Buch Max Bense. Weltprogrammierung

 Reihe: Abhandlungen zur Philosophie

Erschienen
01.01.2018

Herausgeber
Uhl, Elke | Zittel, Claus

Verlag
J. B. Metzler

Erscheinungsort
Stuttgart, Deutschland

ISBN
978-3-476-04701-4

Umfang
218 S.

Einband
Hardcover

Seite 201 im Original

Weltprogrammierung als Ultima ratio

Max Benses Konzept der Techno-Theologie als Kunstpraxis

Es hat sich bewährt, bei Festakten und Gedenkfeiern wie dieser zum 100. Geburtstag von Max Bense, den Zeitgeist oder die Autorität des Autors als letztbegründende Arche in Erscheinung treten zu lassen. Dabei tut sich ein Graben auf zwischen der Diesseitigkeit des Sprechens und der Jenseitigkeit des Hörens. Im Bense'schen humanistischen Sinne würden wir diesen Graben als Lethe interpretieren müssen, als den Strom des Vergessens. Würden wir alsdann die Technikgeschichtete festmachen an dem Gefährt, mit dem die Lethe zu bewältigen war, nämlich dem Nachen des Charon, wäre die Evolution der Technologie anhand der Vervollkommnung der Übersetzungsfahrzeuge aus dem Diesseits ins Jenseits, aus dem Hier ins Dort, aus dem Irgendwo ins Nirgendwo zu verstehen. Und Max Bense wäre der Fährmann. Er wüsste nämlich, dass er in seiner Rolle die beiden Positionen der Ontologie und der Technologie verbinden musste.

Max Bense und ich haben sehr lange Jahre in Hamburg Tür an Tür gelehrt. (1) Das war die berühmte Be-Bi-Phase, meine »Babyphase«, denn Be-Bi, Bense-Bill (2), und entsprechend Be-Bi-Brock war die Kennzeichnung aus der Konfrontation mit den beiden Großen in unserer Hochschule. Und Baby-Brock bemühte sich dann auch um die Aufmerksamkeit von Be und Bi, machte sich bemerkbar – unter anderem indem er Bense eine der bekanntesten Zen-Episoden erzählte. Die Episode weist auch einige Berührungspunkte zur obigen Lethe-Geschichte auf. Ein ungeduldiger Schüler beklagt sich bei seinem Lehrer: »Ich habe jetzt acht Jahre bei Ihnen zugebracht, doch bin ich noch nicht mal promoviert, geschweige denn habilitiert. Wann komme ich nun endlich zum Lohn der Arbeit? Was habe ich sonst davon, was habe ich denn überhaupt gelernt?« Da antwortet ihm der Meister: »Das kann ich Ihnen nicht sagen; Sie müssen wissen, was Sie gelernt haben.« Der Schüler, mit angedeuteter westlicher Arroganz, verabschiedet sich vom Meister als einem untauglichen Lehrer und zieht in die Fremde. Nah weiteren zehn Jahren kommt er zurück, um im Triumph seiner Überlegenheit dem einstigen Lehrer zu berichten, was er mittlerweile erreicht hat. Daran erinnernd, dass der Aschram an einem Fluss liegt, erzählt er stolz, dass er in der Fremde, im Westen, gelernt habe, wie man – und zwar im Zentrum einer christlich-theologischen Begründung unseres Weltverhältnisses – übers Wasser gehen könne. Der Meister reagiert nicht auf diese sensationelle Mitteilung. Der Schüler, unangenehm berührt vom Desinteresse seines Meisters, insistiert: »Aber bitte, ist das nicht wirklich die Erfolgsgeschichte für einen Lernenden? Darauf sagt der Meister: »Hören Sie mal – mit Füßen übers Wasser gehen, das macht man bei uns mit Booten, Sie Idiot« und verabschiedete sich.

