Buch Unlösbare Probleme

Warum Gesellschaften kollabieren

Unlösbare Probleme. Warum Gesellschaften kollabieren, Bild: Hrsg. von Arno Bammé. München: Profil, 2013..
Unlösbare Probleme. Warum Gesellschaften kollabieren, Bild: Hrsg. von Arno Bammé. München: Profil, 2013..

Mit Beiträgen von: Arno Bammé, Wilhelm Berger, Bazon Brock, Peter Heintel, Klaus Götz, Günter Ropohl, Ingrid Reschenberg

[Technik und Wissenschaftsforschung, Bd. 49]

Die Lösungen von gestern sind die Probleme von heute.

Anders als vormoderne Gesellschaften, die in einer statischen Kreislaufwirtschaft verharren, beziehen moderne Gesellschaften die ihr eigentümliche, gemeinhin als Fortschritt bezeichnete Eigendynamik aus der vergeblichen Abarbeitung selbst erzeugter unlösbarer Probleme. Als man zum Beispiel feststellte, dass Kohlekraftwerke die Umwelt belasten, versuchte man es mit Kernkraftwerken. Seit man gewahr wurde, dass sie noch viel gefährlicher sind, versucht man es mit erneuerbarer Biomasse, mit Solar- und Windkraft. Aber auch hier zeichnen sich bereits Grenzen sowohl umwelt- wie sozialverträglicher Belastbarkeiten und zur Verfügung stehender Ressourcen ab.

Die Substitution der einen durch eine andere Energieform hat das zugrunde liegende Problem nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Die Lösungen von heute erzeugen die Probleme von morgen. Die sich hieraus ergebende soziologisch interessante Frage lautet: Was tun, wenn absehbar ist, dass die Kumulation unlösbarer Probleme dazu führt, dass Gesellschaften zu kollabieren drohen? Steht dem Raumschiff "Erde" das Schicksal der Osterinsel bevor?

Erschienen
01.01.2013

Herausgeber
Bammé, Arno

Verlag
Profil

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
978-3-89019-694-7

Umfang
376 S., ill.

Einband
Paperback

Seite 9 im Original

Vom Discours zum Parcours

Arbeit an unlösbaren Problemen

Die eigentlichen Probleme sind unlösbar,
die ideale Befriedigung der Bedürfnisse prinzipiell unerreichbar
und die Sterblichkeit nicht aufzuheben.

Das zwischen Idee und Realisierung
verbleibende Restrisiko ist nicht aufhebbar.

„Designing Public“ meint nichts anderes
als die Entwicklung eines Parcours aus dem Discours über jene Themen,
die allen Menschen eine Realitätsprüfung zumuten.

Bazon Brock

1 Designing Public. (2)
Über die Parallelisierung von Discours und Parcours

1.1 Die Synchronizität sozialer Bindungen

Im Folgenden behandeln wir die Frage, was man als öffentlichen Raum definiert. Bei einer derartigen Betrachtung ist der Verlust oder die Zerstörung von Öffentlichkeit immer synchron zu dem Prozess ihrer Entwicklung zu untersuchen. So wäre es beispielsweise unsinnig zu behaupten, dass bis in die siebziger Jahre hinein eine großartige Entwicklung statt fand, auf die dann die Zerschlagung derselben folgte. Vielmehr hatten wir es immer schon mit einer wechselseitigen Durchdringung beider Positionen zu tun, sofern der Entwicklung auf der einen Seite stets die Zerschlagung auf der anderen Seite gegenüber stand. Es gilt also das Urbane sowohl in Bezug auf dessen Entwicklung wie dessen Zerschlagung zu betrachten.

Im Grunde genommen behandeln wir das Thema der Parallelisierung von Discours und Parcours.

Der seit der Antike vermuteten Parallelität zwischen körperlicher und geistiger Aktivität entspricht das Urbane als diskursives Element. Das urbane Leben bringt Öffentlichkeit hervor, die dort hergestellt wird, wo Menschen sich gemeinsam einem Problem stellen. Dieses Problem betrifft sie unmittelbar in ihrem Leben insofern, als das Problem prinzipiell nicht lösbar ist. Man muss sich immer klar machen, dass die Geschichte der res publica, der Demokratie und dann des Rechtsstaates, daran gebunden ist, dass man einsieht, dass niemand auf der Erde – und hätte er auch die größte Macht – dazu in der Lage wäre, schwerwiegende Probleme zu lösen; denn deren Wichtigkeit bemisst sich daran, dass sie eben nicht lösbar sind. Daher wird es auch nie eine idealstädtische Repräsentation geben. Bereits im 16. Jahrhundert musste man feststellen, dass die tatsächlich realisierten Idealstädte – beispielsweise die Planstadt Palmanova (3) – sich immer als Systeme der Paranoia darstellten und nur als Kaserne oder Irrenhaus genutzt werden konnten; das Ideale führt in der Realisation meistens in Dimensionen des Wahns. Diese Erfahrung sollte darüber belehrt haben, dass der Aufbau sozialer Lebensräume nicht mit der Lösung irgendwelcher Probleme der Menschen koinzidiert, sondern lediglich die Möglichkeit zur Entwicklung dieser unlösbaren Probleme schafft. Was den Discours seit Descartes ausmacht, ist eben nur im Parcours zu bewältigen. Erst wenn der Druck der Einsicht in die Unlösbarkeit dieser Probleme durch Gestaltung, Kapitalinvestition oder allgemeine Beschlüsse anerkannt wird, ist man in der Lage, daraus eine Bewegungsdynamik zu generieren. Dynamisierung heißt, aus dem Discours einen Parcours werden zu lassen bzw. beide ineinander zu überführen. In der Philosophie Nietzsches begegnet man des Öfteren der Behandlung dieses Themas: „Keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung“ . Nietzsche spricht sich in ideengeschichtlicher Anknüpfung für die Aktivierung der auf Aristoteles zurückverweisenden Bestände der peripatetischen Schule aus. Die Peripatetiker gingen davon aus, dass nur was in der Bewegungsdynamik sozialer Prozesse als Gedanken entsteht, auch vertrauens- bzw. glaubwürdig sei. Ganz im Sinne der Überführung eines Discourses in einen Parcours hat Aristoteles seine Schüler ausgebildet, wie dann schließlich auch die Römer in der Parallelität von körperlicher und geistiger Dynamik eine Erziehung im Geiste des mens sana in corpore sano-Gedankens vertraten. Die Diskussion über die hier anzusprechenden Probleme ist von der Frage bestimmt, wie es gelingen kann, den Discours, d.h. die Orientierung auf prinzipiell unlösbare Probleme, mit dem Parcours, der prinzipiell die Dynamisierung dieser Denkbewegung ausmachen soll, in einer sozialen Energie der Bindung zu synchronisieren. Nur dann ist man bereit, sich sozial zu binden bzw. Verbindlichkeiten einzugehen, wenn man einsieht, dass man mit einem Problem nicht fertig wird. Da man aber weiß, dass auch alle anderen mit dem Problem nicht fertig werden – selbst wenn sie Stalin, Mao oder Hitler hießen – sucht man andere Menschen auf. Aber nicht weil man denken würde, die anderen wüssten die Lösung, gesellt man sich zu ihnen, sondern weil man hofft, die anderen wüssten, wie man es mit dem Problem aushält. Die städtisch-urbane Gemeinschaft bevorzugt nicht mehr soziale Bindung durch ethnische, rassische, sprachliche oder kulturelle Gemeinsamkeiten. Stattdessen bietet sie ja die gemeinsame Orientierung auf prinzipiell unlösbare Probleme. Was man sich also gegenseitig beibringt und worin man sich unterstützen sollte, ist das Managen dieser Probleme. Der Manager-Begriff ist entstanden, seitdem man weiß, dass Führer sozialer und ökonomischer Verbände keineswegs mehr wie Moses die Lösung bieten, sondern nur noch aufzeigen können, wie mit dem allgemeinen Unvermögen umzugehen ist. Die eigentlichen Probleme sind ohnehin unlösbar, die ideale Befriedigung der Bedürfnisse prinzipiell unerreichbar und die Sterblichkeit schlicht nicht aufzuheben. Bedürfnisse, die befriedigt werden, sind eben keine Bedürfnisse mehr, wenn das Wesen des Bedürfnisses ist, dass es nicht befriedigt werden kann. Man muss sich also klar machen, dass das Bedürfnis nach Schönheit, nach Wahrheit und nach Gutheit eine Denknotwendigkeit im Hinblick auf die reale Erfahrung von Kaputtheit, Falschheit und von Hässlichkeit ist.

Die große Dynamik des Westens ergibt sich daraus, dass an die Stelle von kulturalistisch-religiösen Bindungen von Menschen, die in einem Agglomerat namens Stadt zusammen wohnen, die gemeinsame Befähigung tritt, sich frei den Problemen und Themen des Lebens zu stellen: Stadtluft macht bekanntlich frei. An dieser Stelle wird natürlich jeder Religionsstifter oder kulturalistische Führer widersprechen und auf seiner Lehrmeinung insistieren, die Welt sei klar und eindeutig strukturiert. Genau diese Strategien der evidenten Demonstration sollten jedoch im Urbanen unterbunden bleiben, da sich zwischen Plan und Ausführung immer eine unaufhebbare Differenz einschleicht. Dies zwischen Idee und Realisierung verbleibende Restrisiko ist nicht beherrschbar.

Im Grunde genommen entstehen ästhetische und ethische Dimensionen aus der prinzipiellen Nichtidentität von Vorstellungen, Plänen oder Konzepten und den daraus resultierenden Handlungsanweisungen. Wer also in einer Stadt lebt, wird dadurch urbaner Bürger, dass er sich auf andere Bürger bezieht. Urbane Bürger bilden untereinander Gemeinschaften jenseits von Kultur und Religion. Urbane Bürgerschaften sind in der Lage, Probleme als unlösbare auszuhalten, ohne nach einem Diktator zu rufen. Urbane Bürgerlichkeit setzt folglich auch individuelle Reife voraus.

