Buch 1. Egon Schiele Symposium im Leopold Museum

Tagungsband

1. Egon Schiele Symposium im Leopold Museum, Bild: Hrsg. von Hans-Peter Wipplinger. Wien: Museum Leopold-Privatstiftung, 2017.
1. Egon Schiele Symposium im Leopold Museum, Bild: Hrsg. von Hans-Peter Wipplinger. Wien: Museum Leopold-Privatstiftung, 2017.

 Übersetzung: Agnes Vukovich

Erschienen
2016

Herausgeber
Wipplinger, Hans-Peter

Verlag
Museum Leopold-Privatstiftung

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-9504025-5-1

Umfang
151 S., s/w. u. farb. Abb.

Einband
Gebunden

Seite 134 im Original

Alle Bildwirkung ist pornographisch

Die Hand Schieles vermittelt zwischen Genitalität und Genialität, zwischen Physis und Metaphysis

Viele der Gemälde von Egon Schiele werden einsinnig rezipiert, weil ihre Motive pornografische Reaktionen nahezulegen scheinen. Unsere Bildervisite erschließt aber einen anderen Kanon der Exponierung, nämlich das Attitüdentheater der Arme und Beine wie auch des Rumpfes. Wenn man die Ausstellung der Geschlechtsorgane jener der Extremitäten, vornehmlich der Hände, in den Gemälden Schieles parallelsetzt, verschieben sich die Bildwirkungen. Es geht nicht mehr um Genitalität, sondern um die Adressierung der Genialität, eines intrapsychischen Potentials. Vor allem die Hände vermitteln bei Schiele zwischen Genialität und Genitalität. Für den Jugendstil um 1900 war Feingliedrigkeit der Hände nicht nur Ausweis für Geistesarbeit statt Handarbeit; vielmehr wollte man den wechselnden Handhaltungen und Fingerstellungen Beweglichkeit im Denken und Fluidität in der Vorstellung zuordnen können. Den Hintergrund für diese Obsession bildete die Erkenntnis der Co-Evolution von Hand und Hirn.

Die damaligen „Völkerkundler“ verwiesen auf das Händeballett indonesischer Rituale, durch das die Tanzenden ganze geschichtliche Erzählungen wie etwa Mythen ans Publikum vermittelten. In der rasanten Entwicklung des Ausdruckstanzes führten die Hände der Tanzenden die Augen der Betrachter, weil die Tanzenden ihre Körper mit Zeigegesten der Wahrnehmung aussetzten. Die Hände exponierten den Leib zumal im Wechselspiel von Ver- und Enthüllung. Im Duktus der Hand-Schrift glaubten Grafologen gar den Charakter eines Menschen sinnfällig der Frage erschließen zu können, welcher Rang ihm in der Skala des Menschseins zukomme. Kriminalisten bemühten sich, die Codes der Handzeichen von Kriminellen zu entschlüsseln, wozu sie beim Studium des Rotwelsch weit in die Entstehungsgeschichte der Zeichensprache der Hände zurückgehen mussten.

Den Höhepunkt der Thematisierung des Ausdruckspotentials der Hände stellt sicherlich die Entwicklung der Taubstummensprache dar, die in ihrer unmittelbaren Beziehung auf die Mimik den höchsten Reifegrad der menschlichen Fähigkeit darstellt, Handbewegungen als eine „ausgesprochene“ geistige Tätigkeit, als Vermittlung von intrapsychischen Operationen, wie Fühlen, Vorstellen, Denken, zu begreifen.

Wenn man die dinglichen Gegebenheiten wie üblich als Realität des Physischen auffasst, dann ist das über die Physis hinausgehende Gedankliche oder Gefühlsmäßige eben die Metaphysik. Um 1900 holten die Sprachdenker Fritz Mauthner und Ferdinand de Saussure das Philosophengeraunze von der Metaphysik als der Lehre vom Sein und vor allem vom Jenseits des Seins der Menschen als dem Göttlichen oder Ewigen oder Unvordenklichen auf die Ebene der Alltagserfahrung zurück, die schlicht und einfach feststellt, dass menschliche Weltbeziehungen zwar zum einen durch die Physik der Dinge und Körper geprägt sind, dass aber zum anderen wir aus unserer gedanklichen Erschließung derselben Welt leben und dass eben dieses Gedankliche in der physischen Welt die Metaphysik ausmacht. So wird verständlich, dass die Hand der Primaten, vornehmlich der Menschen, zum Organ der Vermittlung von Physik und Metaphysik wird, weil sie beiden Sphären gleichermaßen angehört. Graduell abgestuft kam solche Qualifizierung der gesamten „beseelten Materie“ zu, also allen Lebewesen in ihrer Fähigkeit, intrapsychische Zustände auszudrücken. Herkömmlicherweise galt der mimische Ausdruck als der differenzierteste Verweis auf seelisch-geistige Vorgänge. Aber die Hand ist in ihrem Rang des Lebendigkeitsausdrucks unübertroffen, weil sie über das bloß Gestische hinaus in die Welt einzugreifen vermag. Das gelingt der Mimik nur in sehr begrenztem Umfang.

