung die wichtigste Rolle spielen.

Kunstvermittlung ist aber dem Vorgehen nach nichts anderes als die vermittelte Einlassung auf irgendeine Gegebenheit in der Welt. Wer einem anderen zum Beispiel die Möglichkeit eröffnen will, sich mit einigen Quadratmetern Wiese zu konfrontieren, geht nicht anders vor als der Kunstvermittler. Was die Quadratmeter Wiese wahrnehmbar werden läßt, ist die Unterscheidung der in diesem Wahrnehmungsfeld gegebenen Phänomene. Um diese voneinander zu unterscheiden, kann man Kriterien und ihre Verknüpfung benutzen, wie sie von Pflanzen- und Insektenkundlern, oder Landwirten, oder Bodenkundlern oder Landschaftsaquarellisten oder Ausflüglern benutzt werden. Je nachdem, welche Kriterien für die Unterscheidung der gleichen Phänomene auf dem gleichen Stück Wiese zum Zuge kommen, wird die „Bedeutung“, die Bearbeitung, die Wertschätzung, das Erlebnis der Nutzungsform der Wiese ausfallen. Natürlich wird die Konfrontation mit der Wahrnehmungsaufgabe „Wiese“ um so reicher, je mehr Kriterien der Unterscheidung der Wahrnehmende zu verwenden vermag. Aber die Kriterien und ihre Ordnung, die der Pflanzenkundler in Anschlag bringt, sind mit denen des Aquarellisten oder des Bodenkundlers oder des Ausflüglers nicht in Übereinstimmung zu bringen; man kann also die Konfrontation mit irgendwelchen Gegebenheiten in der Welt ebenso wenig wie die Konfrontation mit Kunstwerken dadurch ins Unüberbietbare steigern wollen, indem man alle möglichen Unterscheidungsformen addiert; denn auf jeder Ebene und in jeder Form der Unterscheidung setzt sich die ästhetische Differenz durch.

Für die Kunstvermittlung ergeben sich aber zusätzliche Probleme: Ein Pflanzenkundler wird wohl kaum die Unterscheidung der Gräser, Moose, Blumen nach Kriterien vornehmen, die irgendwann einmal gegolten haben. Er wird sich an die Kriterien halten, die seiner Zunft durch Herrn Carl von Linné (1741–1783) zur Verfügung gestellt wurden, und auf die sich die Pflanzenkundler geeinigt haben. Selbst wenn er ausgestorbene aber irgendwie noch dokumentierte Pflanzen sieht, wird er die heute unter seinen Kollegen geltenden Unterscheidungskriterien für die Bestimmung dieser Pflanzen benutzen. Das ist bei der Kunstvermittlung anders.

Kunstwerke sterben nicht aus, und zu ihrer Bestimmung gehören auch Kriterien der Unterscheidung, die in jenen Zeiten galten bzw. genutzt wurden, in denen die Kunstwerke entstanden. Der Kunstvermittler sieht sich – über die Zumutungen der ästhetischen Differenz hinaus – gezwungen, in der Gegenwart nicht mehr genutzte, ja auch kaum noch verstehbare Wahrnehmungs- und Urteilsformen zu berücksichtigen; er kann sich also nicht darauf beschränken, den Kunstbetrachtern ein Beispiel für eine der gerade für sinnvoll gehaltenen Einlassungen auf Kunst zu geben. Er wird auch Beispiele für jene Arten der Einlassung auf Kunst bieten müssen, die nicht die seinen sind, die nicht zeitgemäße sind, und mit denen man als Zeitgenosse auch nicht mehr arbeiten kann. Soweit er also einerseits die Betrachter anleitet, das befremdlich Neue in der Konfrontation mit Kunst zu bestimmen, zu erkennen und zu nutzen, so wird er andererseits – gegenüber Werken früherer Epochen – die vermeintliche Vertrautheit des Betrachters mit vormodernen Traditionen zerstören müssen, indem er Wahrnehmungs- und Urteilsformen vorführt, die als historisch frühere von den Zeitgenossen nicht verstanden werden können, wodurch das vermeintlich vertraute vormoderne Kunstwerk zu einem erheblichen Teil wieder unbestimmt und unbekannt gemacht wird. Gegen diese Wirkung der Kunstvermittlung, dem Betrachter das Vertraute zu entziehen, sträuben sich viele Liebhaber der Künste. Da Kunstwerke im Laufe der Epochen zu einem gewissen Anteil auch immer durch Bezug auf schon vorhandene, also historisch frühere Kunst entstehen, kann die Betrachtung von modernen Werken oder unmittelbar zeitgenössischen in keinem Fall von der Betrachtung früherer abgekoppelt werden. Da aber jeder Kunstvermittler nur als Zeitgenosse zu seiner Klientel sprechen kann, wird er die Beziehung der neueren auf die älteren Werke dezidiert ausweisen müssen. Das geschieht beispielsweise so: Zeitgenössische Avantgarde, also das Neueste, erweist sich erst darin als tatsächlich neu, indem es uns veranlaßt, neue Sichtweisen auf die vermeintlich bekannten und vertrauten Werke der Tradition zu entwickeln. Oder: Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen auszubilden. Damit werden die historisch frühen Werke auf jene Distanz des befremdlichen Anderen, ja Unbekannten gebracht, in der sie zu uns ohnehin stehen – nämlich einerseits durch ihre ästhetische Dimension und andererseits durch ihre historische Dimension.