1.2 Städtisches Leben, Kunst, Design und das Prinzip der Autorschaft

Das Prinzip der auctoritas, der Autorität durch Autorschaft, das man seit dem 14. Jahrhundert in Europa erfunden und entwickelt hat, besagt, dass man sich nicht auf andere Autoritäten berufen kann. Der Gedanke, dass es keine andere Autorität als die des Individuums gibt, ist daher das Zentrum urbaner Bildung. Der urbane Bürger wagt es, sich ohne die Anleitung Dritter seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Die Kunst entsteht im gleichen Atemzuge im 14. Jahrhundert als Beginn einer notwendigen Organisierung der Evidenzkritik, also einer Kritik am schier Gegebenen und nur noch Abzunickenden. Die Kunst setzt sich gleichermaßen mit den Phänomenen der denkerischen und optischen Täuschbarkeit wie mit den Scheinlösungen von Problemen auseinander. Die überaus bedeutsame Einsicht ist der Kunst zu entnehmen, dass man aus solchen Verhältnissen zwischen den Erscheinungen keine andere prinzipielle Lösung folgern kann als: durch die Kunst in der Kritik geübte Bürger zu trainieren, die soweit realitätstauglich sind, dass sie im Angesicht von prinzipiell unlösbaren Problemen nicht in Religion oder Kultur flüchten. Realitätstauglichkeit zeichnet sich durch die Anerkennung der Tatsache aus, dass die Gesetze der Natur und der Evolution keineswegs durch uns selbst beeinflussbar sind. Kein Priester, kein Papst und auch kein lieber Gott können uns von der konfrontativen Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer Sphäre, auf die wir keinen Einfluss haben, befreien. Innerhalb der Stadtmauern gelingt es einer urbanen Gemeinschaft, den Druck der Realität als ein grundsätzlich über ihr waltendes Phänomen anzuerkennen und gerade unter dem Wirken dieser Gesetze das Leben zur allgemeinen Zufriedenheit zu gestalten.

Die natürliche Reaktion auf eine drohende und nicht beinflussbar wirkende Situation zeigt sich darin, aktiv zu werden. Aktiv werden bedeutet, aus dem Discours in den Parcours überzugehen. Das große dynamische Handeln der westlichen Menschen besteht darin, dass sie den Discours der realitätstüchtigen, d.h. der auf Probleme und dadurch auf den Zusammenhalt orientierten Gemeinschaften in eine Aktionsform – eben den Parcours – überführen.

Als eine typische Vereinheitlichung von Discours und Parcours ist auch die via sacra der antiken Stadt zu deuten. Auf dem Prozessionsweg von der agora zu den höher gelegenen Tempelanlagen der Oberstadt konstituierte sich der Parcours, indem die einzelnen Stationen des Discours – Propyläen, Erechteion, Glyptothek, Pinakothek, Tempel – in einer Bewegung durchschritten werden.

Immerfort muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Entwicklung von Öffentlichkeit nicht an das materielle Herstellen von beliebigen Gebäuden, Fassaden oder pleasure grounds gebunden ist, sondern weiterhin an die Entwicklung von Themen, also an den Discours. Urbanität und Öffentlichkeit entwickeln sich daher immer in einer gemeinsamen Orientierung auf Probleme, die dann beispielsweise zu Symposien (…) Anlass bieten. (…) Seit mindestens 2.500 Jahren werden immer die gleichen Fragestellungen erschlossen und unter der Prämisse verhandelt, dass hier nichts zu machen ist, denn nie mündet die Erörterung der Probleme bzw. Themen in eine Lösung. Aber genau diese permanente gemeinsame Konfrontation mit der Unlösbarkeit stiftet Kontinuität im historischen Bewusstsein der Menschen. So ist beispielsweise das individuelle Sterblichkeitsdiktat der genetischen Entfaltung inhärent, da das Absterben der Individuen notwendig ist, um die genetische Reduplikation überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Fragen zu erörtern, hat dazu beigetragen, diskursive Kontinuitäten durch alle historischen und prähistorischen Zeiten hindurch zu bilden. Im Westen wurde eine Entwicklung angestoßen, die auf der Entfaltung des im zunehmenden Maße städtisch organisierten Individuums beruhte. In den urbanen Räumen Europas fand die Abkopplung menschlicher Weltbilder von der Religion und Kultur statt, so dass sich die Individuen gezwungen sahen, selbst die Begründungen für das zu entwickelten, was sie öffentlich äußerten. Autorität resultiert aus der Individualität, also aus der individuellen Urheberschaft von Aussagen; nichts anderes meint auctoritas im Sinne von Autorität durch Autorschaft. Alle Bürger sind Autoren, denn sie müssen das, was sie behaupten, ausschließlich durch sich selbst begründen. Man muss also schon etwas zur Geltung bringen wollen, um am Discours teilhaben zu können. Ein Künstler, der sich auf eine Schule, ein Zeugnis oder den Markt verließe, wäre daher auch kaum als Künstler zu bezeichnen. Nur derjenige ist ein Künstler, der die von ihm behauptete Sache als das signiert, was er aussagt und nur durch sich selbst begründet. Im Übrigen ist dieser Zusammenhang auch für die griechische polis und den römischen civis das Kardinalproblem, das sich dann allerdings in jeweils anderer Hinsicht entwickelt hat.

Von heute aus gesehen, besteht die Spannung nicht mehr zwischen der Verbindlichkeit des Glaubens und der Rationalität des Wissens, sondern sie geht aus der Irrationalität und der Kontrafaktizität der Aussagen hervor. Man leugnet rational ja nicht die irrationale Seite, sondern man lernt nur, wie man mit dem Irrationalen umgeht. Den Leitgedanken für dieses Verhältnis hat Tertullian als credo, quia absurdum ausgewiesen: Ich glaube, weil es die rationale Vernunft überschreitet. Somit gelangt man zu der nächsten Erkenntisstufe – scio, ut credo: Ich weiß, dass ich glauben muss, denn wenn man sich auf das Jenseits seiner eigenen Vernunft bezieht, weiß man, dass jedes Wissen auf das Nichtwissen, das Absurde oder auf die Irrationalität bezogen sein muss. Aus dieser Überlegung gewinnt man die nächste Einsicht – scio absurdum: Ich leugne das Absurde nicht, sondern ich kenne es, denn ich kenne mich selbst. Alles, was durch Sigmund Freud als das Unbeherrschbare und Unbewusste im Rahmen unseres Triebhaushalts entdeckt wurde, kann nicht einfach wieder verdrängt werden; das wäre popengleiche Bigotterie. Stattdessen gilt es anzuerkennen, was nicht zu leugnen ist. Genau dies macht die Überlegenheit in der städtischen Gemeinschaft aus, die ja gerade frei macht, weil sie das Irrationale zulässt und sogar honoriert. Die Kunst ist nichts anderes als jenes spezifische Verfahren zur Kritik an jeder Sinnfälligkeit von evidenten Behauptungen. Die westlich-zivilisatorische Strategie besteht darin, dass die mit einem Geltungsanspruch versehenen und in den Discours eingebrachten Behauptungen nur Auskunft über das Verhältnis des Aussagenden zu anderen Menschen geben, die ihrerseits den gleichen Problemen ausgesetzt sind.

1.3 Urbane Musealisierungs-, Fake (4) - und Vermüllungsstrategien

Das Museum kann als ein Kernmodell der Einheit von Discours und Parcours betrachtet werden. Denn im Museum wird sowohl der diskursive Zusammenhang durch das räumliche Nacheinander des Abschreitens, also durch den Parcours, gestiftet, als auch das Verhältnis des Aussagenden zu anderen Menschen, die ihrerseits den gleichen Problemen ausgesetzt sind, demonstrativ wiedergegeben. Die Wirkung dieses Reflexionsprinzips lässt sich auch sehr gut anhand des folgenden Beispiels nachvollziehen: Im Jahr 1711 wird der Spectator als eine Zeitschrift der Beobachtung erster Ordnung gegründet, in welcher das Verhältnis des Menschen zur Welt als das eines Zuschauers dargestellt wird. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erschien jedoch als Medium der Beobachtung zweiter Ordnung eine Zeitschrift namens Observer, gewissermaßen ein Beobachter des Zuschauers. So beginnt die große moderne Aufklärungswelle als eine Bewegung des Parallellaufs von Discours und Parcours, in welcher die Individuen selbst die Vermittlerrolle zwischen den großen beherrschenden Themen und dem übernehmen, was in der Bewegungsdynamik eines Individuums bedeutsam wird. In diesem Zusammenhang dürfte der durch PET-Untersuchungen (5) erbrachte Beleg von Interesse sein, dass die Regungsmuster neuronaler Aktivität eines Zuhörers jener des Sprechers entsprechen. Sprechen und Zuhören sind somit Aktivitäten, die operational auf Parallellauf angewiesen sind. Der Sprecher organisiert parallel zu den Zuhörern das neuronale Impulsgeschehen. Dieser Vorgang muss jedoch keineswegs in eine Erfüllung des Wunschverlangens, sondern kann auch in der Enttäuschung münden.