Schiele stellte sich diesem metaphysischen Potential des Körpers und seiner Extremitäten wie kaum ein anderer Zeitgenosse; selbst Klimt und Kokoschka decken nur einen geringen Teil des Ausdrucksspektrums des Metaphysischen ab. Hinzu kommt für den Blick auf Schiele eine seit Raffaels Tod kulturgeschichtlich bedeutsame Entdeckung, die meist mit dem Namen Manierismus belegt wurde und wird. Galt generell, dass der Mund dem überläuft, dessen Herz voll ist, ging es den Manieristen als den ersten Existenzialisten um die Frage, wie man denn zu einem vollen Herzen kommen könne, das dann zum Ausdruck dränge. Seit der antiken Parallelisierung von körperlicher und geistiger Entwicklung war bekannt, in wie hohem Maße die Entfaltung körperlicher Fähigkeiten Voraussetzung für die Ausbildung des kognitiven Vermögens sei. Extreme physische Anstrengungen belohnt das Gehirn nicht nur durch die Erzeugung körpereigener Opiate, also mit Schmerzüberbrückung und Lustgefühl; vielmehr erhöhen sich nach der körperlichen Beanspruchung auch Sinnessensibilität, Wahrnehmungsdifferenzierung und Assoziationskraft, durch die erst die kognitiven Fähigkeiten geweckt und weitergetrieben werden. Wer lange genug das Körpertheater im Attitüdentraining durchläuft, entwickelt tatsächlich die intrapsychischen Korrelate zu den exponierten Haltungen. Anstelle des Ausdrucks von Gefühlen geht es um die Ausstellung ihrer Entwicklung. Das ist ein manieristisches Programm, dessen Wirksamkeit heute neurophysiologisch begründet wird. Dieses vorausgesetzt können wir also sagen, dass die Bildwerke Schieles durch einen dreifachen Bildsinn den pornografisch-fundamentalistischen Einsinnigkeiten entgehen: Die bloße Ausstellung des Körpers in Bewegung führt zur Ausbildung intrapsychischer Korrelate – Gedanken, Gefühle, Vorstellungen –, die dann ihrerseits zum Ausdruck drängen. Formelhaft zugespitzt heißt das, die Exponierung führt zur Ausbildung des Ausdrucks. Das wird bei Schiele bewusst als Psychotechnik demonstriert.

Im heutigen Attitüdentheater zum Beispiel beim Diskothekenbesuch exponieren die vereinzelten Tänzer ihren körperlichen Ausdruck nach der Lizenz des free dance, und zwar so ausdauernd, dass sich intrapsychisch schließlich Korrelate zu diesen Ausdrucksgebärden bilden. Der Grad der Formalisierung des Ausdrucks lässt keinen Rückschluss darauf zu, wie weit die Tänzer individuell Anteil an dem Ausdrucksgeschehen nehmen. Der Manierismus aber fordert die Möglichkeit einer solchen Rückwirkung des körperlichen Exponiertheaters auf die intrapsychischen Aktivitäten. Die Faszination der Schiele’schen Darstellungen scheint genau darauf zu beruhen, dass sie den Moment erfassen, in dem das formalisierte Attitüdentheater sich in Vorstellungen, Gedanken oder Gefühlen manifestiert – und zwar beim Betrachter. Das ist in erster Linie der Künstler selbst, wie die Porträts von Schiele zeigen, die der Fotograf Anton Josef Trčka 1914 inszenierte. Dem ersten Betrachter, dem Künstler selbst, folgen dann wir, die Museumsgänger, indem wir uns vor den Bildern wie vor dem Maler exponieren – in dem Versuch, den Museumsraum in der Vorstellung zum Atelier werden zu lassen.

