Buch Carius #68+

Im Labyrinth der Ereignisse

Carius #68+, Bild: Berlin: Distanz, 2018.. + 1 Bild
Carius #68+, Bild: Berlin: Distanz, 2018..

Mit einem Essay von Bazon Brock

ÄSTHETISCHE REVOLTE UND KÜNSTLERISCHE SELBSTBEFRAGUNG

50 Jahre nach ’68: Blicke auf Denkwege, Aktionen und antizipatorische Projekte des Künstlers Karl-Eckhard Carius (geb. 1942 in Berlin, lebt und arbeitet in Vechta). Das Buch enthält bislang unveröffentlichte Texte, autobiografische Reflexionen, Fotografien, Installationen, Zeichnungen und literarische Notate. Es ist das künstlerische Dokument einer Zeit des Aufbruchs und der Rebellion. Darüber hinaus gibt die Publikation Einblicke in ein nicht aufgearbeitetes Kapitel der Geschichte der Hochschule für bildende Künste (heute Universität der Künste) Berlin mit ihren Protagonisten und Motiven. „Die Entführung des Akademieprofessors Bernhard Heiliger ins Paradies – Ein Attentat auf das Realitätsprinzip“ (1969) spiegelt die kritische Auseinandersetzung mit der damaligen tradierten und konventionellen Künstler(innen)-Ausbildung in Berlin wider. Diese und andere Aktionen, von denen das Buch erzählt, zeigen gleichermaßen das Scheitern einer Utopie und die Fähigkeit, radikal zu experimentieren. Bazon Brock bezeichnet den heutigen Designprofessor Carius als „einen der wenigen Überlebenden der damaligen Glücksradikalität“.

Erschienen
2017

Herausgeber
Schnell, Ralf

Verlag
Distanz-Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-95476-268-2

Umfang
256 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen

Einband
Hardcover

Seite 10 im Original

Auf dem Weg zur letzten Instanz

Zur Ausstellung Carius im Kunsthaus Dahlem

Nichts war den 68ern wie allen Politaktionisten so wichtig wie der Rückbezug auf die Basis der Bewegung, Basis / Stasis / letzter Grund, auf den sich der eigene Anspruch auf das prägende Weltbild zu gründen hat; sonst müsste alle Aktivität in der Bodenlosigkeit versinken, und was Bodenlosigkeit bedeutet, wissen Menschen seit den Vorzeiten ihrer Erkundung dessen, was in der Welt tragfähig ist und was nicht: Moor und Sumpf und See und hoher Schnee erzeugen bis heute Panikattacken aus Angst, hinabgezogen zu werden in die vielen Schlünde der unterweltlichen Höllen. Bis heute sind der Korruptionssumpf und die Gewaltlawine sprechende Erinnerung an die Gefahren der erzwungenen Vergewisserung von Stabilität in der Welt. Und in der Architektur ist ohne eine gute Statik alles Gebaute hinfällig wie ein Kartenhaus.

Selbst die radikalsten SDSler und Anarchisten („Macht kaputt, was euch kaputt macht!“) achteten in so gut wie jeder programmatischen Äußerung darauf, sich der Basis ihres Geltungsanspruchs zu versichern. Aber diese Rückversicherung trog selbst im Pariser Mai des Generalstreiks, weil die Führungsrollen eben nicht als Manifestation der Basis selbst entstanden waren und deswegen die behauptete Stellvertretung der Sprach- und Rechtlosen als bloße Machtanmaßung denunzierbar wurde.

Der Alt-Achtundsechziger K.-E. Carius baut nun die Basis für das Selbstbewusstsein der 68er-Generation als Deckplatten über dem Ungeheuren: ein Generationen- und Epochendenkmal. Schließlich waren die 68er die erfolgreichste Generation aller Zeiten, weil sie prophetisch ohne eigene Arbeitsleistung in den nachfolgenden Jahrzehnten geschichtlich verwirklicht sehen konnten, was sie erträumten: Schwächung der USA in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion, Aufstieg Chinas zur Führungskraft aller kommunistischen Parteien, Zerschlagung des imperialistischen Einflussreiches westlichen Demokratieverständnisses, Abrüstung des christlichen Pathos als Siegerreligion des Abendlands durch Stärkung des islamischen Gegenbildes der Organisation von Gesellschaft etc. Alle diese 68er Optimalvorstellungen von Weltveränderung haben sich ja erfüllt, raffinierter Weise bisher ohne jedes Opfer im eigenen luxurierenden Leben der einstigen Programmatiker.