Ein Beispiel aus der Kunst soll von der Wirksamkeit der Enttäuschung im Rahmen von Fake-Strategien berichten: Die Trompe-l’œil-Künstler (6) begannen für das bürgerliche Publikum Kunstwerke anzufertigen, die vor allem die intellektuelle Fähigkeit zur Selbstbegründung eines Anspruchs – also Autorität durch Autorschaft – trainierten. Das Trompe-l’œil-Bild ermöglichte zunächst den Eindruck der Evidenz, weil der Betrachter genau zu erkennen glaubte, was dort abgebildet ist. Es stiftete aber zugleich die Enttäuschung über dieses Phänomen, da dem Betrachter die eigene Täuschbarkeit vor Augen geführt wurde. Der Bürger hatte somit am Bild ein Gutteil seiner Täuschbarkeit erfahren und eingebüßt. Er ist durch die Erfahrung der Enttäuschung wirklichkeitstauglicher geworden. Die Bilder in unseren Köpfen – seien es Engel oder Teufel – lassen sich durch Zeichen realisieren. Die groß aufgebauschte Rede von der Virtualisierung der Realität ist zweitrangig gegenüber der Einsicht in die realisierte Virtualität, die sich auf die eigenständige Dimension der Abbildung, in einer prinzipiell uneinholbaren Differenz zum Abgebildeten, bezieht. Die damit einhergehende Nichtidentität wird auch durch die Dialektik nicht aufgehoben. Die unüberbrückbare Differenz erlaubt es vielmehr, die Gegensätze unversöhnt zu lassen und nicht durch märchenhafte Erzählung aufzuheben. Doch diese Einsicht hat einen Preis: mit Emphase und Pathos ist durch Enttäuschung, ist mit Leidenschaft durch das Leiden hindurchzugehen. Denn Aufklärung ist prinzipiell Enttäuschung; urbane Menschen sind zum Glück prinzipiell ziemlich Fake-trainiert, enttäuschungsresistent und zugleich erfinderisch. Städtische Bürger erfinden Strategien von verbindlicher Bedeutung in dem Verhältnis von schöpferischer Bedeutungslöschung und Bedeutungswiedergewinnung. Seit den 60er Jahren ist die Vermüllungsstrategie eine entscheidende Form der Wertschöpfung für den urbanen Bürger geworden. Man erkannte, dass der Nutzen eines Objekts nicht nur auf den Gebrauch beschränkt ist, sondern sich auf sein Vermüllt-Werden als dem Löschen seiner Bedeutung ausdehnen lässt. Im Hinblick auf die Herstellung eines neuen zyklischen Zusammenhangs zwischen Schöpfung und Zerstörung ist das Vermüllt-Werden das entscheidende Bindeglied. Die faustische Weisheit, dass alles, was entsteht, auch wert ist, dass es zugrunde geht, ist im Rahmen wirtschaftstheoretischer Modellbildung seit Schumpeter als „schöpferische Zerstörung“ bekannt. Da die Dinge ihre Information durch den Gebrauch wieder verlieren, muss der Bürger Sinn-stiftend eingreifen, indem er den Müll sortiert, recycelt, unterscheidet etc.

Auch unser Geschichtsbewusstsein konstituiert sich als ein Problem der Mülltrennung, denn alle Sinnstiftung entsteht durch Unterscheidungen treffen. Etwas wird erst dann zum Problem, wenn das Ununterscheidbare unterschieden werden soll. So besteht die Aufgabe des modernen Individuums genau darin, gewissermaßen archäologisch vorhandene Unterschiede im Zuge einer thematisierenden Erdverwertung aufzudecken.

Der Ort, an dem dieser Zusammenhang exemplarisch vorgeführt und ausgestellt wird, ist wiederum das Museum. Dort wird das Verhältnis von Discours und Parcours, von Hängeordnung und Diskussionsordnung, der Entwicklung einzelner Probleme und ihrer Präsentationsform in idealer Weise dargeboten. Die Dynamik, die sich aus dem Vorgang der Musealisierung ergibt, ist gerade gegenwärtig, da sich die kulturalistisch-religiöse Seite der Verbindlichkeitsstiftung wieder auf dem Vormarsch befindet, von vorzüglicher Bedeutung. Mehr denn je brauchen wir Bürger in den westlichen Gemeinschaften, die in ihrem Selbstbewusstsein auf jene Kriterien von Autonomie rekurrieren, welche die Autorität des Individuums in seiner Autorschaft und nicht in seiner kulturalistisch-religiösen Herleitung gewährt sehen. Den Kern des Problems stellen hierbei weniger die kulturalistisch-religiösen Strömungen qua ihrer Macht, sondern vielmehr jene Individuen dar, die es nicht für notwendig erachten, Autoritäten zu sein, die sich also verabschiedet haben von der Individualisierung und der permanenten Anstrengung, im Rahmen der Sozialgemeinschaft den Discours in einen Parcours zu überführen. Diese Leistung der einzelnen Autoritäten wäre als Ganzes wirklich ein Designing Public.

1.4 Designing Public: Drei Kriterien zur Realitätsprüfung des städtischen Bürgers

Doch wie der soziale Discours in einen Parcours überführt werden kann, scheint in den unterschiedlichen Institutionen wie Schule, Familie und Elternhaus heute nicht mehr vermittelt zu werden. Man braucht sich deswegen nicht wundern, wenn viele Menschen wieder die Gemeinschaft in den einzelnen ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Ausprägungen aufsuchen. Wissenschaft und Künste – also jenes Spannungsfeld, in dem auch die Designer tätig werden – waren neben Fernhandel und Diplomatie die ersten universalen sozialen Formen der Dynamisierung sozialen Verhaltens jenseits kulturell-religiöser Legitimation. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst müssen Aussagen durch individuelle Autorität begründet werden.

Das Wesen bürgerlich-demokratischer Handlungsfähigkeit ist es, sich in der allumfassenden Unwissenheit zu bewähren. Die Demokratie ist nichts anderes als ein operatives Verfahren, mit dieser allgemeinen Beschränktheit umzugehen. Historisch wird dieser Prozess durch die Tatsache in Gang gesetzt, dass jeder für die Gesellschaft nur in dem Maße etwas wert ist, wie er etwas kann bzw. beherrscht. In dem Maße, in dem man sich allerdings spezialisiert, um den eigenen Wert für die Gemeinschaft zu erhöhen, muss man in jeder anderen Hinsicht Dilettant bleiben. In diesem Sinne steht der aufgeklärte Bürger ständig vor dem Problem, auch bei völliger Ahnungslosigkeit handeln zu müssen. Die universaldilettantische Avantgarde dieser Entwicklung waren die Künstler. Jeder Künstler weiß, dass er nur in dem Maße Autor durch Autorität ist, wie er durch seine Kunst ein unlösbares Problem zur Geltung bringt. Als Perugino seinen Schüler Raffael ausbildete, ging es ihm keineswegs darum, diesen zu einer vollendeten Projektion seiner selbst zu erziehen, sondern vielmehr darum, ihn dazu zu veranlassen, die Probleme so darzustellen, dass kein anderer sie (als Problem) überbieten kann.

Designing Public meint nichts anderes, als die Entwicklung eines Parcours aus dem Discours über jene Themen, die allen Menschen eine Realitätsprüfung zumuten. Ziel ist es darum, aus diesen allgemein unlösbaren Problemen die Synchronizität einer gemeinsamen sozialen Bewegung zu generieren. Wer nämlich ein Problem als solches erkannt hat, muss lernen, mit dieser Zumutung umzugehen, was nichts anderes bedeutet, als sofort zu agieren, indem man sich auf andere Menschen einlässt. Zunächst einmal bieten sich diejenigen an, die im Umgang mit diesen Problemen erfahren zu sein scheinen und über die notwendige Souveränität verfügen, ihre eigene Unwissenheit anzuerkennen. Diesem Gedanken folgend ist eigentlich erst ein Professor der ideale Student, da er in seiner Rolle über die notwendige Autonomie und Freiheit verfügt, ein Problem als solches darzustellen und die Unkenntnis einer Lösung zu bekennen.

Darüber hinaus aber sollte man diese Überlegungen noch einmal mit den folgenden Tatsachen vergleichen:

Erstens: Im Arbeitsfeld des Designers – wie auch in Kunst und Wissenschaft – gibt es keinen Kulturalismus und keine religiöse oder kollektive Verbindlichkeitsstiftung; jeder ist Individuum, als solches Autor und somit Autorität.

Zweitens: Man hat sich in seiner bürgerlichen Autonomie gerade deshalb zu bewähren, weil die Sinnstiftung nicht mehr durch den gemeinsamen Glauben, eine Offenbarung oder kollektive Gewissheitsorientierung erzeugt wird, sondern durch die gemeinsame Erfahrung der Unhaltbarkeit und der Bodenlosigkeit des Lebens sowie des permanenten Scheiterns. 

Drittens: Jeder sollte Evidenzkritik, als das wichtigste Verfahren zur Erlangung jeglicher Autonomie, einüben und Kritik an der Evidenzerzeugung betreiben. Allerdings ist diese Kritik an der Propaganda des Visuellen und des Augenscheinlichen nur durch die erneute Evidenzerzeugung – also als Bild – zu leisten. Daher evoziert die Kunst ihre permanente Evidenzkritik gerade durch das Herstellen von Evidenz.

Als Beispiele sind Barnett Newman (7) oder Mark Rothko (8) zu erwähnen, die das Bilderverbot in Form von Malerei realisierten. Auch auf das wissenschaftliche Bilderverbot Rudolf Carnaps aus den 20er Jahren kann nur mit Mitteln der Evidenzerzeugung eingegangen werden. Kunst und Wissenschaft ermöglichen die Kritik an der eigenen Täuschbarkeit im Sinne einer ad oculus geführten Demonstration – also als Evidenz. Hier setzt die Funktion des Designers ein: Die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung muss soweit erhöht werden, bis niemand mehr der Versuchung erliegen kann zu glauben, dass zwischen Abbildung und Abgebildetem ein Identitätsverhältnis bestünde. Die designerische Darstellung dieser Differenz bedeutet Aufklärung über die Grundlagen des Ethischen, des Epistemologischen und natürlich auch des Ästhetischen, denn – esse est percipi – nur was beobachtbar ist, kann unterschieden werden.