Diese Erzählung kann uns helfen, den Zusammenhang zu verdeutlichen, in dem der Fährmann Bense zwischen den beiden Seiten des Stromes des Vergessens navigierte, ob er die Technologie als die Sicherung aller auf der Seite der Lebenden geäußerten Hoffnungen auf die Zukunft oder auf das Bleibende oder auf Erfüllung verstehen wollte. Der Zusammenhang von Ontologie und Technologie, also klassischen alten philosophischen Disziplinen und den naturwissenschaftlich orientierten angewandten Wissenschaften, war genau in dieser Übersetzung gewonnen. Man kann diese Übersetzung oder Vermittlung auch als einen merkwürdigen, historischen Prozess bezeichnen, der zeigt, dass die Technologien eigentlich angewandte Theologien sind. Im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit dieser Technologien wird das gerade am Beispiel der Überfahrung der Lethe deutlich. Entscheidend sind dabei die Fragen: Wer steht auf welcher Seite? Liegt der Wahrheitsanspruch in der Gegenwart, und Bense und seine Zeitgenossen sind entschwunden in den Irrtum der Vergangenheiten? Oder ist es doch umgekehrt, und es ist vielmehr die Seite der Generation Benses, von der aus sich die aletheia, die Überbrückung des Vergessens als Wahrheitsanspruch deutlich macht? Ist es also auf der Seite der Toteninsel, des Totenreiches – in dessen Erinnerung wir heute ja Benses gedenken – wo sich das Jenseits des Vergessens als Wahrheit offenbart?

1. Der Transfer über die Lethe oder: Zusammenhang von Ontologie und Technologie

Der Transfer ist etwa folgendermaßen verstehbar: Auf der Seite der Lebenden geht größte Triebkraft aus von dem humanistischen Gedanken »Es möge bleiben«, d. h. es möge der Gegenstand der alten philosophischen und theologischen Erörterung, das Sein oder Gott, tatsächliche Wirkmacht sein (wobei auf christlicher Seite die Hoffnung auf Auferstehung im Vordergrund steht). Es war das Verdienst des Fährmann Bense zu zeigen, dass die Technologie mit der repeat-Taste an den Aufzeichnungsgeräten akustischer, audiovisueller oder kombinierter Art tatsächlich das Äquivalent für eben diese Vorstellungen lieferte. Denn wenn ich die vor über 20 Jahren verstorbene Marlene Dietrich mit der repeat-Taste auf der Leinwand, auf dem Bildschirm, auf dem Display auferstehen lasse, ist das die einzige konkret gegebene Beschreibung dessen, was mit der Hoffnung, der ontologisch-theologischen Hoffnung auf das Bleibende je gedacht worden ist.

Bereits Nietzsche hatte die Verbindung geschaffen zwischen to on, dem Seienden verstanden als Ewiges, und dem Ziel der ontologisch-theologischen Reflexion, es möge Bleibendes geben und nicht vielmehr nur Vergessen, indem er die Wiederkehr des Gleichen postulierte, also die Vermittlung zwischen den beiden Seiten in der Wiederkehr als dem Motiv des Bleibens. Bei Goethe findet dieser Gedanke Niederschlag in der Formulierung, die einzige Form von to on als das Seiende gebe es im Wechsel, das einzig Bleibende sei der Wechsel. Ausgehend also von den technologischen »Auferstehungsmaschinen« lässt sich sodann der Gedanke entwickeln, dass das Werkzeug die entscheidende Differenz zwischen der homonistischen Seite des Menschen darstellt. Dabei geht es primär um die Frage, welche Voraussetzungen wir von unserer Natur her, also als homo, erfüllen, Lebende zu sein, um dann zu begründen, worin der Anspruch der Humanisierung liegt. Jedes Programm, von den Gehlenschen anthropologischen Grundkonzeptionen in der Königsberger Gemeinschaft bis zur heutigen sogenannten »Hirnforschung«, verfolgt im Grunde nichts anderes als diesen Gedanken: »Vor jeder Humanisierung muss die Homonisierung stehen«, d.h. wir müssen es aus der Genetik, der Evolutionstheorie, der Neurophysiologie her wissen: Was ist der Bestand dessen, mit dem wir rechnen können? Ganz im Geiste der Bennschen Formel: »Mache keinen Budenzauber, rechne mit deinen Beständen und dann kannst du loslegen.« (3)