Mit der empathisch wie emphatisch prägenden Kraft des Schiele’schen Attitüdentheaters arbeiten wir heute wie die „Zöglinge“ der einstigen Kadettenanstalten. Heute sitzen die Zöglinge zum Beispiel der Tennisschulen stundenlang vor großen Leinwänden, um immer wieder die Aktionsformen erfolgreicher Tennisspieler anzusehen und dadurch tatsächlich ihre eigenen Spielerfertigkeiten zu erweitern. Wir Kadetten des Kunstgenusses trainieren durch ausdauerndes Betrachten der ausgestellten Körper unser Verlangen, dem formalen Ausdrucksschema endlich auch entsprechende Einbildungen folgen zu lassen, die wir dann lustvoll-leidvoll auszudrücken vermöchten. Im Jahrhundert des Kindes und der zur Nichtpädagogik reformierten Pädagogik verlor man die Kenntnis dieses ursprünglichen Bildungsvorgangs: Formalisierte Ausbildung führt in der kontinuierlichen Wiederholung zur Entwicklung von Einbildungen, die dann ihrerseits zum Ausdruck drängen. Das ergibt einen guten Rhythmus der Entwicklung oder – im Deutsch der Humanisten – eine Eurythmie. So landen wir schließlich mit unseren Überlegungen bei dem manche überraschenden Resultat, Schieles Bildcharaktere zeigten das extreme Zusammenspiel von Psyche und Soma unter dem Dirigat der Hand als Eurythmie!

Wie können wir diese Überlegungen angesichts der historischen Entwicklung und ihrer Überlieferung rechtfertigen? Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich herumgesprochen, was seit Baumgartens Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik um 1750 und durch die Experimentalpsychologie der Helmholtz-Schule um 1850 feststand; dass nämlich unsere Wahrnehmungen und entsprechenden Urteile in sehr viel höherem Maße durch die Evolution unseres Weltbildorgans Hirn bestimmt sind als durch die sogenannten kulturellen Prägungen, die ja nur funktionieren, wenn sie mit den Prinzipien der Evolution vereinbar sind. Beispiel: Kulturelle Vorurteile wirken so stark, weil sie mit naturevolutionär erworbenen Vorurteilen übereinstimmen. So hat sich etwa Xenophobie/Aversion gegen Fremde als Strategie der Vorsicht gegenüber nicht zum eigenen Stamm Gehörenden bewährt. Und so bewähren sich auch unsere Vorurteile des Sexualitäts- oder Erotikausdrucks. Erotik meint die kulturelle Überformung nackter Geschlechtlichkeit. Solche Vorurteile greifen in unsere Fähigkeit zur Antizipation ein, also ins Vermögen, sich Handlungsresultate vorzustellen, ohne die Handlung selbst auszuführen. Die symbolische Repräsentation der vorgestellten Handlungsresultate zum Beispiel in Texten oder Bildern gilt als Kompensation der Triebabfuhr – ein sehr sinnvolles Vorurteil!

Wiederum hundert Jahre später, um 1950, beschrieben Konrad Lorenz und seine Schulmitglieder, wie diese vorstrukturierten Wahrnehmungsaktivitäten ausgelöst werden. Sie definierten Sets von artspezifischen Auslöserreizkonfigurationen. Dass alle Spezies in einer Welt zusammenleben können, beruht auf ihrer je spezifischen Reaktion auf die Gegebenheiten dieser Welt, die damit so vielfältig wird, wie es artgemäße Reaktionen auf Auslöserreize gibt. Die Wahrnehmungen formieren ein bestimmtes Verhalten bei weitgehender Verflechtung der einzelnen Verhaltensweisen zu Aktionskaskaden. In diesem Zusammenhang sind die Paarungsbereitschaft auslösenden Reize von besonderem Gewicht für den Fortbestand der Gattungen. In Konsequenz der gelungenen Paarung sind dann Auslöserreizkonfigurationen wie etwa Kindchenschema oder Brutpflegeverhalten, Freund-Feind-Markierung, Bereitschaft zur Flucht oder zum Standhalten bzw. zu egoistischem Altruismus oder zu altruistischem Egoismus wichtig. Zu bedenken ist stets, dass die Orientierung an den artspezifischen Auslöserreizkonfigurationen nicht nur über den Seh- und Hörsinn, sondern in sehr hohem Maße über den Geruchs- und Tastsinn zustande kommt. Im griechischen Begriff nous (Geist –Vernunft, Intellekt –Verstand) wird allein durch die Wortgeschichte noch an die Nase, also die Witterung, erinnert, was wir heute etwa als Wachheit (Alarmierung bei Routinestörung) oder andererseits als spontane Reaktion auf zufällige Gegebenheiten definieren. Durch die lange Geschichte der Kooperation verschiedener Sinneswahrnehmungen zur Entwicklung eines verlässlichen situativen Urteils können wir heute noch bildliche Darstellungen „riechen und schmecken“. Jeder weiß, das Auge isst mit, schwarzer Käse wird nicht verzehrt ebenso wenig wie faule Eier, es sei denn, die Einfärbung und der Geruch würden zum Ausweis besonderer Genussfähigkeit, die gerade darin besteht, sich über die üblichen Koppelungen von Aussehen, Geruch und Konsistenz hinwegzusetzen.