Abschließend ist zu den Bedingungen der Möglichkeit für Evidenzkritik durch Evidenzerzeugung eine weitere Anmerkung nötig: Zunächst einmal muss für alles Darzustellende ein Namen gefunden werden. Die Begriffsbildung ist die Urform der Kognition; sie erst ermöglicht die Imagination. Die Frage ist also, wie sich das Verhältnis zwischen der begrifflichen Seite (cognitio), den inneren Vorstellungsbildern (imaginatio) und der Art ihrer Vergegenständlichung als Sprachzeichen (repraesentatio) organisiert. In der Wissenschaft ist zumeist die vollständige Abkopplung von Kognition und Imagination vorzufinden, wobei sich die Repräsentation vollkommen tautologisch zur Kognition verhält. Erst die Psychologie erkannte, dass in uns unkontrollierbare Vorstellungen und Triebe herrschen, die durch Kognition nicht zu erreichen sind – beispielsweise Phobien. Die Kunst entwickelt sich demgegenüber als Ausdifferenzierung der Repräsentationssysteme, also der zeichenhaften und selbstständigen Verweise auf Kognition und Imagination. Besonders herauszuheben ist an dieser Stelle die Eigenschaft der Selbstständigkeit, denn es existieren auch Kunstwerke als Zeichensysteme ohne jeden Bezug auf eine Kognition oder Imagination. In der informellen Malerei begegnet man der Tatsache, dass der Wahrnehmungsanlass keinen distinkten Rückbezug auf Kognition oder Imagination mehr zulässt. Ein tachistisches Bild (10) demonstriert eindrucksvoll, dass die Entwicklung der bildenden Künste tatsächlich auf der Entfaltung von reiner Repräsentation gründet. Erst durch die Entwicklung eines Codes kann die Kunst auch mit imaginativen und kognitiven Potenzialen verbunden werden. Es geht also immer um das Verhältnis von begrifflicher Bestimmung, unvermeidlich hervorgerufener innerer, psychologischer Bewegung und die Notwendigkeit zu einer Repräsentation. Wann immer man ästhetische Urteile bildet, spielt die Kognition eine entscheidende Rolle. Erkennt man etwas als hässlich, kann dieser Erkenntnisvorgang nur vollzogen werden, wenn denknotwendig ein Begriff der Schönheit gebildet wurde. Bezeichnet man etwas als kaputt, dann nur im Hinblick auf die kognitive Fähigkeit, einen Begriff der Ganzheit zu entwickeln. Selbst die Lügenhaftigkeit erblickt man nur in der denknotwendigen begrifflichen Bestimmung der Wahrheit. Nicht etwa als normativer Kodex, sondern nur auf der dialektischen Ebene existieren für den urbanen Bürger Ganzheit, Schönheit und Wahrheit; nur in diesem kognitiven Rahmen sind Urteile in Kategorien möglich.

Die wahren Bürgerschulen sind daher die Universitäten, Kunst- und Designhochschulen, denn dort werden dem Bürger seine Beschränktheit und sein Scheitern ständig vor Augen geführt. Allerdings wird der Bürger erst als Professor oder Meister in die Lage versetzt, souverän mit dieser Situation umzugehen und sich mit jenen Dingen auseinanderzusetzen, von denen er nichts weiß. Das eigentliche Ziel der Wissenschaft bzw. der Kunst ist es nämlich, die eigenen Grenzen zum Ausdruck zu bringen, also die Wissenschaft oder Kunst als solche zu problematisieren. In dem Augenblick also, in dem ein Designer sein Diplom erhält, kann er sich nicht mehr als Dienstleister für eine erzwungene Einheit von cognitio, imaginatio und representatio hingeben, sondern muss vielmehr als Beispielgeber für seine Adressaten arbeiten. Jedes zukünftig vergebene Diplom sollte also mit folgender Anmerkung versehen werden: „Hiermit wird bestätigt, dass der oben Genannte ab heute autorisiert ist, sich nur noch mit den Dingen zu beschäftigen, von denen er keine Ahnung hat.“

2 Kompetent und selbstbewusst.
Der Bürger als Profi (11)

Das Projekt  (12) hat sich zum Ziel gesetzt, die „Wutbürger“, die sich jetzt beispielsweise im Stuttgarter Projekt 21 zur Geltung gebracht haben, mit Verhaltensweisen und Kenntnissen auszustatten, die aus der Wut ein zielgerichtetes Argumentieren und vielleicht sogar Kompetenz zum Eingreifen machen. Das sind dann die „Mutbürger“. Von der Wut – das ist ein notwendiger Impuls, um sich zu engagieren, weil man betroffen ist – hin zu Mut, sich einzumischen, vor allen Dingen da, wo es scheinbar um Sachzwänge geht, die nicht anders entschieden werden können und wo die Fachleute sagen, wir müssen unter uns bleiben, wir wollen keine Mutbürger, weil jede externe Intervention eigentlich nur Zeit kostet.

Professionalisierung heißt, jemandem durch Vormachen, Demonstrieren, durch ein Beispielgeben zeigen, wie man seine Impulse, aktiv werden zu wollen, auch sinnvoll in die Wege leitet und vor allen Dingen, wie man sich selbst dabei stabilisiert und nicht die Erfahrung macht, man hätte zwar alles versucht, aber es sei alles vergeblich gewesen. Denn bei Spontanimpulsen des Handelns ist das Gefährlichste, dass nach kurzer Zeit die Beteiligten das Gefühl haben, es war ja alles für die Katz‘. Das ist sehr gefährlich für die Beteiligten selbst, nicht nur, weil es zu Resignation führt, sondern es führt zum Verlust der Selbstwürdigung.

Und da sind wir beim ersten Punkt unserer Professionalisierungskampagne. Im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die unantastbare Würde ist aber nur dann gegeben, wenn jemand gewürdigt wird. Also ist Würde nur durch Würdigung möglich. Man muss also lernen, etwas angemessen zu würdigen. Dadurch erhält man selber Würde. Man wird würdig durch die Fähigkeit, andere zu würdigen. Und das nicht im Sinne von „Ich nenn dich Schiller, nenn du mich Goethe“, sondern tatsächlich im Hinblick auf das, was in diesem Aspekt der Würde als das „Vermögen zu würdigen“ steckt. Beim Schenken ist das gut zu erklären: Es ist viel schwerer, sich beschenken zu lassen, als zu schenken, viel schwerer, sich für ein Geschenk zu bedanken, als es zu geben. Würde heißt, man muss die Fähigkeit haben, mit gutem überzeugendem Grund zu würdigen, nicht opportunistisch, nicht jemandem nach dem Munde reden, sondern aufgrund der Fähigkeit, tatsächlich sagen zu können, was einem an dem anderen an Schönheit, würdigbarer Aktivität und Verhaltensweisen aufgefallen ist.

Anstalten, in denen man lernt, wie man würdigt, sind zum Beispiel Museen. Da lernt man, archäologische Reste, Tonscherben oder kleine Lehmklümpchen aus 6.000 oder 8.000 Jahren Vergangenheit zu würdigen im Hinblick auf Fragen wie: Was ist das? Wer hat das gemacht? Zu welchem Zweck diente das? Das sind alles Zugänge zur Würdigung, bis man am Ende seiner enthusiastischen Erfülltheit von der eigenen Fähigkeit, das zu würdigen, zu einer Art von Selbstwürdigung kommen kann. Wir nennen diesen ersten Punkt: Radikale Selbstwürdigung.

Warum ist das so notwendig geworden? Weil seit ungefähr fünfzehn Jahren die Gesellschaft aus verständlichen Gründen, etwa aus Gründen der Globalisierung nicht mehr von Berufstätigkeit spricht, sondern vom Jobben. Selbst Ärzte haben heute einen Job, geschweige denn Straßenkehrer, Müllmänner etc. Es geht um die, die man abqualifiziert als bloße Jobber – und das hat man sich ja angewöhnt mit den Job-Zentren, mit der Bezeichnung der Arbeitssuchenden als Job-Suchende etc. –, das ist eine Entwürdigung. Wenn ich zu jemandem sage „Du hast einen Job“ – wo ist da die Basis einer Würdigung? Wenn ich sage: „Der hat einen Beruf“, dann ist die Basis der Würdigung, dass er etwas kann, gelernt hat und mit Hingabe und Interesse arbeitet. Nachdem wir alle Jobber geworden sind, inklusive Ärzte, Professoren – gucken Sie sich das mal an, es heißt tatsächlich heute „ein Arzt-Job an der Klinik“ – ist diese Art der Selbstwürdigung verloren gegangen. Und das muss man den Leuten wieder beibringen. Also dem bloßen Wutbürger den Mut zur Selbsterfahrung ermöglichen unter dem Motto: Worauf stütze ich mich eigentlich in meinem Glauben, dass ich etwas besser kann, besser weiß als andere? Das ist Punkt Nummer eins: radikale Selbstwürdigung zu lernen, indem man lernt, anderes und andere zu würdigen, und zwar mit Sachargumenten und in dienlicher Kooperation mit anderen. Das ist sehr schwer geworden.

Der zweite Punkt heißt: Wie komme ich heute dazu, mich zu sozialisieren? Was ist die Form, die Einsicht, die Situationsanalyse, die mich zwingend dazu bringt zu sagen, als Einzelgänger habe ich keine Chance, ich muss mich mit anderen zusammentun, wir müssen im Team arbeiten? Das ist der zweite der fünf Hauptpunkte des Programms. In herkömmlicher Weise sagt man, Menschen gesellen sich, weil sie die gleiche Religion haben, in die gleiche Sprachgemeinschaft hineingewachsen sind, die gleichen Kochrezepte verfolgen, kurz: all das, was man zur Kultur gehörig nennt. Das heißt, sie vergemeinschaften sich, weil sie zur gleichen Kultur gehören. Dieses althergebrachte, von allen Psychologen, Soziologen, Anthropologen vorgetragene Argument für die Notwendigkeit, sich zuvergesellschaften, fällt aber weg, wenn wir alle weltweit in städtischen Großräumen leben, in denen nicht eine Kultur, sondern Dutzende von Kulturen im gleichen Aktionsraum tätig sind, man sich also gar nicht unter Berufung auf die Zugehörigkeit zur gleichen Kultur fortbewegen kann. Dann müsste man fortwährend auf Leute stoßen, die sich nicht sozial verhalten wollen, weil sie nicht zur selben Kultur gehören. Worin liegt also der wahre Grund für die Notwendigkeit, mich mit anderen zusammen zu tun?