Wie man heute von der Wahrheit nur noch mit Bezug auf das Falsche vernünftig reden kann, da nur das erkannt Falsche als solches noch als wahr ausgewiesen werden kann, so kann man von den Kunstwerken nur vernünftig reden, wenn Betrachtung und Urteil dazu führen, die Distanz, die Ambivalenz und die Ambiguität, die Fremdheit und uneingrenzbare Offenheit der Werke als eine ihrer wesentlichen Qualitäten akzeptieren zu können. Dazu sind diejenigen nicht bereit, die vom Kunstvermittler tiefschürfende umfassende Interpretationen der Werke als verläßliche Aussagen einfordern. Alle Botaniker wenden heute die gleichen Bestimmungsformen ihrer Objekte an – Kunstvermittler hingegen können auf solche allgemein akzeptierten Distinktionsverfahren nicht zurückgreifen.

Ein- und dasselbe Gemälde, ob modern oder vormodern, wird so viele Deutungen oder Aneignungsformen gleichermaßen provozieren, oder über sich ergehen lassen, wie es beispielhafte, dennoch häufig aber nur von einem Individuum getragene Wahrnehmungs- und Urteilsformen gibt. In der Kunstvermittlung sind diejenigen Aneignungsformen, die von einem oder wenigen Vermittlern genutzt werden, prinzipiell genauso bedeutsam, wie diejenigen, hinter denen größere Gruppen von Wissenschaftlern oder gar ganze Schulen stehen. In dieser Tatsache einen Freibrief für bloß individuelle, meist subjektiv genannte Geschmacksurteile vermuten zu dürfen, ist ein logischer, wie ein von der Erfahrung widerlegter Kurzschluß. Auch wenn man annähme, daß in Kunstfragen alle Urteile individuelle Geschmackssache seien, so gilt diese Annahme doch nur unter der Voraussetzung, daß das betreffende Individuum einen Geschmack hat und das heißt, daß es nach Kriterien zu unterscheiden weiß und in der Lage ist, diese Kriterien auf produktive Weise zu verknüpfen.

Diese Produktivität erweist sich in der Kunstvermittlung nicht darin, daß die Betrachter ihrerseits zu künstlerischem Arbeiten befähigt würden; das anzustreben, läßt viele bemühte Veranstaltungen in Volkshochschulen und Museen so peinlich fehlgehen, erst recht, wenn diese Zielsetzung mit der generellen Feststellung untermauert wird, jeder Mensch sei ein Künstler. Er ist es gewiß nicht auf der Ebene der Hervorbringung von Werken; er vermag es aber auf der Ebene ihrer Aneignung zu sein, sobald er begriffen hat, daß die Rezeption und alle mit ihr verknüpften Leistungen genauso produktiv, so „künstlerisch“ wie das Malen oder Schreiben oder Designen zu sein vermögen.

Der Betrachter entnimmt nämlich den Werken nicht Botschaften oder sonstige in ihnen vorhandene Gegebenheiten. Kommunikation, also auch Wahrnehmen und Verstehen, sind keine Austauschprozesse, sondern eigenständige parallele und analoge Leistungen der Sprechenden und Zuhörenden, der Malenden und Betrachtenden, der Komponierenden und Musizierenden.

Der Kunstvermittler ist also kein Zwischenträger, kein Medium, sondern wirkt eher wie ein Katalysator oder ein Enzym in Beziehung zwischen Werk und Betrachter – wenn auch wohl nicht ganz so unberührt und unbeschädigt wie Katalysatoren und Enzyme in chemischen Prozessen; denn er ist ja immer auch Sprechender und Zuhörender zugleich, Betrachter und Gegenstand der Betrachtung. Das verlangt einen Grad von Selbstdistanzierung durch Selbstreflexion, zu dem man nur schwer gelangen kann.

Wie schwer das ist, mag für den Autor dieser, hiermit abgeschlossener Text belegen, dessen Vermittlung an den Leser nur darin bestehen kann, ihn zugleich evident erscheinen zu lassen und andererseits als krause Zumutung. Wer aber von einem Text oder von irgendeiner anderen Form der Äußerung nur die Bestätigung oder Einlösung dessen verlangt, was er erwartet, bräuchte solche Texte oder Äußerungen anderer gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen. Er wird sich wohlig auf die Unmittelbarkeit des Zugangs zu den Werken zurückziehen, wie sich der selbstgefällige Protestant auf die Unmittelbarkeit seiner Beziehung zu Gott zurückzieht. Aber gegen solche Machtphantasien der Kunstgläubigen wie aller anderen Gläubigen ist kein Werk gewachsen, erst recht kein Kunstvermittler.

Literaturnachweise

(1) Brock, Bazon: Ikonografie der modernen Kunst. In: Ikonografia. Festschrift für Donat de Chapeaurouge. Hrsg. v. Brock, Bazon/Preiß, Achim. München 1990

(2) Brock, Bazon: Besucherschule zu documenta 6. Kassel 1977; Brock, Bazon: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Köln 1986

(3) Brock, Bazon: Genie und Wahnsinn, Therapie durch Kunst? DIE REDEKADE. München 1990

(4) Brock, Bazon: Übersichtseinführung. In: Ästhetik als Vermittlung. Köln 1977