Die Orientierung auf die Beziehung zwischen Ontologie/Theologie und Technik im Zusammenhang mit Bense war schon zu Benses Lebzeiten verbreitet. Es gab zum Beispiel einen berühmten Spruch, der folgendermaßen lautete: »Sieh an, der Mann da mit der Sense, ist das nicht ganz Professor Bense?« Oder auch eine berühmte Parodie auf das Rasiermesser Ockhams, in der Bense statt mit der Hippe des Todes mit dem Rasiermesser Ockhams ausgestattet wurde, einem großen Papprasiermesser, das ein junger Gestalter, Achim Lipp, für ihn geschaffen hatte: eine Art Stab des Äskulap in Gestalt des Rasiermessers mit all den metaphorischen Konnotationen, die damit verknüpft sind, wie z. B. der Ausdruck »jemanden balbieren«. Wo diese Verbindung von Ontologie/Theologie und Technik wurzelt, die wir so prominent bei Bense finden, mag eine weitere Begebenheit veranschaulichen: 1972 richtete ich mit Max Bense die Kölner Konferenz für Kunsttheorie aus – mit Herbert Marcuse, Niklas Luhmann, Heinrich Klotz, Martin Warnke und weiteren Teilnehmern, der gesamten damals noch völlig unbekannten Gruppierung derer, die heute zählen – oder vielleicht auch bereits im Übergang über die Lethe darauf zählen, dass sie der Fährmann Bense, dass sie die Technologie gut übersetzt und von ihnen möglichst viele CDs, möglichst viel Filmmaterial überliefert wird, das mit der repeat-Taste die Auferstehung garantiert. Auf besagter Konferenz waren die Teilnehmer, auch Bense selbst, ganz bewusst miteinander konfrontiert. Während seines Vortrags stand Bense am Katheder und ich hinter ihm an der Tafel – er trug vor und ich antizipierte zeichnend, schreibend an der Tafel, was er sagen würde. Das Publikum lachte, weil er sozusagen mir nachredete, und er drehte sich um und fragte: »Nanu, was ist denn das, woher wissen Sie denn, was ich sagen will?« Ich habe geantwortet: »Das ist sehr einfach herauszufinden: Ich schreibe nur auf, wie die Theologen und Philosophen die Sache behandelt haben und Sie machen dasselbe jetzt in Ihrer Vorgabe als Techniker und Mathematiker und Physiker. Da das genau parallel läuft, weiß ich ganz genau, worauf es bei Ihnen hinausläuft und wie die Argumentation aussieht.«

2. Weiße Mystik

Diese Grundeinsicht bekommen wir in gewisser Weise von vielen Positionen des 20. Jahrhunderts vorgeführt: die theologisch-philosophische, spezifisch ontologische Vorgabe steht mit der technologischen nicht im Widerspruch – es wird vielmehr das eine durch das andere begründet und zwar wechselseitig. Das heiß, auch die Wirkursachen, mit denen die Technologie arbeitet, begründen in gewisser Weise rückwärts bereits die grundsätzliche Möglichkeit, überhaupt zu philosophieren. Das entsprechende Motiv heißt weiße Mystik, ein Motiv, das in dieser Gestalt von Robert Musil, der ja seinerseits Ingenieur war, ausgearbeitet worden ist und sich auf eine Vorgabe von Friedrich Nietzsche bezieht, der sich als erster programmatisch der banalen Konfrontation von Philosophie und Technologie, von Tradition und Moderne entgegensetzte. Bei Nietzsche begegnen wir dem Motiv allerdings mit einer Verkehrung, die Bände spricht. Er hatte nämlich geschrieben, dass die Welt »tiefer« sei: »O Mensch! Gib acht! // Was spricht die tiefe Mitternacht? // Ich schlief, ich schlief // aus tiefem Traum bin ich erwacht: - // Die Welt ist tief // Und tiefer als der Tag gedacht. [...]« (4) Die letzte Zeile müsste eigentlich lauten »tiefer als der Traum gedacht«, Tag heißt Rationalität, Traum heißt realistische Fantasien, Tiefenlotungen, etc. Die Aussage, etwas sei tiefer als die Vernunft, ist nicht sinnvoll, da ja das Unterbewusstsein, wie Freud zeigt, denselben Regeln der Vernünftigkeit folgt wie das Bewusstsein. Und deshalb kann man sinnvoll nur von einem »Tiefer des Traums« sprechen und nicht von einem »Tiefer der Vernunft«. Die Welt ist nämlich tiefer, als alle Poeten, alle Romantiker, alle Philosophen, alle mystischen Schwärmer je gedacht haben. Und der höchste Anspruch auf Tiefgang (man bemerke, dass es sich hierbei um eine topologische Kennung handelt) kommt eben der Rationalität des Tages zu, also der lichthellen Rationalität, nicht der verschwommenen, verdunkelten, nicht der zauberhaften, sondern derjenigen, die auf Konstruktivität, auf das Zusehen-Können beim Entstehen ausgerichtet ist, nicht auf den verschwiemelten Hokuspokus mit Blendwerk und optischen Täuschungen. Den höchsten Anspruch auf Tiefgang hat eine Rationalität, die vor Publikum demonstriert wird, offen in die Kamera hinein, mit vollkommener Erklärung dessen, was da ganz vernünftig abläuft, ohne dass man jedoch individuell den Eindruck vermeiden könnte, es handle sich um eine Zauberei. Das war, bildlich gesprochen, Benses Trick: Dort, wo man den Jahrmarktszauberern wegen ihres schwarzen Tuchs und ihres Herumhantierens im Schattenreich vorwarf, sie würden Hokuspokus betreiben, zog er quasi das Tuch weg, ließ die Blumenpötte sausen und die Masken fallen und sagte: »Wo ist der Unterschied? Ich zeige euch jetzt das, was ich da mache und ihr werdet trotzdem den Eindruck haben, dass es Zauberei sei und mit übernatürlichen Kräften zu tun habe. Woher weiß ich das? Ihr redet ständig vom ›Wunderwerk der Technik‹«.