Und das ist ein ziemlich wichtiges Element unserer Arbeit mit den Bürgern seit ungefähr vierzig Jahren. 1968 habe ich damit angefangen, die Wähler, die Rezipienten, die Konsumenten zu schulen in diesem Sinne, dass sie kapieren, welche ungeheuerliche, sensationelle Entfaltung das Demokratieverständnis inzwischen genommen hat. Da geht es um die Frage, was begründet eigentlich unseren Anspruch auf Gleichheit, auf Freiheit, auf – sagen wir – Adressierung auf die Menschenrechte, auf Anspruch zu einer derartigen Selbstwürdigung?

Das ist sicherlich nicht mehr durch die Tatsache begründet, dass ich etwas Besonderes kann und mich deswegen alle anderen schätzen. Denn etwas zu können heißt, dass ich mich in einer Informationsgesellschaft mindestens sechszehn Stunden pro Tag mit meinem kleinen Spezialgebiet, zum Beispiel mit der Nebenniere, beschäftigen muss. Ich muss lernen, lernen, lernen, arbeiten, arbeiten, arbeiten, dann habe ich was Besonderes zu bieten. Aber wenn ich mich sechszehn Stunden am Tag mit meinem kleinen Spezialgebiet „Nebennierenrindenproblematik“ beschäftige, habe ich in 99,99 Prozent aller gesellschaftlich zur Entscheidung anstehenden Fälle keine Ahnung mehr. Da wir in einer Informationsgesellschaft alle gezwungen sind zur Arbeitsteilung, zur Spezialisierung, heißt das, dass wir gerade in dem Maße, wie wir spezialisiert werden, immer dümmer werden, dümmer nämlich im Hinblick auf die allgemein anstehenden Entscheidungen. Denn jeder Spezialisierte ist ja nur in einem ganz schmalen Sektor überhaupt kompetent.

Es kann also nicht sein, dass wir uns auf unsere Meriten verlassen in unserem kleinen Gebiet, denn in einem kleinen Gebiet Meriten zu haben, etwas zu können, etwas Einmaliges anbieten zu können, das auch hoch bezahlt und hoch geschätzt wird, bedeutet ja gerade, in allen anderen Hinsichten zu verblöden. 

Zweitens: Man weiß: Je mehr jemand sich in einem Gebiet spezialisiert, also forscht beispielsweise, desto größer werden die Probleme. Denn forschen heißt, in immer weitergehender Weise einen Sachverhalt im Hinblick darauf zu betrachten, was an ihm problematisch ist und was man nicht weiß, nicht beherrscht etc. Der Fortgang der Forschung führt also zur immer weitergehenden Vergrößerung aller Probleme statt zur Verringerung.

Drittens: Probleme können prinzipiell nicht gelöst werden, denn wenn sie gelöst werden könnten, müsste man sie einfach lösen und hätte gar kein Problem. Aber wir haben dauernd Probleme, eben weil sie nicht lösbar sind, weil alle entscheidenden Probleme gerade deswegen wichtig sind, weil sie nicht lösbar sind. Also ist der Wissenschaftler vom Problemlösungsspezialisten – in der Einsicht, dass durch die Lösung aller Probleme wieder neue geschaffen werden – zu einem Problemschöpfer geworden, das heißt, zu einem, der die Themen vorgibt und auf das hinlenkt, was in einer Gesellschaft extrem interessant sein muss, weil das Überleben des Sozialverbandes oder vielleicht sogar der Menschheit davon abhängt.

Diese drei Dinge zusammengenommen, muss man also sagen, dass der Profibürger kapieren muss, dass, wenn wir uns zusammenschließen, um gemeinsam über unser Schicksal zu entscheiden, wir in Wahrheit nicht auf der Basis unserer Kompetenz arbeiten, sondern auf der Basis unserer Inkompetenz. In allen anderen Bereichen außerhalb meiner kleinen Nebennierenrindenproblematik, die ich untersuche, bin ich ein absoluter Dilettant. Das heißt, alle sind im Hinblick auf alle politischen Fragen mehr oder weniger Dilettanten. Die Demokratie ist die einzige Verfassung einer Gesellschaft, die nicht auf der Übermacht des Wissens, Könnens basiert, sondern auf der Einsicht, wir wissen nichts, wir können nichts und wir haben nichts. Denn gerade dadurch, dass wir so viel wissen, entsteht noch mehr Nicht-Wissen, gerade dadurch, dass wir so viele Probleme angehen, entstehen mehr Probleme. Mit anderen Worten: Es ist klar, dass wir uns nicht darauf verlassen können, die Themen loszuwerden, denn durch die Art, wie wir sie loswerden wollen, schaffen wir pausenlos neue.

Jetzt komme ich auf die Vergesellschaftung zurück: Wie funktioniert ein Zusammenschluss von Menschen, der darauf beruht, dass alle Beteiligten sich eingestehen, in Wahrheit wissen wir gerade durch zu viel Wissen immer weniger? Wie steht unser Vermögen, Sachverhalte zu beherrschen im Sinne von Erledigen, im Kontrast zu der faktischen Erfahrung, dass jede Problemlösung neue Probleme schafft? Das ist eben die demokratische Begründung der Gleichheit der Menschen in der neuen Form. Und das ist unsere Intention der Bürgeruniversität. Nämlich: Wir gehören nicht einer gemeinsamen Sprach-, Essens- oder Kulturgemeinschaft usw. an, sondern wir gehören gemeinsam einer Weltgesellschaft von Menschen an, die alle mit den gleichen Problemen konfrontiert sind, die sie alle gleichermaßen nicht lösen können, der gegenüber sie keine Machtmittel einsetzen können (keine Atomkraft, keine Militärs usw.). Mit anderen Worten: In Zukunft haben Menschen nicht ihre Sprache gemeinsam, ihre Kulturgemeinschaft, ihre Ess-Sitten gemeinsam, sondern die Probleme haben sie gemeinsam.

Nehmen wir das Beispiel Ökologie: Ökologie macht vor keiner Sprach-, Kultur- oder Konsumgrenze Halt. Das ist ein universales Problem, für das kein Mensch eine Lösung hat, weil jeder neue Ansatz einer Lösung neue Probleme schafft. Das Aufgeben der Atomkraft als ein Problem, das man loswerden will, schafft uns auf der anderen Seite natürlich neue Probleme durch die Verschandelung der Landschaft durch Windräder, die Zerstörung des Lebensraumes von Vögeln. Die Rettung dieser Welt vor atomarer Strahlung heißt gleichzeitig zum Teil ihre Zerstörung: Landschaftszerstörung, Heimatzerstörung. Sie sehen, was die grundlegenden Voraussetzungen dafür sind, dass man heute miteinander auf sinnvolle Weise zu kooperieren gezwungen ist, aus innerer Einsicht. Ich weiß angesichts unserer Probleme gerade durch meine Hochspezialisierung gar nichts, ich kann nichts und ich habe nichts, ich habe keine Machtmittel. Das klingt von Ferne wie eine sokratische Tugend, weil Sokrates ja schon gesagt hat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Aber um zu wissen, dass man nichts weiß, muss man ungeheuer viel wissen.

Unser Projekt basiert auf keinem Relativismus: Es ist keine Gleichgültigkeit, keine Koketterie, sondern tatsächlich die Einsicht in das, was Forschung heißt. Je mehr ich forsche, je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich nicht. Also wächst mit dem Fortschritt des Erkennens, des Entdeckens der Teil dessen, was nicht erkannt wird, was erst als neuer Kontinent, als neues Problem zu erforschen ist. Professionalisierung der Bürger veranlasst sie also einzusehen, dass ihre neue Form von Gesellung, von Gemeinschaft darauf beruht, dass sie psychisch so stark sind, so persönlichkeitsgereift sind, dass sie nicht in Ideologien ausweichen, nicht in spiritistische Zirkel ausweichen angesichts der Unlösbarkeit der Probleme, sondern gerade sagen: „Moment, ich weiß nichts, ich habe nichts, ich kann nichts. Du auch nicht. Wie werden wir damit fertig?“ Das heißt, anstatt Probleme lösen zu wollen, müssen wir den Umgang mit ihnen lernen. Der alte Begriff in England hieß „management“. Der ist aber heruntergekommen. Ursprünglich, in den 1840er Jahren, hieß „managen“ nicht Probleme lösen, sondern auf sinnvolle Weise mit ihnen umgehen, anstatt sich die Allmachtsphantasien von bestimmten Politikern, Machtpotentaten oder Unternehmern anzueignen. Dieser Triumphalismus der Experten zur Lösung von Problemen hat sich völlig erledigt, den glaubt keiner mehr, denn inzwischen haben alle die Erfahrung gemacht, dass mit einer angeblichen Problemlösung nur neue Probleme entstehen. In den 1950er Jahren hat man die Atomkraft als saubere Lösung von Energieproblemen propagiert. Und was hat man gesehen? Atomkraft als Lösung für die Energieprobleme ist heute das Ausgangsproblem. Jetzt beschäftigen wir uns gerade mit dem Lösen des Problems der angeblichen Problemlösung. Und so geht das immer weiter.

Was braucht man für Fähigkeiten, um sich mit anderen Menschen anderer Kulturen, Sprachen notgedrungen angesichts derselben Problematiken zu vergesellschaften, sich zusammen zu tun? Wie wird man ein Weltbürger? Wie wird man psychisch stabil, um nicht Spiritisten, um nicht Verführern oder Ideologien ins Netz zu gehen, sondern zu sagen: Redet uns nie mehr von Problemlösung, sagt uns, wie man intelligent damit umgeht, dann können wir mit euch verhandeln. Erzählt uns nicht, ihr könntet mit Macht, mit Militär, mit Geist oder was auch immer die Welt in eine euch nützlich erscheinende Weise verwandeln, so dass es bequem, paradiesisch und mühelos läuft. Das ist alles ausgeschlossen. Und das ist das Programm unseres Profibürger-Studienganges: Diplom-Patient, Diplom-Konsument, Diplom-Rezipient, Diplom-Gläubiger, Diplom-Wähler.

