Zeitung Die Welt

Die Welt, Bild: 18.09.2018.
Die Welt, Bild: 18.09.2018.

Erschienen
18.09.2018

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Seite 21 im Original

Volksbühne – Was der Hambacher Forst mit Shakespeares „Macbeth“ zu tun hat

Eine Geschichtslektion

Die Macht der Geschichte besteht darin, stets alle Herrschaftspläne und Allmachtsfantasien zu verwirklichen – und sie damit zu vernichten. Die weitsichtigen und deshalb Hexen genannten Frauen, heute Greenpeace-Aktivistinnen, prophezeien bei Shakespeare dem machtgeilen, angemaßten Möchtegernherrscher Macbeth, dass er untergehen werde, wenn sich der Wald von Birnam in Bewegung setze.

Nun ist es für RWE so weit: Der Hambacher Forst wird lebendig durch die Vertreibung der wahren Kronen der Schöpfung aus seinen Wipfeln. RWE wird enden wie Macbeth, dabei aber weit mehr als sich selbst zerstören.

Gesellschaften, die den offensichtlichen Wahnsinn nicht nur zulassen, sondern fördern, vernichten mit Hunderten anderer Irrsinnigkeiten der gleichen Sprengkraft jedes Vertrauen in die Vernunft der Parlamente, Regierungen und der Justiz. Es ist Irrsinn, gleichzeitig die Gewinnung von Braunkohle zu erlauben und deren Verbrennung radikal einschränken zu wollen, weil zu müssen. Das Geschehen im Hambacher Forst ist die bisher angemessenste Inszenierung des „Macbeth“, die jedes feuilletongepriesene Regietheater weit übertrifft. Peymann, Castorf, in den Wald!

Wie kindisch naiv unsere Regiegrößen glaubten und leider weiter glauben, mit ein bisschen Bühnenhopsasa Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen zu nehmen! Höhepunkt dieses Getues war 1977 der Aufruf von Claus Peymann, für die zahnärztliche Versorgung der RAF-Häftlinge in Stammheim zu spenden. Dabei hätte der Herr Intendant mit einem Verzicht auf die Hälfte seines Jahreseinkommens nicht nur den sieben Häftlingen, sondern darüber hinaus allen bedürftigen Bühnenarbeitern, Schauspielern und Dramatikern seines Hauses zu Goldmündern verhelfen können.

Ohnehin ist märchenhaft, wie Künstler glauben können, Seismografen des Kommenden und Aufklärer des Gewesenen zu sein. Wahrscheinlich haben sie missverstanden, was einst den Tätertypen wie Augustus von ihren Küchenliteraten gesagt wurde: Selbst Heldentaten werden erst geschichtlich, wenn Dichter sie in Literatur verwandeln.

Erst der rühmende Gesang feierte den Helden als historische Größe und damit als Figur der Geschichte. Durch die Dichter wurde das Vergangene zu dem, was nicht vergeht, denn wenn es verginge, wenn es niemand mehr erzählte, besänge, dramatisierte, in Bild und Monument vergegenwärtigte, hätten wir ja keine Vergangenheit.

Deshalb sind zum Beispiel Shakespeare-Dramen immer noch aktuell, weil sie das vor Augen stellen, was als Grundform des gesellschaftlichen Daseins gilt. Wir haben uns eingebildet, Geschichte als Erzählung über die großen Veränderungen aufzufassen, als Fortschritt unter dem Druck des Neuen. Umgekehrt erst entsteht Geschichte: wenn man in allen Veränderungen darstellt, was gleich bleibt.

Gleich bleibt zum Beispiel das Verhältnis von Handeln und Unterlassen. Die anmaßliche Geschichtsklitterung orientiert sich nur an dem, was geschah. Wahrhafte Geschichte stellt das als wirksam heraus, was unterlassen wurde, und geschichtlich gesehen ist das Unterlassen die bedeutendste Form des Handelns. Es ist ja nicht ein passives Nichtstun, sondern eben ein Nicht-Tun.

Genau diese Aspekte des Geschichtlichen den Zeitgenossen vor Augen zu halten, ist Aufgabe der Bühnenkunst wie aller Kunst. Anders als Beckett für die Bühne, Duchamp für die bildende Kunst, Cage für die Musik, Benn für die Dichter und ihre wenigen Assoziierten haben sich unsere Regietheatergrößen kaum je mit diesem Verständnis der Geschichte beschäftigt.

Es wäre eine intellektuelle und ästhetische Wonne, wenn Peymann und Co. es als ihre größte Erkenntnisleistung unterlassen würden, zu glauben, dass ihre Fähigkeiten die der amtlichen und alternativen Experten für den Bau der Gesellschaften übertreffen.

Offenbar sehen sie sich in der Nachfolge der großen Propheten des Neuen und der kapitalistischen Verpflichtung auf das Neue. Aber die Funktion des Neuen ist gerade das Gegenteil dessen, was unsere Freihandinterventionisten glauben.

Wenn etwas tatsächlich neu ist, hat es gar keine Bestimmung. Man kann es nur leugnen oder zerstören, wie die lange Geschichte der Bilderstürmerei belegt. Wie aber vernünftig umgehen mit dem Neuen jenseits von Leugnung und Zerstörung?

Die einzig sinnvolle Funktion des Neuen ist, einen neuen Blick auf das Alte zu ermöglichen, eine Begründung von neuen Traditionen. Denn wahrhaft neu ist nur, was uns zwingt, das vermeintlich Alte und Überkommene mit völlig neuen Augen zu sehen und damit als gegenwärtige Kraft der Wandlung zu nutzen.

So erschließt der Blick aus dem Hambacher Forst die Shakespearsche Episode, 4. Akt „Macbeth“; das Stück als Schlüssel zum Geheimnis des Geschichtlichen in der Gegenwart. Und RWE wird uns bemerkenswert als ein folgenreiches Beispiel der Geschichtsvergessenheit kapitalistischer Unternehmer, die sich mit dem Glanz des Neuen doch immer nur eine Narrenkrone aufsetzen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung und Gründer der Berliner Denkerei.