Dieses Wunderwerk der Technik ist genau das, was als Thema innerhalb der von Bense weitergeführten »weißen Mystik« vorgeben ist, die taghelle Rationalität, die uns das Wundern in einer bestimmten Weise abverlangt: als eine Grundhaltung, die man auch »Essayistik als Lebensform« nannte, da sie einem permanenten Versuch gleichkommt, die beiden Seiten am Strom der Lethe miteinander zu verbinden – mit Hilfe des Fährverkehrs aus dem Diesseits ins Jenseits und zurück und mit den entsprechenden Steuermännern. Steuermann heißt auf griechisch kybernétes, die Technik, die er verwendet heißt Kybernetik, und welche Bedeutung dieser Begrifflichkeit in ihrer metaphorischen Bedeutung zukommt, mag das Folgende illustrieren: Als der Physiker und Nobelpreisträger Arthur Compton im Dezember 1942 nach der ersten kontrollierten nuklearen Kettenreaktion sein berühmtes Telegramm in die Welt hinaus schleuderte, wählte er die Formulierung »The Italien navigator has entered the new world« (5), zu deutsch: der italienische Steuermann hat die neue Welt betreten. Nachdem sich viele vergeblich bemüht hatten, diese Aussage zu entschlüsseln, habe ich herausgefunden, dass er Palinurus meinte, den kybernétes des Aeneas und seiner Gefährten, der als Flüchtling aus Troja an der heute »Kap Palinuro« genannten Felsennase landete und damit den Grundstein für die Entstehung Roms setzte. Rom verdankt sich der Künste des Steuermannes Palinurus, mit dem sich Fermi gleichsetzte.


3. Medien der Weltprogrammierung und die Rolle des kybernétes

Aufbereitet wurde diese »neue Welt« des Aeneas von den Etruskern, indem sie sich die Römer, einen Stamm von weither von den Bergen, zum Medium der »Weltprogrammierung« heranbildeten. Die Etrusker setzten Rom systematisch mit der maniera etrusca, mit der Staatsreligion, auf die Schienen – man könnte von einer Weltprogrammierung im Medium der Gesellschaft sprechen – und stellten dann die ersten Könige für die Römer. An dieser Stelle ist es wichtig, festzustellen, dass das Medium der Gesellschaft nicht das einzige noch das erste Medium der Weltprogrammierung ist: Der Gesellschaft, der Sozialität geht die Mediatisierung kommunikativen Handelns voraus, die ja anthropologisch gesehen mit dem Lächeln als Zähmung der Muskulaturgruppen, die sonst Aggressivität nach außen signalisieren, entsteht. Die Umwandlung des Aggressionspotentials im mimischen Ausdruck in das Lächeln durch die Kontrolle von 72 verschiedenen Einheiten, die miteinander kooperieren müssen, um einen entsprechenden mimischen Ausdruck zu entwickeln, das ist der Vorgang, um den es bei der Programmierung der Welt und Menschenprogrammierung geht. Hier zeigt sich die Mimesis als Grundlagenprinzip. Nachahmung, Nachbauen, Rekonstruieren, Analogverfahren, das alles sind Vorgaben, die aus der Technikphilosophie entwickelt wurden. Bense hat sie ganz bewusst eingesetzt.

Vor diesem Hintergrund wird die besondere Rolle Benses einsichtig: Er verstand meine Erkenntnis, was mit der Rede vom »Italian Navigator« bei Arthur Compton gemeint war: Der kybernétes ist angekommen, damit beginnt ein neues Zeitalter, und daher hat die neue Form des Steuerungswissens den Namen des kybernétes. Ihr Held ist Palinurus. Und Bense, in Hinsicht auf die Entwicklung ihrer Wirkung, deren Zeugen seine Zeitgenossen wurden, war eben Pali-Bense, Palinurus Bense.