Mit dem Profibürger beleben wir den Gedanken der Akademien wieder. In der alten Akademie-Zeit, sagen wir mal 17. Jahrhundert in Frankreich, gab es viele intelligente Leute, die sich aus der Universalsprache Latein auf ihre Regionalsprachen, auf ihre Muttersprache verlegten. Man befreite sich, kam zurück zur Muttersprache, hatte eine unglaubliche Kapazitätsentfaltung im Wissen und im Können und machte die betrübliche Feststellung, was nützt es denn, wenn in London 700 Leute interessante Dinge schreiben können, wenn keine Leser da sind. Wir gründen also eine Akademie, in der alle Teilnehmer sich wechselseitig garantieren, dass du schreibst, würdige ich, weil ich lese, was du schreibst. Alle Mitglieder haben sich wechselseitig die Versicherung abgegeben, durch das Sehen, Zuhören, Lesen die Sinnhaftigkeit von Musizieren, von Malen oder Schreiben zu garantieren.

Das ist heute wieder der Fall. Überall wird nur gepinselt, überall wird nur geschrieben – wo sind die Leser? Selbst Fachzeitschriften in den USA wie „Science“, „Nature“ und andere klagen darüber, dass niemand mehr die Kurzfassung der Artikel liest, geschweige denn die Langfassung. Man liest sie nur, um sie patentrechtlich auszubeuten oder andere Leute zu hintergehen und deren Eigentum für sich selbst zu nutzen. Das ist der einzige Grund. An intellektuellen Prozessen ist kein Mensch mehr interessiert. Es wird also nicht mehr gelesen.
Die Profibürger-Versammlung ist die Versammlung, in der alle Beteiligten sich wechselseitig garantieren: Wenn unsere Teilnehmer Schreiber sind, garantieren wir die Sinnhaftigkeit ihres Schreibens, weil wir lesen, was sie schreiben; wenn es Komponisten sind, gehen wir zu den Konzerten, weil wir uns darauf vorbereiten, auf gleiche Weise dem entsprechen zu können, was der Komponist als Hersteller gelernt haben muss. Das Gleiche haben wir gelernt, um sinnvoll hören zu können.

Also ist die Bürgerversammlung im Sinne dieser Profibürger-Auffassung eine Akademie von den Leuten, die sich auf empathischem Wege wechselseitig garantieren, dass das, was man tut, sinnhaft ist.

Ich möchte den Profibürger kurz am Beispiel des kompetenten Patienten erläutern:

Jeder weiß, wie ungeheuer wichtig seine Fähigkeit ist, den Aufenthalt in einer Klinik zu überstehen. Sonst kommt er nämlich kränker aus dem Krankenhaus zurück, als er reingegangen ist. Das werden heute sogar die Krankenkassen und die Klinikärzte selbst bestätigen. Jeder kennt ja die große Gefahr, sich im Krankenhaus mit Keimen anzustecken, also benötigen wir Patienten, die diese Gefahr kennen und die mit aufpassen, dass sie sich nicht anstecken. Das heißt, der Patient trägt Verantwortung für das, was mit ihm geschieht. Rechtlich ist das sowieso der Fall, denn wenn ich in die Klinik eingeliefert werde, muss ich unterschreiben: Hiermit übernehme ich (in rechtlicher, d. h. finanzieller Hinsicht) die Verantwortung für das, was man mit mir macht.

Der für sich selbst verantwortliche Patient, das ist eine ungeheure Zumutung für die meisten Zeitgenossen, die deswegen völlig überwältigt sind und natürlich gerne sich in die Obhut der Ärzte geben wollen, vertrauensvoll, das ist auch alles verständlich. Aber die Ärzte haben nicht mehr die Zeit, sie haben aufgrund der Abrechnungsverordnungen, aufgrund der Dienstvorschriften, aufgrund der Arbeitsablaufprozesse gar nicht mehr die Möglichkeit, sich ans Bett des Patienten zu setzen und jemandem zwanzig Minuten die Hand zu streicheln, damit der zu sich selbst und zu seinem Zustand wieder Zutrauen bekommt, weil er sieht, dass andere sich bemühen und sagen, es ist noch Hoffnung da. Das gibt es eben nicht mehr. Also muss man das selbst in die Hand nehmen.

In unserem Ausbildungsprogramm durch zwei Klinik-Chefs aus Aachen wird das Modul „Der kompetente Patient“ besonders nachgefragt: Wie werde ich ein mündiger, d. h. professioneller Bürger? Mündig im Sinne von „Ich kann das beurteilen“, Profi im Sinne von: Ich kann sagen „Halt, Sie sollen nicht mit dem gleichen Tuch die Leiste am Fußboden aufwischen wie meinen Patiententisch“. Und sobald der Patient anfängt, in seinem eigenen Interesse sich verantwortlich zu fühlen für das, was da abläuft, ändert sich die Lage.

Und jetzt komme ich zu einem ganz wichtigen Stichwort unseres Projekts: Es geht um Aufklärung, Selbstbestimmung, und es geht auch um die Einsicht, dass wir uns nicht nur rational verhalten, sondern auch irrational. Rationalität ist das Wissen um die Grenzen des eigenen Erkenntnisvermögens. Wenn ich Grenzen meines eigenen Aussageanspruchs setze, erzeuge ich gleichzeitig das Jenseits der Grenze ganz automatisch. Es ist mit dem Begriff der Grenze verbunden, dass, wenn ich diesseits der Grenze rational argumentiere, notwendigerweise die andere Seite in den Blick bringe, nämlich die Irrationalität. Mit anderen Worten: Der westliche Rationalismus ist derjenige, der einen vernünftigen Gebrauch von der Orientierung auf das Irrationale ermöglicht. Rationalität erzeugt Irrationalität als Komplementarität, nicht mehr als dialektische Vermittlung. Das steckt ebenfalls in unserem Projekt, die Ablösung von der einseitigen Rationalität.

Man muss also als Welt-Bürger lernen: Wir im Westen sind nicht nur rational, alle anderen sind irrational, sondern wir müssen die andere Seite der Rationalität entdecken, unsere Wut, unsere Emotionen, unsere Liebe. Wenn die Eltern der Tochter sagen: „Mein Kind, Du willst diesen Idioten heiraten? Der hat keine Ausbildung, der hat noch nicht mal die Mittlere Reife geschafft, der hat kein Haus, kein Vermögen. Warum heiratest Du den? Das ist völlig unsinnig zu heiraten, denn Heiraten ist eine soziale Bindungsform mit bestimmten kalkülstrategischen Überlegungen, Kosten-Nutzen-Rechnung etc.“ Dann sagt die Tochter: „Siehst Du, Mutter, Du hast völlig recht: Er hat nichts, er kann nichts, er weiß nichts. Und wenn ich mich ihm hingebe und binde, dann ist das genau der Ausdruck des Jenseits des Kalküls, der Ausdruck der Absurdität im religiösen Sinn oder der Liebe im christlichen Sinne.“

Die Bürger müssen lernen, Aufklärung im wahren Sinne – vorkantisch sozusagen – oder nachkantisch zu sehen, denn Hegel hat diesen Einwand gegenüber Kant gemacht: „Lieber Kant, wenn du die Grenzen der menschlichen Erkenntnis festlegst, erzeugst du zwangsläufig das Jenseits der Erkenntnis.“ Die wahre Aufklärung heißt, wer auf Rationalität besteht, muss lernen, einen vernünftigen Gebrauch von der Unvernunft zu machen.

Das ist grundlegend für die Bürgerakademie, für die Ausbildung des Profi-Bürgers. Er ist deswegen professionalisiert. Er ist in der Lage, mit sich selbst als Gegenstand seines eigenen Handelns umzugehen. Das nennt man Reflexivität. Er hat ein wohlverstandenes Interesse an sich selbst, denn er will lernen, sich selbst zu würdigen, und dazu muss er anderes würdigen können, dazu braucht er gewisse Kenntnisse und Vorgaben. Dazu gehört auch das Wissen, dass es jenseits der Rationalität auch das Irrationale gibt, erst beides macht uns zu Weltbürgern, die sich nicht mehr als angeblich rationale Wesen von anderen angeblich irrationalen Kulturen abschotten.

3 Kathedralen für den strahlenden Müll – so ist Zukunft wahrscheinlich (13)

Die folgenden Überlegungen gelten der Tatsache, dass wir Lagerstätten für die Resultate der schöpferischen Zerstörung, also Müllhalden, auf die gleiche Weise mitten in unseren Lebensräumen schaffen müssen, wie wir dort den Kräften der schöpferischen Hervorbringung Kultbauten widmen: Moscheen, Synagogen, Kathedralen. Es gilt also, Kathedralen für den Müll, für die Kultur begründende Kraft der Entsorgung zu schaffen – zumal dann, wenn der Müll aus seiner Eigenschaft heraus eine Beachtung erzwingt, die wir bisher nur den Göttern entgegengebracht haben. Gemeint ist der atomar strahlende Müll.