Carius verbildlicht in seiner Installation, dass die vielbeschworene Basis aller Aktivisten aus Begriffen besteht, die als Grundlegungen für politische Intervention nur ideologische Geltung hatten. Mit den Begriffsfetischen fuchtelte man so heftig, dass man glauben konnte, den Mantel der Geschichte in Wallung zu bringen. Denn die Zeichen aller Bewegtheit im schnellen Lauf oder im Sturm des Fortschritts aus der Zukunft lesen wir als Spuren des Aktionismus. In diesem Falle also nicht „Urworte orphisch“, sondern „Urworte fundamentalistisch“. Wenn wir Goethes Unterscheidungsschema für die „Urworte orphisch“ auch für die „Urworte fundamentalistisch“ beibehalten wollen, so könnte man im Feld des DAIMON, der Seelenkraft, etwa die Kampfbegriffe Intellektuelle Revolte, Aktionismus, Bewusstseinserweiterung, Underground, Phantasie an die Macht verorten.

Dem Feld der ANANKE, der zeittypischen Nötigung zur Unterwerfung, könnte man Vietnamkrieg und Vietcong, Notstandsgesetze und Agent Orange/Napalm, Schlagstock, Klassenkampf und Medienmacht, Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann zuschreiben. EROS oder Liebe würden sinnvoll Antibabypille, sexuelle Befreiung, Kommune 1, Rainer Langhans und Love-ins, Sit-ins, Go-ins, Woodstock, LSD und Orgasmusschwierigkeiten repräsentieren. ELPIS, die Hoffnung, stützten „I have a dream“, Prager Frühling, konkrete Utopie, Weiberrat, Anarchie, Antiautoritarismus, Emanzipation der autoritären Persönlichkeit, Aufklärung und teuflisch scharfe kabarettistische Vernunft. „Wenn’s der Wahrheit dient, ...“ Schließlich sollte die TYCHE, die Macht des Zufalls, mit den Urworten Spontanität, Rote Garde, Happening, APO, SDS oder Weathermen, Che Guevara, Benno Ohnesorg, Jubelperser gekennzeichnet sein.

Fundamentalistisch verstanden, also in der Wortwörtlichkeit und nicht in der Ambivalenz und Ambiguität aller Zeichensetzung, führten sie zum Terror des für wahr Gehaltenen, egal, ob auf dem Felde der Offenbarungsreligionen, der konsumeristischen Wunschträume oder des Umbaus der Gesellschaftsarchitektur zum ewigen Paradies als Rückkehr ins Uranfängliche.

Vor solchem Fundamentalismus bewahren nur Kabarett und Karikatur, Spott, Ironie und Selbsterkenntnis. Die 68er Dynamik war bestimmt durch diesen Gegensatz von todernster Begriffsgläubigkeit und souveräner Verachtung der Dummheit in den Theatern der Straßen, der Hörsäle, der Galerien und schließlich der Buchhandlungen. K.-E. Carius betrieb 68 in diesem Geiste die Entzauberung pathetisch repräsentierter Genialität von Künstlern, Intellektuellen und ihresgleichen, indem er mit Kollegen das Happening der Entführung eines Großkünstlers inszenierte. Das Konzept enthielt die Reatitäts-Hypothese auf Reflexe und Folgen der Kunstaktion als simuliertes Vergehen. Vorweggenommen wurde auf diese fiktive Weise ein BILD-Zeitungstitel, den jener Entführungsakt hervorgerufen hätte, zumal die Zeitung sich selbst als Amtsblatt der fundamentalistischen Eindeutigkeit und nicht als Organ der Erkenntnis im Spiel der Geisteskräfte positioniert.

Es ist mehr als ein Treppenwitz der Geschichte, wenn jetzt ausgerechnet im großdeutschen Nationalatelier von Hitlers Lieblingskünstler Arno Breker, das der großfürstliche Kunsthochschulprofessor Heiliger nach dem Kriege bedenkenlos übernahm, sein Schüler Carius in Strukturanalogie von Boden und Decke, von Himmel und Hölle den Heldenfriedhof des Scheiterns installieren kann. Denn die einzelnen Bodenplatten mit den eingeschriebenen Urworten wirken wie Grabplatten auf Soldatenfriedhöfen. Und unter den Begriffen der Strand aus dem Sand, der durch die Zeitablaufsmessung rann. Wir sind Vergangene, wie ihr vergangen sein werdet, die ihr jetzt im Triumph eurer Lebenskraft euch für unsterblich haltet und das zu recht, denn psychisch gesund, also arbeits- und konsumfähig ist nur, wer die eigene Sterblichkeit niemals in Betracht zieht.

© Bazon Brock, Cronenberg 2018

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