Das ist ursprünglich mit dem griechischen Begriff der Autopsie, der eigenen Vergewisserung über Sachverhalte, gemeint. Das lateinische Pendant ist die Visite. Wenn wir zur Bildvisite ins Museum gehen, überprüfen wir, gegebenenfalls korrigierend oder neu programmierend, unsere Reaktion auf die Auslöserreize. Das ist besonders effektiv, weil die Besucherordnung des Museums uns zu spezifischen intrapsychischen Reaktionen veranlasst. Das heißt, wir können vor den Bildern die durch Wahrnehmung initiierbaren Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausleben, obwohl Bilder als Auslöserreizkonfigurationen ja gerade ihre Wirkung in der pragmatischen Umsetzung der Wahrnehmung haben. Zivilisierend wirkt die Museumsordnung durch das Verbot der Unmittelbarkeit oder Zwangsläufigkeit im Verhältnis von Wahrnehmen und Handeln. Wo die Unmittelbarkeit willentlich durchgesetzt wird, spricht man sinnvollerweise von pornografischer Bildrezeption. Die nackte Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion, also Pornografie, gibt es nicht nur angesichts sexueller Stimulierungen, sondern bei allen Formen von Auslöserreizen. Demzufolge sprechen wir von Machtpornografie, Gewaltpornografie, Aneignungspornografie (zum Beispiel im Konsum von Waren) wie auch von Ökofundamentalismus, Religionsfundamentalismus und Fundamentalismus der Algorithmen in der Finanzindustrie. Das wird klar, wenn man meine heutige Begriffsbestimmung für Pornografie aufruft, nämlich deren fundamentalistische Komponente: Wer glaubt, auf einen Text oder ein Bild oder ein Musikstück unmittelbar, buchstäblich, einsinnig reagieren und entsprechende Handlungskaskaden auslösen zu müssen, weil durch strafbewehrte Autoritäten das Reiz-Reaktions-Verhältnis vorgegeben sei, handelt im alteuropäischen Sinne pornografisch oder in heutiger Definition fundamentalistisch.

Seit altgriechischen Zeiten wird deutlich zwischen Pornografie und symbolischer Repräsentanz von Reaktionen, zum Beispiel von Männern und Frauen aufeinander, unterschieden. Pornografisch sind etwa Reaktionen auf die Präsentation der Genitalien, wenn deren Darstellung auf direkte Umsetzung der Bildwirkung abzielt. In diesem Sinne werden fotografisch erzeugte Bilder genutzt, die gegenwärtig vor allem im Internet angeboten werden und deren Betrachtung sich unmittelbar in onanistischer Betätigung erfüllt. Die gleichen Bilder, im Museum präsentiert, verlangen hingegen zumindest den Aufschub der Reaktion oder, besser noch, ihre Sublimierung durch Stimulierung von Assoziationen umfassenderer Bedeutungen. Das sind zumeist Fragen nach dem Zustandekommen der Bilder und ihren Wirkungsabsichten oder deren Vergleich mit konkurrierenden Verfahren, etwa mit Gedanken systematischer Ordnungen, durch Stimulierung jener erinnerten Wünsche und Begierden, die immer noch wirksam sind, weil sie eben nicht als erfüllte erledigt wurden. Dabei sollte man zwischen Gedächtnis und Erinnerung zu unterscheiden wissen. Das Gedächtnis ist das bloße Medium für die Erinnerungen, die immer erneut vergegenwärtigt, also geformt werden müssen.

Wir haben bisher kurz skizziert, wie die Strukturierung unserer Wahrnehmung durch die Entstehungsgeschichte des Organismus zustande kommt. Wir haben auch angedeutet, was Wahrnehmung auslöst. Naturgemäß stellt sich die Frage, wie die Wahrnehmungen deaktiviert werden. Denn man kann sich leicht vorstellen, dass es uns schlecht erginge, wenn wir an ein und demselben Auslöserreiz mit der Wiederholung immer gleicher Reaktionen festhalten würden. Für das Verhältnis von Hinwendung zu und Abwendung von Auslöserreizen ist eine Formation unseres Zwischenhirns, das sogenannte limbische Regulativ, zuständig. Auch dem heißhungrigsten Schokoladeesser wird relativ bald der Genuss vergehen, denn das limbische Regulativ sorgt durch die Erzeugung von Ekelgefühlen für die Abwendung vom Genussattraktor Kakao. Der Masturbist wendet sich vom pornografischen Bild in Gleichgültigkeit ab, sobald er seine Begierde im Orgasmus erschöpft hat. Bei Bildern als Symbolen ihrer Bildwirkung, also etwa bei Gemälden von Egon Schiele, ist diese Abkoppelung durch das limbische Regulativ bestenfalls durch Ermüdung des Betrachters feststellbar. Lässt sich das Wirkungsschema im Verhältnis von Bild und Betrachter auch auf das Verhältnis von Maler und Gemälde übertragen? Soweit Maler während ihrer Bilderarbeit auf Aktmodelle oder Staffagen orientiert sind, ließe sich das Werk selbst als Vermittlung zwischen der lebensweltlichen Realität und der intrapsychischen Aktivität des Künstlers verstehen. Dass Maler gleichsam pornografisch mit erigiertem Pinsel zu Werke gingen, ist ein in Wien besonders gern kolportiertes Gerücht. Und in der Tat sollen ja nicht nur Wiener Aktionisten, sondern auch ein Andy Warhol („piss painting“) sein Genital bildschöpferisch eingesetzt haben. Schiele wurde seinerzeit wegen sexueller Handlungen mit jugendlichen Aktmodellen zu Haft verurteilt und selbst einer seiner treuesten Sammler fühlte sich in einer ersten Reaktion zur Trennung vom Genius veranlasst. Das war aber eine Inkriminierung des Bürgers Schiele, nicht des Künstlers. Jedermann wäre bei erwiesenem Missbrauch Minderjähriger verurteilt worden. Doch man wollte damals mit der Verurteilung partout den Künstler und seine Bildwerke treffen, weil bei der Annahme, dass alle Bildwirkung pornografisch sei, sich Schiele selbst durch das Malen für den Missbrauch konditioniert habe. Diese merkwürdige Konstruktion ist heute auch bei der juristischen Frage, ob Gewaltdarstellungen reale Aggressionsausübungen konditionieren, aktuell.

Demgegenüber wird seit der Antike die kathartische Wirkung der Darstellung von schierer Sexualität, Gewalt, Verrat und bestialischem Mord hervorgehoben. Der Psychologe Diethard Leopold hat in seiner grundlegenden Analyse der Schiele’schen Psychotechnik nahegelegt, dass für Schiele Letzteres gilt: „Die Melancholie ist [...] kein Persönlichkeitsmerkmal Schieles, sondern gehört zu seiner Psychotechnik, die er einsetzte, um sich selbst nicht zu verlieren“. (1)

Generell sind Kunstwerke, wie gesagt, nicht durch ihre pornografische/fundamentalistische Nutzung erschöpfbar. Ihr Effekt besteht ja gerade in der Erzeugung des Wirkungsaufschubs als Sublimierung. Das zielt auf Stimulierung der Potentialität und des Wünschens gegenüber der bloßen Aktualität der unmittelbaren Trieberfüllung. Für dieses merkwürdige Verhältnis von Potentialität und Aktualität setze ich ein anderes Verständnis für den Begriff „Utopie“ ein. Dieses utopische Denken will gerade nicht die realen Gegebenheiten bloß durch andere ersetzen; vielmehr wirkt das Utopische als Kritik an den Geltungsansprüchen des Realen, das eben jeweils nur einen Sektor der großen Variationen nachweislicher Wirklichkeiten für Organismen darstellt.

In diesem Sinne erleben wir Bildwelten der Malerei, Bildhauerei, Architektur (und deren akustische Signalements) in Museen als Utopien des Realen. Jede Realität, also auch das Bild als materielle Gegebenheit, verweist auf unterschiedliche Ausprägungen des Wirkungstypus. Und der wird durch das jeweils zu erarbeitende Verhältnis von Potentialität und Aktualität bestimmt. Das begründet den vielfachen Bild- oder Schriftsinn, den die europäische Tradition seit den Libri Carolini differenziert. Karl der Große beauftragte Mönche unter der Leitung von Hrabanus Maurus in Frankfurt, Argumente gegen die Fundamentalisten der oströmischen (Konstantinopeler) Bilderkriege zu entwickeln. Die gelehrten Mönche empfahlen den „vierfachen Schriftsinn“ gegen die fundamentalistische Einsinnigkeit. Die damals üblichen Holztafelbilder zeigten zum einen durch die Goldgrundierung den materialiter gegebenen Wert von Gold für Menschen, zum anderen boten sie einen anagogischen Sinn, indem sie den Betrachter vom Goldgrund der Tafel in den Ciel d’Oro, den Goldhimmel der religiösen Paradiesvorstellung, „hinüberführten“. Drittens ließ sich das Bildwerk allegorisch lesen als Manifestation des Begriffs der Kostbarkeit, der Reinheit und der Erhabenheit. Und viertens wurde die symbolische Bildebene mit Blick auf die Goldmünze zur Darstellung des Tauschwerts von Waren in der Geldwirtschaft benutzt.

Seit Fritz Mauthner und Ferdinand de Saussure um 1900 die Bild- und Sprachphilosophie von neuem begründeten, ist der vierfache Schrift- und Bildsinn auf einen dreifachen Zeichensinn konzentriert: die später sogenannte syntaktische, die semantische und die pragmatische Ebene. Immerhin lässt sich darin noch das Trinitätsschema der christlichen Theologie des 4. Jahrhunderts erkennen. Unter anderem war damit auch darstellbar, durch welche primären, artspezifischen Reize aus der Außenwelt Menschen zu bestimmten Reaktionen veranlasst werden können.

Der Entrümpelungsunternehmer Adolf Loos wetterte gegen die Makart’schen Bouquets, gegen Pfauenwedel und aufgepolsterte weibliche Hinterteile, weil dieser Plunder die Schönheit des Natürlichen verhülle. Das ornamentale Geschlinge und Gewürge suggeriere schwüle Erotik bei bürgerlichen Korsettträgerinnen, die selber der nackten, der reinen Sinnlichkeit nicht gewachsen seien. Alle Kunst des Wiener Fin de Siècle sei bloß erotisch, mokierte sich Loos, das sei ein Verbrechen an der Natur und damit Gotteslästerung oder, schlimmer noch, Lästerung des Fortschritts.

Als dann vor allen anderen Gustav Klimt und nochmals vor allen Egon Schiele den Postulaten der Lebensreformbewegung, dem Kampf um die Befreiung des Leibes aus den pompösen Kostümierungen, zu entsprechen schienen, war es Loos auch wieder nicht recht, denn diese radikalen Entfesselungskünstler ließen selbst seine reformierten Hüte und Handschuhe, Hosenbünde und Überschuhe als bloße Masken der Modernität erscheinen. Loos zog es dann vor, sich als Apostel der Stilfreiheit durch Qualitätssteigerung jedes einzelnen Artefakts auf die Gestaltung von „Lebenswelten“ zu konzentrieren, das heißt auf den Zusammenhang zwischen Gestalten und Verhalten. Dieses Ziel, die seelischen und geistigen Kräfte der Menschen durch Gestaltung der Objekte ihrer Lebenswelt zu stimulieren, entsprach aber – und das ist entweder ein Treppenwitz der Geschichte oder eine Nestroyiade – genau der Makart’schen Wohntempelausstattung. Dort sollte ja auch die Gestaltung des Materials Psychodynamik auslösen: Ein Versinken im Fauteuilpolster sollte den sich Setzenden an das Verschwinden in den mütterlichen Rockfalten erinnern, was banalerweise nur hieß, in den Schoß genommen zu werden.

Selbst der Reinheitsmodernist, der alle Gestaltungskriterien auf das Qualitative reduzierte, also selbst besagter Loos baute für sich und seine junge Frau Lisa in den historischen Räumen seiner Wohnung nahe der Wiener Oper den mütterlichen Uterus nach: „Wände und Schränke verschwanden hinter umlaufenden weißen Vorhängen, die den Raum zum sinnlichen Kokon abstrahierten. Das Bett schwebte darin wie ein Floß, umbrandet von weißen Fellteppichen [...]. Auf den heutigen Betrachter wirkt das so hippiehaft-hedonistisch, dass man am Entstehungsjahr zweifeln würde, wäre es nicht durch ein Foto in Peter Altenbergs Privatzeitschrift Kunst belegt. [...] Denkt man beim Anblick dieser Installation nicht unwillkürlich an die Fotos nackter Babys auf Eisbärfell, wie sie um 1900 üblich waren? In dem Pädophilie-Prozess, bei dem Loos in den 1920er-Jahren wegen Unzucht mit Minderjährigen zu bedingter Haft verurteilt wurde, spielte der Raum jedenfalls eine unrühmliche Rolle: Hier ließ der 57-jährige drei Mädchen von 8, 9 und 10 Jahren nackt und mit gespreizten Beinen posieren. Um sich angeblich im Aktzeichnen zu üben“, (2) so Margit J. Mayer.

Loos und Makart bedienten sich derselben Psychotechnik; das ist schließlich keine Diskreditierung, denn beide konnten sich mit gleichen Wirkabsichten bei unterschiedlichen Mitteln nur auf ein und dieselbe Menschennatur ausrichten. Das Fortschrittsbewusstsein Makarts und seiner Generation, vor allem der Münchner Malerfürsten in ihrer Begeisterung für die allermodernste Fototechnologie, war mindestens so groß wie das Fortschrittsbewusstsein von Loos und seiner Generation des Geistigen in der Kunst. Makart war genauso modern wie Loos. Diese Aussage ist nicht provokant, soweit man akzeptiert, dass der Begriff „Moderne“ keine spezifische Epoche kennzeichnet, sondern ein Strukturbegriff ist, der seit 2500 Jahren Verwendung findet. Insofern sind alle „querelles des anciens et des modernes“ bedeutungslos, weil immer gleich. Oder von so großer Bedeutung für die Bestimmung des Historischen, weil sie sich immer wiederholen.

Das kennzeichnet eine anthropologische Auffassung des künstlerischen Arbeitens. Für diese steht Schiele. Seine Werke sollten gerade nicht als Beleg modernistischer Tendenzen der Befreiung vom Plunder kultureller Konventionen gesehen werden. Wenn man so will, sind sie fortschrittlich, weil sie auf Archaik bestehen, also den Grundbedingungen des metaphysischen Selbstverständnisses aller Menschen Geltung verschaffen. Das beglaubigten die Avantgardisten der Modernität mit ihrer Begeisterung für die Kulturen der damals sogenannten Primitiven. In der Tat ist auch heute jeglicher Fortschritt nur darin zu sehen, dass wir uns auf die Bedingungen verständigen, unter denen das menschliche Dasein zu allen Zeiten in allen Kulturen metaphysisch wurde, also gelenkt durch psychische Aktivitäten. Es gilt Hominisierung vor Humanisierung.

(1) Diethard Leopold: „Egon Schieles Psychotechnik – Provokation und Melancholie als Medien der Selbstheilung“, in: Egon Schiele. Melancholie und Provokation, hrsg. von Elisabeth Leopold und Diethard Leopold, Wien 2011, S. 48–65, hier S. 62 (Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien, 23.09.2011-30.01.2012)

(2) Margit J. Mayer: „Mehr Licht. Zwischen Dekadenz und Unschuld: Eine kleine Kulturgeschichte von Loos bis Margiela“, in: Blau. Ein Kunstmagazin, Nr. 13, September 2016, S. 64-69, hier: S. 66f.

siehe auch:

  • Vortrag / Rede

    Symposium Egon Schiele

    Vortrag / Rede · Termin: 29.09.2016, 18:15 Uhr · Veranstaltungsort: Wien, Österreich · Veranstalter: Leopold Museum · Veranstaltungsort: Leopold Museum, Museumsplatz 1, 1070 Wien, Österreich