Die kultische Hingabe an die Kraft des Hervorbringens, an die Kraft des Schöpfergottes steht im Zentrum jeder Kultur. Die Formen der Hingabe sind durch die Erfahrung geprägt, dass Menschen nur durch Verehrung bannen können, was sich durch keine andere Weise der Einflussnahme beherrschen lässt. Der göttliche Wille ist eben ein solcher, weil er nicht zum Willen der Menschen gemacht werden kann. Alles, was unsere Kraft zur willentlichen Einflussnahme oder gar zur Beherrschung überschreitet, nennen wir Wirklichkeit. Wer nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit anzuerkennen, wird in Allmachtsphantasien schwelgen, die selbst bei fürchterlichsten Folgen für unzählige Menschen, wie zum Beispiel durch Mord und Terror in KZʼs und GULAGʼs, vor allem Dummheit demonstrieren. Für die heutige Menschheit ist die mächtigste, weil gefährlichste Herausforderung durch die Wirklichkeit im Umgang mit dem atomar strahlenden Müll gegeben, weswegen es notwendig wird, diese Macht der Wirklichkeit durch kultische Verehrung zu bannen. Leider werden die Versuche dazu immer noch in möglichst unzugänglichen Weltgegenden versteckt, obwohl längst alle wissen, dass sich das Problem nicht verstecken lässt. Deshalb wird die einzig vernünftige Reaktion auf die Zumutungen der atomar strahlenden Wirklichkeit darin bestehen, dass man in die Zentren des menschlichen Zusammenlebens auch Kultstätten für die Verehrung der destruktiven Kraft als Wirklichkeit baut. Mitten in die Gemeinden hinein sind die Kathedralen für den strahlenden Müll zu errichten und die Bevölkerung zu entsprechendem Dienst an der Bannung dieser Wirklichkeit zu erziehen. Müllkult hat gegenüber den bisherigen Gotteskulten einen unübersehbaren Vorteil. Kulturelle Gotteskulte haben es in Israel, desgleichen in China oder in Altägypten auf höchstens 3.000 Jahre Verehrungsdauer gebracht. Im Vergleich dazu stiften die Kathedralen für den atomar strahlenden Müll kultische Fürsorgepflicht für den Zeitraum von mindestens 15.000 Jahren Halbwertzeit. Müllverehrung ist also von unserer Gegenwart aus gesehen von größerer Wirkmächtigkeit als Gottesverehrung – zumindest wird im allergünstigsten Falle Gottesverehrung nur solange gelingen wie die Müllverehrung. Denn wenn die kultische Bannung des atomar strahlenden Mülls nicht gelingt, wird es keine Menschen mehr geben, die ihren Göttern dienen könnten.

Im Unterschied zur permanenten Aufforderung der verschiedensten Kulturen, sich im Namen des Geltungsanspruchs ihrer Götter Religionskriege und Kulturkämpfe bis zum bitteren Ende zu liefern, hat die kultische Müllverehrung den Vorteil, die Mitglieder aller Kulturen gleichermaßen zum Dienst an der Abtragung von Ewigkeitskosten menschlicher Schöpferkraft zu beteiligen, da vor der Gefahr der atomaren Strahlung alle Menschen gleich sind und ihre kulturell-religiösen Bekenntnisse unerheblich werden. Müllverehrung hat also den stärksten uns bisher bekannten Zwang zur Entwicklung einer einheitlichen Weltzivilisation jenseits aller Kulturen zur Folge. Welcher Zweck stünde höher als die Bannung der Gefahr eines Untergangs der Menschheit? Also würden die Kathedralen für die Verehrung des atomar strahlenden Mülls als Kultstätten die höchste Auszeichnung unter allen konkurrierenden Kultstätten zugesprochen erhalten müssen.

Vor diesem Ereignishorizont begreifen wir erst die Dimensionen des Konsumerismus: Wirklichkeitsangemessenes Konsumieren hieße, sein gesamtes Handeln als Befreiung der Welt von dem Allmachtswahnsinn der Produzenten zu verstehen, indem man sich den Konsequenzen des Geschaffenen, also der Vermüllung der Welt als schlussendlich unlösbarem Problem stellt. Neuartig in der Kulturgeschichte der Menschheit ist die Dimension der zerstörerischen Kräfte des menschlichen Schöpfergenius. Diese Dimension lässt sich als bisher beste Entsprechung zu den Begriffen „Ewigkeit“ oder „Uchronie“ werten. Also stiftete die kultische Bannung der strahlenden Zerstörungskraft zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine von niemandem zu verleugnende Orientierung all unseres Handeln und unserer Verhaltenswiesen auf Ewigkeit. Die nannte man bisher das Reich Gottes.

Unsere Verpflichtung auf Bewahrung des Mülls für ein Minimum von 15.000 Jahren Halbwertzeit macht jetzt bereits alles zeitliche Handeln zu einer Verwirklichung von Ewigkeit. Wir stiften Ewigkeit. Die feuilletonistischen Gepflogenheiten, unsere Zeit als kurzatmig, neuigkeitssüchtig, ereignisflüchtig, oberflächlich, relativistisch und als haltlos darzustellen, erweisen sich vor der Anforderungen an unsere Wirklichkeitstauglichkeit, also der Akzeptanz einer realistischen Zeitperspektive von 15.000 Jahren, ihrerseits als Ausdruck von Haltlosigkeit und weltflüchtigem Kulturrelativismus.

Vorbildlich agieren bereits Atomphysiker als zeitgemäße Tempeldiener in strikter Erfüllung der Vorschriften für den rituellen Umgang mit der tödlichen Kraft. (14) Um unversehrt in die Nähe der strahlenden Kraft zu gelangen, beachten diese Priester höchst artifizielle und exakt abgestimmte Annäherungsmodulationen, die im Umgang mit dem Tod verheißenden Material notwendig sind. Damit Zukunft wahrscheinlich wird und die potentielle Zerstörung des genetisch verankerten Reproduktionsprogramms des Lebens verhindert werden kann, sind also bestimmte Formen der fürsorglichen Verehrung des endzeitgelagerten radioaktiv strahlenden Mülls zu entwickeln. Wenn es uns nicht gelingt, die tödliche Wirklichkeit einzuhegen, also die Natur, vor allem auch die Natur des Menschen zu besänftigen, haben wir keine Chance, ein bereits drohendes Schicksal abzuwenden.

Dazu wollen wir mit der Entwicklung von Modellen für Kathedralen des strahlenden Mülls beitragen. Seit 1986 begleite ich Winfried Baumann bei seinen Bauprogrammen für die Müllkathedralen. Nach den Proportionsschemata des Kölner Doms oder der Aachener Pfalzkapelle oder der Hagia Sophia oder der großen Al-Aksa-Moschee beziehungsweise entsprechender Synagogenbauten, das heißt in Übernahme von architektonischen Würde- und Pathosformen, entwarf Baumann Kathedralen für den Müll. Sie erfüllen alle Anforderungen der Sicherheitstechnik, übertreffen sie aber gerade durch das Sichtbarmachen des Atomkults, dessen entscheidendes Problem ohne jeden Zweifel die Endlagerung des atomaren Mülls darstellt.

Baumanns Containments (15) sind so ausgelegt, wie das zehn Jahre nach unseren Initiativen auch amerikanische Künstler und Wissenschaftler forderten, etwa Don DeLillo (16), der in seinem Roman „Unterwelt“ Müllhalden als Zentren, als Sacrum, als Allerheiligstes jeder zukünftigen Zivilisation einforderte. (17) Aber unsere Konzepte entwickeln nicht nur Bezüge zu zukünftigen Zivilisationen. In der Kulturgeschichte wird auf vielfältige Weise von Versuchen berichtet, durch Bauten die menschliche Verpflichtung auf Ewigkeit zum Lebenszentrum zu erheben. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der Entschluss zum ersten Bau eines Tempels in Jerusalem durch König David und seinen Sohn Salomon. Bis zur Zeit Davids transportierte das jüdische Volk das Heiligtum stets in einem tragbaren Reise-Schrein. Das Heiligtum bewahrte vor jedem äußeren zerstörerischen Einfluss die Zeichen des Bundes, den Gott mit dem Volk Israel schloss. Die Schrein-Mobilie musste zur Immobilie als Tempel werden, weil dadurch ein besseres Containment für das Bündniszeugnis geboten werden konnte, auch als Containment gegen die zerstörerische Kraft des intellektuellen Zweifels und der ungewollten Häresie.

Es leuchtet ein, dass der Tempel Salomons einen besseren Schutz gegen die Kraft der Zerstörung zu bieten vermochte als ein fragiler Tragealtar in offener Landschaft.

Wir bieten mit den Kathedralen für den Müll die zeitgemäße Definition des ausgegrenzten Bezirks, also eines Templum-Bereichs, zu dem Zutritt nur durch einen portalartigen Einlass mit besonderer Lizenz gewährt wird. Beim Übertreten der Schwelle des Tempels hochgefährlicher Kulturaktivitäten müssen die rites de passage, eine Verwandlung der Eintretenden vollzogen werden, die dann bekennen, jeden Mutwillen, alle Eigenmächtigkeiten zu unterlassen. – Dante spricht im „Inferno“ seiner „Göttlichen Komödie“ in dem Geiste christlicher Demutsdeklarationen beim Eintritt in die Vorhölle: „Lasst fahren alle Hoffnung, die ihr hier eintretet“. Wählten wir das entsprechende Motto für den Eingang in die Kathedrale des strahlenden Mülls, so lautete die Übersetzung des Dante-Mottos: „Jeder, der hier eintritt, hat alle noch so geringen Zeichen von Eigenmächtigkeit oder Willkür zu unterlassen. Hier gilt’s den Tod!“ Unter dem Motto „Hier gilt’s der Kunst“, der heiligen Schöpferkraft, der alle Naturwirklichkeit übergipfelnden techné wurde die Welt zur Müllhalde, die sich stündlich vergrößert, denn in immer kürzeren Takten werden schöpferische Leistungen des Menschen auf den Müll geworfen. (…)

Fußnoten:

(1) Anmerkung des Herausgebers: Dieser Beitrag ist eine Collage längerer oder kürzerer Textpassagen aus Publikationen Bazon Brocks, die ich thematisch zusammengestellt habe aus: 1. Designing Public, Vortrag, gehalten auf der Public Design Conference in der Köln International School of Design am 17.1.2007; 2. Kompetent und selbstbewusst, Vortrag, gehalten im Südwestrundfunk am 5.6.2011; 3. Kathedralen für den strahlenden Müll, erstmals veröffentlicht in Tumult 37/2011, S. 74 ff. Der erste Textauszug gibt in grundsätzlicher Weise Auskunft über den im Grenzbereich von Kunst und Wissenschaft angesiedelten gesellschaftstheoretischen bzw. -politischen Ansatz Bazon Brocks, der zweite liefert ein Beispiel für konkrete Aufklärungsarbeit heute und der dritte stellt ein Beispiel praktischer Intervention in den gesellschaftlichen Alltag dar. Im übrigen sei auf den Gründungstext des „Amtes für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“ verwiesen, der diesem Buch als Anhang beigefügt ist.

(2) Anm. d. Hrg.: Da sich Bazon Brock als ausgewiesener Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft oftmals einer Begrifflichkeit befleißigt und auf Diskurse bezieht, die jenseits der Vorstellungswelt eines Fachsoziologen angesiedelt sind, sei auf das für Sozialwissenschaftler vielleicht vertrautere Konzept des „Transformationsdesigns“ an der Universität Flensburg verwiesen. Unter „Design“ wird ja gemeinhin ein zeichnerischer oder plastischer Entwurf, eine Skizze oder ein Modell, insbesondere zur Gestaltung industriell gefertigter Gegenstände, bzw. die nach einem „Design“ entstandene Form von etwas verstanden. Ein „Designer“ ist demzufolge ein Formgestalter, insbesondere von Gebrauchs- und Verbrauchsgütern. Im Zuge des „linguistic turn“ der Geisteswissenschaften hat die damit zusammenhängende Begrifflichkeit eine Bedeutungserweiterung bzw. -verschiebung erfahren. So ist das „Designat“ zum Beispiel die Bezeichnung für das Signifikat in einem bilateralen Zeichenmodell der Sprache. Also beim sprachlichen Zeichen „Müll“ etwa ist der Sinn bzw. der Inhalt das Signifikat, das Bezeichnete, während der Lautträger bzw. das Schriftbild, also der Name, der Signifikant, das Bezeichnende ist. Der „Designator“ hingegen ist die Bezeichnung für diesen Signifikanten, für das Bezeichnende, den Namen, den Lautkörper, das Schriftbild. Der Relation von Designator und Designat entspricht jene von Designer und Design. „Design“, heute zweifellos ein typischer Ausdruck der postmodernen Wohlstandsgesell-schaft, ist wesentlich dafür zuständig, Produkte zu verkaufen, von denen man bis-lang gar nicht wusste, dass man sie überhaupt haben will. Es macht ein an sich überflüssiges Produkt schmackhaft. Statt dessen fordert das an der Universität Flensburg implementierte sozialökologische Projekt des Transformationsdesigns die dafür verantwortlichen Gestalter auf, sich zu fragen, wie man die Welt vom Überfluss befreien und den Ressourcenverbrauch von Rohstoffen und Energie reduzieren kann, zum Beispiel durch Upcycling von entsorgten Gebrauchsgütern. Nicht die Verarbeitung neuer Materialien sollte im Vordergrund stehen, sondern die Weiter- und Umnutzung von alten, die es im Überfluss gibt (vgl. Welzer 2014). Für diese Art von Veränderungen bedarf es soziologischer Phantasie, einer gesell-schaftlichen Vision, nicht nur einer technologischen. Jene, die für Gestaltung zuständig sind, die Architekten, Stadtplaner und Designer, müssen völlig neue Strategien entwickeln. Es geht dabei letztlich um eine kulturelle Veränderung, weg vom Wachstums- und Effizienzdenken, eine Umorientierung, eine Transformation der Öffentlichkeit, um „Designing Public“.

(3) Anm. d. Hrg.: Als Idealstadt wird eine gestalthaft vorgestellte oder gelegentlich gebaute, lange Zeit durch betonte Regelmäßigkeit gekennzeichnete Stadt bezeichnet, die in idealer Weise die materiellen und ideellen, insbesondere auch die ästhetischen Anforderungen erfüllen soll, die aufgrund ihres sozialhistorischen Entwicklungsstandes eine bestimmte Gesellschaft an die Stadt als menschlichen Lebensraum stellt. Zu den gebauten Idealstädten gehören unter anderem das Renaissance-Zentrum von Pienza, die Zentralanlage von Palmanuova bei Venedig, 1593 angeblich nach Plänen von Vincenzo Scamozzi errichtet. Von ihr beeinflusst ist Granmichele, erbaut auf Sizilien gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Die bedeutendste verwirklichte Planung dieser Art ist La Valetta auf Malta.

(4) Anm. d. Hrg.: Im Bereich der Kunst bezeichnet „Fake“ die mimetische Nachah-mung eines Kunstwerkes, die im Gegensatz zur üblichen Fälschung selbst auf ih-ren gefälschten Charakter hinweist. Eine solche Reproduktion wird nicht mehr mo-ralisch als Fälschung verurteilt, sondern als Kritik der Institution „Kunst“ und ihrer Ideologie des Originals betrachtet.

(5) Anm. d. Hrg.: Eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET) ist eine Untersuchung, bei der vom Körper mehrere Schichtbilder erstellt werden, durch die man erfährt, wie aktiv der Stoffwechsel in bestimmten Geweben des Körpers ist.

(6) Anm. d. Hrg.: Ein Trompe-l´œil ist eine illusionistische Malerei, die mittels perspektivischer Darstellung eine dreidimensionale Räumlichkeit vortäuscht.

(7) Anm. d. Hrg.: Barnett Newman (1905-1970) war ein abstrakt-expressionistischer amerikanischer Maler und Bildhauer, der das Colour Field Painting maßgeblich beeinflusste.

(8) Anm. d. Hrg.: Mark Rothko (1903-1970) war ein lettisch-amerikanischer Maler des Abstrakten Expressionismus.

(9) Anm. d. Hrg.: Rudolf Carnap (1891-1970) war ein deutsch-amerikanischer Vertreter des logischen Empirismus. Die Hauptaufgabe der Philosophie bestand für ihn in der Überwindung der Metaphysik durch die logische Analyse der (Wissenschafts-) Sprache.

(10) Anm. d. Hrg.: Tachismus, auch Art Informel genannt, ist die Bezeichnung für die europäische Ausprägung einer abstrakten Kunstrichtung der späten vierziger und fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich durch ihre eher „lyrische“ Auffassung und weitere Merkmale von der verwandten amerikanischen Richtung des action painting unterscheidet, obwohl es durchaus Parallelen gibt, auch solche in der stark gestischen Mal-Aktion bis zu den „Schaustellungen“ von Spontaneität. Trotz der vorgeblichen Spontaneität des Mal-Aktes als gestischer Ausdruck der unreflektierten Enthüllung innerer Befindlichkeit handelt es sich beim Tachismus, eine Malerei der Flecken (frz. les taches), um kalkulierte Kunstgebilde.

(11) Anm. d. Hrg.: Ergänzend hierzu Brocks Beitrag „Anleitung zur radikalen Selbst-würdigung in Bürgerschulen“ in diesem Band.

(12) Anm. d. Hrg.: An der Karlsruher Hochschule für Gestaltung läuft seit einigen Jahren erfolgreich ein Projekt, im Rahmen dessen man sich in verschiedenen Studiengängen zum Profibürger ausbilden lassen kann, und zwar als Diplom-Bürger, Diplom-Patient oder Diplom-Gläubiger etc. Das Projekt geht zurück auf eine Initiative von Bazon Brock und Peter Sloterdijk. Ausbildungsziel ist der selbstbewusste Bürger, der sich nichts vormachen lässt, der Verantwortung übernimmt und reflektiert handelt. Es ist Teil einer Aufklärungskampagne, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden versucht. In einem Vortrag, der vom Südwestdeutschen Rundfunkt am 05.06.2011 ausgestrahlt wurde, erläuterte Bazon Brock das Konzept, das dem Projekt zugrunde liegt.

(13) Anm. d. Hrg.: Kann das Ausbildungsprojekt zum Profi-Bürger als zeitgemäße pädagogische Form nachkantischer Aufklärung betrachtet werden, so lässt sich, weit darüber hinausgehend, der Vorschlag, Atommüll in den Zentren der Metropolen öffentlich sichtbar zu lagern, unmittelbar als politische Intervention in das Alltagsgeschehen einer Gesellschaft deuten.

(14) Anm. d. Hrg.: Brock spielt darauf an, dass an der Technischen Universität Clausthal ein neuer Studiengang eingerichtet wurde, der sich mit dem „Management radioaktiver und umweltgefährdender Abfälle“ befasst.

(15) Anm. d. Hrg.: Sicherheitseinrichtung in einem Kernkraftwerk.

(16) Anm. d. Hrg.: Brock verweist auf seine Publikation über „Gott und Müll“. In: Kunstforum International, Theorien des Abfalls, Bd. 167, Nov.-Dez. 2003, S. 42 f.; siehe Brock, Bazon: Gott und Müll. In: Ders., 1990, S. 281 ff.

(17) Anm. d. Hrg.: Brock bezieht sich auf folgende zwei Textstellen Don DeLillos: „(…) den giftigsten Müll isolieren, das ja. Dadurch wird er großartiger, bedeutungsvoller, magischer. Aber gewöhnlicher Hausmüll sollte in den Städten, wo er entsteht, gelagert werden. Bringt den Müll an die Öffentlichkeit. Die Leute sollen ihn sehen und respektieren. Versteckt eure Müllanlagen nicht. Baut eine Architektur des Mülls. Entwerft traumhafte Gebäude, um Müll zu recyceln, ladet die Leute ein, ihre eigenen Abfälle zu sammeln und an die Pressrampen und Förderbänder zu bringen. Lerne deinen Müll kennen. Und das heiße Zeug, die chemischen, die atomaren Abfälle werden zu einer fernen Landschaft der Nostalgie. Bustouren und Postkarten, jede Wette.“ DeLillo, Don: Unterwelt. Köln 1998, S. 336; siehe: „Wir entwarfen und betreuten Landaufschüttungen. Wir waren Müllmakler. Wir organisierten Giftmülltransporte über die Weltmeere. Wir waren die Kirchenväter des Mülls in all seinen Wandlungen.“ In: Ebenda, S. 122. DeLillo (geboren 1936) gilt als bedeutendster Autor der amerikanischen Postmoderne. Das von Brock thematisierte Müllmotiv steht im Zentrum seines Romans, der zwischen 1951 und 1992 spielt. Die Hauptfigur ist Angestellter einer Müllfirma, seine Geliebte, eine Künstlerin, verwendet ausrangierte Flugzeuge als Leinwand, und eine weitere Person baut sich aus Abfällen ein Haus.

siehe auch: