Buch Radical Art History.

Internationale Anthologie. Subject O.K. Werckmeister.

Mit Beiträgen in englischer und deutscher Sprache von:
Barbara Abou-El-Haj, Bazon Brock, Ruth Capelle, Karl Clausberg, David Craven, Heinrich Dilly, Gabi Dolff-Bonekämper, Hansdieter Erbsmehl, Andreas Haus, Jutta Held, Klaus Herding, Berthold Hinz, Peter Klein, David Kunzle, Barbara McCloskey, Ernst Mittig, Osamu Okuda, Rudolf Conrad, Norbert Schneider, Dietrich Schubert, Christof Thoenes, Jane Williams und Frank Zöllner.

Erschienen
1996

Herausgeber
Kersten, Wolfgang

Verlag
Zurich InterPublishers Gmb

Erscheinungsort
Zürich, Schweiz

ISBN
390925201X

Umfang
340 Seiten, 200 Abbildungen, 30 cm x 21 cm

Einband
Gebundene Ausgabe

Voran:

„Ich verwende das Wort Zitadelle als Metapher für eine Gesellschaft, deren künstlerische und intellektuelle Erfolgskultur in vollem Wohlstand von nichts als Krisen handelt ... Mit dieser Metapher benenne ich eine ... Kultur der demokratischen Industriegesellschaft in den Jahren 1980 bis 1987, der Zeit ihres größten wirtschaftlichen Erfolges, die die Leiden und Konflikte dieser Gesellschaft schlußlos zur Schau stellte.
Zitadellen waren Festungen, von denen aus Städte ... nach außen gegen die Angriffe von Feinden und nach innen vor dem Aufstand ihrer eigenen Bewohner gesichert wurden ... Heute lese ich ..., das Wort Zitadelle sei im Veralten begriffen ... doch der neue amerikanische Begriff strategic defense initiative besagt dasselbe. Der elektronische Wall ..., von den schärfsten Denkern der Wissenschaft und der Strategie entworfen ..., ist das Projekt einer allumfassenden Zitadelle, in deren strategischer Bestimmung Verteidigung und Angriff sich nicht auseinanderhalten lassen ...
Militärisch ausgerüstete Polizei sichert die Stadien, Messen, Opern und Boulevards, wo die Repräsentanten der Demokratie in Erscheinung treten. Bewaffnete Beamte in Zivil umringen sie, den Sprechfunkknopf im Ohr, den starren Blick hinter Sonnenbrillen in alle Richtungen der Volksversammlungen fixiert ... Die derart inszenierten Aufzüge werden mit demselben Wort begründet wie die militärische Rüstung: Sicherheit – das Schlüsselwort der Zitadellengesellschaft.“

Ich memoriere diese leicht gekürzten Eingangspassagen aus Werckmeisters kulturkritischen Essais, weil sie zeigen, auf welche Schlußfolgerung der Autor von Anfang an zusteuert, nämlich auf eine radikale Historisierung der Gegenwart, wobei „ihr historisches Verständnis zugleich ihre angemessene Kritik wäre“. Denn Werckmeister charakterisiert seinen entscheidenden Vorwand gegen die Zitadellenkultur mit dem etwas konstruierten Begriff „schlußlos“ als Ambivalenz von „endlos fortführen“, „auf Dauer stellen“ sowie „Folgenlosigkeit“ der intellektuellen und künstlerischen Kulturarbeit. Bei der immer erneuten Konfrontation mit dem kritischen Vorwand der Schlußlosigkeit stellt sich der Leser die Frage, welche Schlußfolgerungen Werckmeister sich selber abverlangt. Die Verwendung von Begriff und Sachverhalt „Zitadelle“ ist eben doch mehr als eine Metapher. Sie markiert die historische Distanz, in die Werckmeister die Gegenwart verrückt, um Kritik mit Schlußfolgerung zu ermöglichen.

Unser historisches Denken bildete sich im 14. und 15. Jahrhundert an dem Konzept der Renaissance heraus, d.h. an dem Gedanken, daß Gegenwarten einerseits den Zukünften von Vergangenheiten (der Antike) verpflichtet sind, also die Vergangenheiten vergegenwärtigen; und andererseits dadurch die Gegenwarten als zukünftige Vergangenheiten betrachtet, erfahren und gestaltet werden müssen. Als z.B. Künstler begannen, sub specie ihrer Biografie zu arbeiten, also das jeweils gegenwärtige Schaffen nach zukünftigen Bildern ihres Lebens und Wirkens zu betrachten (wie Vasari sie dann tatsächlich veröffentlichte), waren sie gezwungen, historisch zu denken. In diesem Historisieren vergegenwärtigten sie die Zukunft als Gegenwart. Diesen Zusammenhang des Entwurfs geschichtlicher Zeitlichkeit, der Vergangenheit und Zukunft als reale Größen jeder Gegenwart ins Spiel bringt, anstatt sie als fernes Einstmals oder Dereinst spekulativem Mutwillen zu überlassen, kennzeichnet der Begriff der Utopie, woraus sich die enge Koppelung von historischem und utopischem Denken ergab. Wenn Werckmeister mit staunenswerter Unbeirrbarkeit den „Arbeitsperspektiven marxistischer Kunstgeschichte“ verpflichtet blieb und bleibt, ist das meiner Ansicht und meinem Denken nach eben dieser spezifischen Orientierung auf Historisierung und Kritik der Utopie geschuldet; die in der Utopie vergegenwärtigte Zukunft begründet die Kritik der Gegenwart. Zugleich kritisiert sie ein utopistisches Verständnis der Zukunft, die keinerlei verpflichtenden Bezug auf das gegenwärtige Leben und Handeln haben soll.

Werckmeisters eingeforderte Schlußfolgerungen gelten der Frage, wie kulturelle Arbeit gesellschaftlich wirksam werden kann (eben als notwendige Vergegenwärtigung der Zukunft), wenn sie auch „keine unerfüllbaren Ansprüche auf Allgemeingültigkeit erhebt, sondern ihrer Subjektivität gewiß ist, d.h.: klarstellt, für wen und zu wem sie spricht.“ Daraus ergibt sich vorab die bemerkenswerte Auffassung, daß ein Wirksamwerden mit Schlußfolgerungen durch Verzicht auf Allgemeingültigkeit der Wirkungsansprüche zugunsten individueller Verantwortlichkeit konkreter, also eingeschränkter Wirkungsansprüche der Künstler und Intellektuellen möglich wird. Darin wäre auch der Weg aus der bloßen Ästhetisierung der Gegebenheiten in der Zitadelle angezeigt. Denn Werckmeister beschreibt die Zitadellenkultur aus der vermeintlich unauflösbaren Paradoxie von glanzvoller Inszenierung des Elends und Leidens und der Stabilisierung der Verhältnisse in der Zitadelle durch diese demonstrativen Akte der Selbstanklage. (Der Intellektuelle Peter Stein soll sich sogar dazu verstiegen haben, von Mailänder Nobeldesignern für exorbitante Summen jene Lumpenkostüme zu beziehen, mit denen er in seinen Berliner Inszenierungen die Verelendung der Massen im Kapitalismus zur Schau stellte.)

„Ästhetischer Jammer und politische Apathie steigern und bedingen einander, stoische Verinnerlichung wird extrovertiert zur kulturellen Massenempfindung. Daß sich Probleme nicht lösen lassen, sondern nur ausgedrückt, erörtert und ertragen werden können, ist die ständig wiederholte Botschaft der Zitadellenkultur. Ihr strahlender Pessimismus läßt die unablässigen Beteuerungen der öffentlichen Politik, daß wir in entscheidenden Veränderungen begriffen sind oder solche vornehmen müssen, weniger glaubwürdig und damit erträglicher klingen.“

Ganz ähnlich verstanden wir in den 60er Jahren Herbert Marcuses Erörterungen über repressive Toleranz und affirmative Kultur. Ich glaubte damals, diesen Einwänden entgehen zu können, indem ich mich auf die Strategie der negativen Affirmation kaprizierte, das hieß, einen Aussagenanspruch gerade nicht zu kritisieren, sondern zu totalisieren, wodurch er sich notwendig selbst aufhebt. Die Kampagnen „Dienst nach Vorschrift“ oder „Selbstanzeige gemäß StGB Paragraph 218“ und ähnliche ließen die Strategie erfolgreich erscheinen. Bezweifelbar wurde sie etwa durch die Reaktionen auf Klaus Staecks Kampagne „Arbeiter, die SPD will Euch Eure Villen im Tessin wegnehmen“ oder auf die Entwicklungshilfekampagne für mehr goldene Badewannen in Zentralafrika. Auch meinen Vorschlägen, Historisierung durch „Pompejanisierung“ unseres Blicks auf die Gegenwart voranzutreiben (also durch unsere Großstädte zu schreiten wie durch die Ausgrabungen von Pompeji), schien durch immer weitergehende Musealisierung der Kultur entsprochen zu werden (Museumsboom, Kulturtourismus).

Werckmeister macht nun darauf aufmerksam, daß sich die Zitadelle gegen die Erfüllung der von ihr geweckten Erwartungen abschottet, ohne den universalen Anspruch auf Erfüllung aufzugeben. Die Zitadelle markiert die Differenz zwischen Propagierung der Ansprüche in der exklusiven Außenwelt und ihrer Erledigung für diejenigen, die sie einschließt, weil zur Zitadelle zu gehören bereits die Erfüllung aller Wünsche nach Sicherheit und Stabilität biete. Auf diesen Sachverhalt richtet sich die Feststellung, die Zitadellenkultur wiederhole ständig die Botschaft, Probleme ließen sich nicht lösen, sondern nur aushalten. Der Sache nach lassen sich Probleme ja tatsächlich nur lösen, indem man die durch die Lösung entstandenen neuen Probleme auszuhalten oder zu akzeptieren bereit ist. Deswegen spricht Werckmeister zugleich von dem „Muster der Wechselbewegung zwischen Krisen und Lösungsvorschlägen, das in der Zitadellenkultur üblich ist“. So ist in der Tat das Problem der Problemlösungen, die immer zu neuen Problemen führen werden, zu unterscheiden von einzelnen konkreten Problemlösungen. Die historisierte Utopie ist auf diesen Zusammenhang ausgerichtet. Die Zitadellenkultur glaubt, ihn umgehen zu können, indem sie die prinzipielle Unlösbarkeit von Problemen der exklusiven Außenwelt vorbehält, für sich aber den Fortschritt im Zirkel der problemschaffenden Problemlösungen fortsetzt und mit dem Hinweis auf die damit verbundenen Risiken ihre Mitglieder konsensfähig erhalten will. Dem dient nach Werckmeister die ständige Beschwörung der Krisenhaftigkeit, und sie erklärt zugleich, daß die Zitadellengesellschaft in dem Maße zur Risikogesellschaft wird, in dem sie konkrete Einzellösungen ihrer Probleme realisiert. Je mehr Wohlstand nach innen, je mehr Sicherheit und Kalkulierbarkeit der Verhältnisse, desto unmittelbarer werden diese Befriedungsmaßnahmen als krisenhaft und risikosteigernd erlebt. Das entspricht der Logik des Entschlusses, nach innen möglichst alle Probleme zu lösen um den Preis der Entstehung neuer Probleme und sie zugleich als Bedrohung aus der exklusiven Welt zu bewerten, denn für die gilt ja ebenso logisch und richtig die grundsätzliche Aporie der Problemlösung für die Welt als ganzer und im allgemeinen unter Ausschluß der kleinen, autonom behaupteten Zitadellen. Der Welt als ganzer ist nicht zu helfen, umso radikaler versucht man, die eigene kleine Zitadelle zu verteidigen. Mir schien es bisher schlagkräftiger zu sein, diesen Vorgang als umgekehrte Ghettoisierung, als Ghettoisierung der wohlhabenden, mächtigen Individuen, Gruppen und Gesellschaften zu kennzeichnen, wofür die elektronische Technologie die zeitgemäßen Mittel zur Verfügung stellt. Mir scheint heute Werckmeisters Begriff der Zitadelle angemessener zu sein, weil in ihm die Historisierung der Gegenwart zwingender angesprochen wird, vor allem aber in der experimentellen Geschichtsschreibung unserer Gegenwart Erörterungen und Bewertungen unserer Perspektiven deutlicher möglich werden.

Auch die historische Fortifikationstechnologie hob sich schließlich selber auf. An diesem Beispiel wäre zu erörtern, wie sich unsere elektronische Technologie auf Konzeption und Behauptung der Zitadellen auswirken wird, wenn sie zwar einerseits die zeitgemäße Fortifikation in allen Lebensbereichen der Zitadelle ermöglicht, andererseits aber mit ihrer universellen Verbreitung zugleich die potentielle Zerstörung der Zitadelle darstellt. Hat man, wie auf den ersten Blick wahrscheinlich, mit immer weiterem Rückzug von immer mehr Gesellschaften in Zitadellen zu rechnen oder wird das Konzept der Zitadelle immer unangemessener? Gegenwärtig jedenfalls proklamiert man nach außen prinzipielle Offenheit (des Handels, der Kommunikation und Niederlassung von Menschen) bei gleichzeitiger verschärfter Kontrolle des Zugangs zu den Zitadellen. Das wird getarnt durch die quasinatürliche Unsichtbarkeit der elektronischen Mauern und Barrieren. Sie einzureißen, also die Zustände innerhalb und außerhalb der Zitadelle einander anzugleichen, ist eine typische Form der schlußlosen Selbstthematisierung in den Zitadellen, denn diejenigen, die von außen in sie eindringen wollen, tun das ja gerade in dem Wunsch, an den internen Verhältnissen zu partizipieren.

Werckmeister geht es in erster Linie um die Rolle der Kulturaktivisten in diesen Prozessen. Was er ihnen kritisch vorhält, ist das Beharren auf dem Primat der Kultur. „Daß die unbeirrt oppositionelle Selbstdarstellung der Kultur mittlerweile von konservativen Instanzen im Namen des Meinungspluralismus bedenkenlos gefördert wird, hat sie über ihre politische Bedeutungslosigkeit nicht aufklären können.“ Ich verstehe die radikale Historisierung der Kultur der Gegenwart als Aufforderung, sich aus der Rolle der kulturellen Überbauarchitekten wenigstens dem Ansatz nach zu verabschieden, d.h. aus „überheblichen Illusionen, die ohnehin nur falschen Widerlegungen ausgesetzt sind“. Es ist doch bezeichnend, daß bisher niemand eine Zitadellenzivilisation oder Ghettozivilisation konstatierte oder eine Multizivilisation im Unterschied zur Multikultur, die ja faktisch die offiziöse Ideologie der Zitadellenkultur ausmacht, obwohl sie möglicherweise bei einzelnen Autoren eigentlich als vereinheitlichende Zivilisierung der Welt gemeint war. Ebensowenig wie man die Alphabetisierung, die reproduktiven Technologien und andere Errungenschaften einzelnen historischen Kulturen zuschlagen konnte, wenn sie sie auch hervorbrachten, so lassen sich die neuen universellen Medien nicht auf ihre Kulturbrauchbarkeit einschränken. Aus dem Wirkungsanspruch der Alphabetisierten ergab sich ein allgemeines Alphabetisierungsprogramm, das zwangsläufig die Grenzen einzelner Kulturen überstieg. Ihr Wirkungsfeld waren damit nicht mehr die einzelnen Zitadellenkulturen, sondern der zivilisatorische Raum, das Imperium und das sacerdotium, denn selbst der katholikos und dessen Parallelen im Islam, im konfuzianischen Buddhismus und Hinduismus waren schon nicht mehr auf autonome Kulturen beschränkt. Jede Universalität muß man deshalb in kulturübergreifender Zivilisation gestützt sehen – sei sie nun programmatisch, wie etwa in den Menschenrechten oder faktisch, wie in der weltweiten Verbreitung von Waren und Technologien vorgegeben.