4. Das Primat des Handelns in Kunst und Wissenschaft, oder: Pessimismus als Bedingung für Optimismus

Die oben dargestellte Vermittlung der beiden Seiten der Lethe kennen wir herkömmlich als diejenige zwischen der Natur oder Schöpfung, soweit es eine theologische oder ontologisch-philosophische Begründung gibt, einerseits und der Kultur im damaligen Sinne (das hat sich heute verändert), der Arbeit andererseits. Wir kennen sie aber auch zwischen Erkennen und Handeln. Es war eine der großen Leistungen Benses, die weit verbreitete Ansicht, das Erkennen gehe einseitig dem Handeln voraus, in Frage zu stellen und umzukehren. Als Bense beispielsweise gefragt wurde »Sagen Sie mal, Bense, warum sind Sie so besonders an informeller Skulptur der Düsseldorfer Schule oder den informellen Malereien interessiert?«, antwortete er mit einer von den meisten nicht verstandenen Gegenfrage: »Dürfen wir raten?« Das war ein Treffer ins Schwarze. Bense hatte als erster die Einsicht, dass Crick und Watson 1953 das Modell der Doppelhelix mit den Händen durch Formieren zustande brachten, d. h. durch Informieren von Stahlgestänge, Draht und Pappe, und zwar analog zu den Künstlern von Naum Gabo bis Norbert Kricke. Diese Tatsache zu begreifen heißt, das Bilden mit der Hand – bedingt durch die Koevolution von Hand und Hirn in der Evolution – als ein Erkennen aufzufassen. Das bedeutet, das Primat des Erkennens vor dem Handeln aufzuheben und anzuerkennen, dass umgekehrt das Handeln, z. B. als künstlerisches Gestalten, eine der mächtigsten Formen des Erkennens ist – Max Bense fasste auch das Handeln der Experimentatoren in den Naturwissenschaften als ein solches Handeln zum Erkennen auf – und dass es plötzlich eine völlig neue Bedeutung des handwerklichen Tuns, des Handwerks im Sinne des bildenden Tuns gibt.

Ich würde heute sagen, dass wir Bense als einen Stammvater der bildenden Wissenschaften anerkennen müssen. Bildende Wissenschaft, nicht mehr bildende Künste und erkennende Wissenschaften, sondern bildende Wissenschaften. Dieser Aufweis des Zusammenhangs von Handeln als Bilden und Erkennen oder des Erkennens durch das bildende Handeln, wie es etwa die informelle Skulptur praktiziert, war ein großer Fortschritt. Warum? Weil er klar machte, dass ein Kricke oder ein informeller Maler in der Zeit der 50er Jahre seine Kunst keineswegs gestaltete, indem er ein Konzept realisiert, das er zuvor im Kopf entwickelt und dann analog bildlich realisiert hätte, sondern dass vielmehr das Handeln selber der Weg zur Entfaltung eines solchen Konzeptes war. Darüber hinaus wurde damit auch eine historische Begründung von wissenschaftlich-künstlerischer Einheit des Arbeitens möglich, sodass die christliche theologische Position der Kreuzigung als Erledigung der Todesproblematik, d. h. die apokalyptische Logik als Begründung von Anfangsoptimismus, von Kraft des Beginnens, wie Johannes sie beschreibt, erkannt werden konnte. Anfangen kann mit Grund nur der, der das Ende vorweggenommen hat. Man muss also apokalyptisch den Vorschein des Endes entfalten, ganz im Sinne des handwerklichen Tuns, um zu wissen, worauf es hinauslaufen soll, wenn man die Kraft des Beginnens erstrebt. Kurz gesagt: Nur der radikale Pessimist kann begründeter Optimist sein, alles andere ist Hokuspokus. Nur radikalste Kritik, nur radikalste pessimistischste Orientierung auf die unbestreitbaren Tatsachen ermöglicht den Neuanfang. Diese Orientierung prägte auch das etruskische Denken: 1000 Jahre und dann ist es vorbei, Lächeln im Einverständnis mit dem eigenen Ende. Dies war ein wesentliches Merkmal der etruskischen Weltprogrammierung im Medium der römischen Gesellschaft: dass man apokalyptisch denken muss, um die Kraft des Handelns zu haben. Luther hat das später mit den Worten »Und würde morgen die Welt untergehen, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen« (6), populär gemacht. Augustinus hat es formuliert in der Vorgabe »Initium ut esset, creatus est homo« (De civitate, XII.20) – es möge das Prinzip des Anfangens geben, und damit der Anfang sei, ist die Welt, ist die Menschheit geschaffen worden, die die blindwütige Logik der Evolution durchbrechen kann, indem sie ein Ende postuliert, worauf ein jeweils radikaler neuer Anfang beginnen kann.

5. Die Vermittlung von Ontologie/Theologie und Technologie bzw. Pessimismus und Optimismus in der modernen Kunst

Auch in moderner und avantgardistischer Kunst lässt sich auf der Grundlage dieser Bense'schen Folgerungen, dass das Handeln der Erkenntnis vorausgeht und erst der radikale Pessimismus einen Neubeginn ermöglicht, oft die eigentliche Dimension eines Kunstwerks überhaupt erst erfassen. Ein Paradebeispiel für diese Übertragungsvorgaben ist die Kreuzigung des Frosches, von Herbert Achternbusch und von Martin Kippenberger fabelhaft dargestellt. Warum? Weil der berühmte belgische Maler James Ensor mit seiner Selbstkreuzigungsdarstellung gewissermaßen zum Begründer der Bewegung gegen die Vivisektion wurde, deren Logo die Form des gekreuzigten Frosches annahm, in dem Wissen, dass alles, was die Menschheit auf der Ebene wissenschaftlicher Rationalität im Sinne von Klarheit des Selbstwissens über sich weiß, in neurophysiologischer Hinsicht aus der Kreuzigung der Frösche kam. Im ganzen 19. Jahrhundert haben Studenten, in mehr oder weniger allen Disziplinen, insbesondere in der medizinischen, Frösche gekreuzigt, aufgeschnitten und durch die Isolation der einzelnen Nervenbahnen die Reflexe studiert, etc. Diese Überblendung von der Kreuzigung Christi und der Kreuzigung des Frosches zeigt ein weiteres Mal die Vermittlung der theologisch-ontologischen und der technologischen Sphäre. Die theologische, ontologische und die technologische Dimension sind in der Begründung des apokalyptischen Weltuntergangs, des Todes und in der Begründung des Optimismus' aus derselben Kreuzigungsszene gleichzeitig präsent: Beides ist die Begründung einer Hoffnung auf die Auferstehung bzw. auf die Weltprogrammierung hin.

6. Kybernetik in Marxismus und Evolutionsbiologie

An sich war der Marxist in Bense durchaus eine ernstzunehmende Figur, nur kam es auf die Programme an, in denen man operierte. Das Marxistische an Benses Vorgehen war die Absicht, tatsächlich mit der Übertragung und Überblendung der Sphären Ernst zu machen, die Marx bereits festgestellt hatte: Marx sprach z. B. von »metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken« (7) der Ware, und ähnlich sprach er auch über das Geld, den Markt oder das Kapital. Damit hatte Marx bereits eine gewisse Beziehung der theologisch-ontologischen und der technologischen Sphäre vorweggenommen – Bense ist es mit seiner Kybernetik gelungen, diese Übertragung und Vermittlung tatsächlich zu akzeptieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber auch die Theo-Ontologie bei Carl Schmitt oder bei Heidegger erwähnt; es handelt sich dabei jedoch um einen Sonderfall, der uns nicht länger aufhalten soll. Belassen wir es also bei der Theologie und der Technologie oder der Ontologie und der Technologie und eben dieser axialen Spiegelung, die man Reflexion nennt. Für deren Gelingen war die Vermittlung über die Symbole als Zeichen entscheidend. Die Sensation der Shannonschen, Weaverschen Arbeiten der 40er Jahre bestand darin, plötzlich das Medium, das Zeichensymbol als Medium der Vermittlung über den Strom des Vergessens, das technische Gefährt der Vermittlung der beiden Sphären, der Pragmatik und der Semantik, näher bestimmen und eine entsprechende grundlegende Wissenschaft begründen zu können. Dies ist vielleicht die größte Leistung Benses und seiner Generationsgenossen.

Allerdings war Bense in seiner Zeit der einzige damit befasste Forscher im Bundesgebiet: zu sehen, dass sich tatsächlich aus der Vermittlung von Informationstheorie und den durchgesetzten Erkenntnissen der Evolutionstheorie die Kybernetik entwickelt. Das hieß, die beiden Seiten, die informationstheoretische und die evolutionsgeschichtliche, in der Absicht der Steuerung zu vermitteln. Nach beiden Seiten hin ist die Begründung für die wechselseitige Überblendung der beiden Sphären zu sehen, der theologischen und der technologischen (in Darwins Generationsgenossenschaft war die Mehrzahl der Wissenschaftler, die wie er als Geologen, als Thermodynamiker etc. arbeiteten, Theologen, wie Darwin selbst auch, der ja bekanntlich Pfarrer werden sollte und Theologie studierte). Es ist deswegen gerade nicht das große Programm dieser kybernetischen Orientierung, wie zeitweise in den Humanwissenschaften behauptet wurde, den zwei Welten – der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft – eine dritte Welt oder einen dritten Weg an die Seite zu stellen. Das Bestreben geht im Gegenteil immer auf die Einheit, und diese ist sowohl technologisch wie theologisch in der Letztbegründung, in der ultima ratio tatsächlich vorgesehen – ultima ratio verstanden im Sinne der griechischen arché. Diese gelang in einer notwendigen Vereinheitlichung von informationstheoretischer Orientierung und den Zwangsläufigkeiten, die sich aus den Erkenntnissen der Evolutionstheologen ergaben. Man könnte also sagen: Die Frage nach der Teleologie und der Nomologie, nach dem Zusammenhang von nomos und logos ist beantwortet, denn es gibt keinen Gegensatz, wenn wir den logos, als die Sphäre der Sinnhaftigkeit, und den nomos, als die Sphäre der Gesetzmäßigkeit, vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie betrachten. Die Evolution ist das Prozedieren der Naturgesetzlichkeiten, darin liegt der Sinn der Evolution, mithin die Einheit von logos und nomos. Darin gründet eine wichtige Erkenntnis: Im Bereich der Computertechnik ist das Prozedieren von Programmen (man vergleiche die Computergrafik als Paradebeispiel), ihre Entfaltung und Entwicklung der Sinn des Vorgangs selbst.

7. Ausblick: Akademie der empathischen Wechselseitigkeit

Ich habe die Vision, dass die Vorbehalte abbaubar sind, die sich gegen eine solche Position richten, wie sie Bense von der mathematisch-physikalisch-naturwissenschaftlichen Seite her entwickelt hat und wie einige Kollegen und ich sie von der ästhetischen Seite tatsächlich zu Konsequenzen führen werden. Unsere akademische Gemeinschaft oder unsere – wie kann man sagen – »Interessengemeinschaft« hat es sich zur Aufgabe gemacht, an dieser Position festzuhalten und sie zur Bewältigung oder zumindest zum Aushalten von unlösbar scheinenden Problemen einzusetzen, auf die ich abschließend noch kurz eingehe. Es hat nämlich eine bemerkenswerte Entwicklung stattgefunden: Heute gibt es beliebig viele Produzenten von Zeichenfigurationen, also beispielsweise Büchern, aber keine Leser mehr; heute gibt es beliebige Möglichkeiten, rein durch die Entfaltung der Logik der Algorithmen Wahrnehmungsanlässe in Gestalt von Computergrafiken zu schaffen, aber es gibt niemanden mehr, der diese wahrnehmen will oder kann. Als adäquate Reaktion auf diese Entwicklung müsste sich die Ausbildung komplett verschieben: von der Produzentenlogik – »rausschmeißen«, produzieren, in die Welt bringen – zu der Bewältigungsstrategie durch die Rezeption. Max Bense bestand von Anfang an darauf, dass der Produktionsprozess ohne die Rezipienten und vor allem durch die Kritik, die sie leisten konnten, völlig ins Leere läuft. Wenn ein Schreiber keinen Leser adressieren kann, läuft sein Schreiben in die Leere, die andere Seite bleibt unbestimmt.

Vor diesem Hintergrund müssen die akademischen Gemeinschaften sich danach ausrichten, endlich diejenigen hervorzubringen, die das, was sich naturwüchsig oder maschinell oder vielleicht sogar aus der Equilibristik der Hirnakrobatik ergibt, tatsächlich sinnvoll angehen können, das heißt als Problem akzeptieren und als Problem fruchtbar werden lassen können. Deswegen haben wir eine »Akademie der empathischen Wechselseitigkeit« ins Leben gerufen, an die man nur zugelassen wird, wenn man bekundet: »Ich lese, was du schreibst, ich höre, was du komponierst, ich sehe, was du malst«. Jeder, der Benses Arbeit nicht nur gedenken will, sondern sie fruchtbar werden lassen möchte, ist eingeladen und aufgefordert, der Akademie beizutreten. Jedes Schreiben, jedes Komponieren und jedes Malen wird erst legitimiert durch die Fähigkeit, mich als Rezipienten der anderen auszuweisen, sodass wir sagen können: Heute ist jede Kunsthochschule, die Künstler als Techniker des Malens ausbildet, völlig verkehrt, völlig sinnlos. Künstler sind diejenigen, die mit Professionalität Bilder betrachten können, und sie malen im Hinblick auf das, was gemalt ist und im Hinblick auf die Möglichkeiten, mit dem Gemalten umgehen zu können. Und nicht, um gottanmaßend Schöpfungsmythen ex nihilo in die Welt zu setzen und die Öffentlichkeit »zuzukleckern« mit Weltbeständen, an die unendliche Steuereinnahmen verschwendet werden müssen (auch zu deren Entsorgung!).

Dies ist leider die aktuell vorherrschende Praxis im Kunstbetrieb: Kreativität beschränkt sich auf die Vermüllung unserer Gesellschaft. Auch angesichts dieser Entwicklung müssen wir Bense als einen der großen Propheten ansehen, ganz im alttestamentarischen Sinne, weil der Professor ja nichts anderes als der säkulare Prophet ist, was sich schon aus dem Begriff ergibt: proficere. Und was wäre nicht damit erreicht, wenn 150 Leute in der Republik erklärten: »Wir lesen nächste Woche von Montag bis Samstag Bense!« Es wäre eine Revolution des kulturellen und wissenschaftlichen Selbstbewusstseins. Damit wäre wirklich ein Progress entwickelt im Sinne der technischen Überbrückungsmedien gegen den Strom des Vergessens und gegen die Macht und Dynamik der Zerstörung. Also: ein Schluck kalten nüchternen Wassers auf die triumphale weiße Mystik der Rationalität.

(1) Vgl. meine Würdigung Benses: »Zum Tod von Max Bense. Ungehorsam der Ideen« (1990). In: Bazon Brock: Kritik der kabarettistischen Vernunft. Ein autobiografisches Scherbengerücht, Bd. 1. Berlin 2016, 70.

(2) Max Bill, 1908-1994, Architekt, bildender und angewandter Künstler (Bildhauerei, Grafik, industrielle Formgestaltung, Malerei und Typografie), Hochschullehrer und Nationalrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Zwischen 1967 und 1974 war Bill Professor für Umweltgestaltung an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, wo Brock 1965-1976 als ordentlicher Professor berufen war.

(3) Abgewandeltes Zitat aus dem Ptolemäer (1949): »Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.« Vgl. Gottfried Benn: Der Ptolemäer. Berliner Novelle (1949). In: Ders.: Der Ptolemäer. Hg. v. Gerhard Schuster. Stuttgart 1988, 120.

(4) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra III, »Das andere Tanzlied 3«. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 4: Also sprach Zarathustra I-IV. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1999, 285 f.

(5) Mit dem »Italian Navigator« war der italienische Kernphysiker Enrico Fermi (1901-1954) gemeint, der den ersten funktionsfähigen Kernreaktor konstruierte und mit diesem 1942 erstmals eine Kernreaktion durchführte. Vgl. Tony Hev/Patrick Walters: The new Quantum Universe. Cambridge 2003, 110.

(6) Die Zuschreibung an Luther ist stark umstritten. Eventuell auf eine ältere Stelle bei Jochanan ben Sakkai zurückgehend, taucht die Phrase offenbar erstmals in den 40er- oder 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Texten auf, auch wenn ein längerer mündlicher Gebrauch wahrscheinlich ist. Vgl. Ernst Bammel: »Das Wort vom Apfelbäumchen«. In: Ders.: Kleine Schriften 1. Tübingen 1986, 140-147.

(7) Karl Marx: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (= MEW), Bd. 23. Berlin 1962, 85.

Literatur
Bammel, Ernst: »Das Wort vom Apfelbäumchen«. In: Ders.: Judaica. Kleine Schriften 1. Tübingen 1986, 140-147.

Benn, Gottfried: Der Ptolemäer. Berliner Novelle (1949). In: Ders.: Der Ptolemäer. Hg. v. Gerhard Schuster. Stuttgart 1988.

Brock, Bazon: »Zum Tod von Max Bense. Ungehorsam der Ideen« (1990). In: Ders.: Kritik der kabarettistischen Vernunft. Ein autobiografisches Scherbengerücht. Bd.l. Berlin 2016, 70.

Hey, Tony/Walters, Patrick: The new Quantum Universe. Cambridge 2003.

Marx, Karl: »Thesen über Feuerbach«. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (= MEW, Bd.3. Berlin 1958, 533-535.

Marx, Karl: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (= MEW), Bd. 23. Berlin 1962.

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, Bd.4: Also sprach Zarathustra I-IV. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1999, 191-291.

siehe auch: