Buch Der Barbar als Kulturheld

Bazon Brock III: gesammelte Schriften 1991–2002, Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist

Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.
Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.

„In Deutschland gehört zu den wichtigsten Aktivisten auf diesem Feld (der Massentherapie) gegenwärtig der Performance-Philosoph Bazon Brock, der nicht nur eine weit gestreute interventionistische Praxis aufweisen kann, sondern auch über eine ausgearbeitete Theorie des symbolischen Eingriffs verfügt.“ Peter Sloterdijk in Die Verachtung der Massen, Frankfurt am Main, 2000, Seite 64

„Mit welchem Gleichmut Brock das Zähnefletschen der Wadenbeißer ertrug, die ihm seinen Erfolg als Generalist verübelten ... Bazon Brock wurde zu einer Symbolfigur des 20. Jahrhunderts, von vielen als intellektueller Hochstapler zur Seite geschoben und von einigen als Poet und Philosoph verehrt ... Er konnte wohl nur den Fehler begehen, sein geniales Umfassen der Welt nicht nur zu demonstrieren, sondern es lauthals den anderen als eine legitime Existenzform vorleben zu wollen.“ Heinrich Klotz in Weitergeben – Erinnerungen, Köln 1999, Seite 107 ff.

Sandra Maischberger verehrt Bazon Brock wie eine Jüngerin. Denn täglich, wenn es Abend werden will, bittet sie mehrfach inständig: „Bleiben Sie bei uns“ und sieht dabei direkt dem n-tv-Zuschauer Brock ins Auge. Also gut denn: „solange ich hier bin, stirbt keiner“, versicherte Bazon schon 1966 auf der Kammerspielbühne Frankfurt am Main. Erwiesenermaßen hielt er das Versprechen, weil ihm sein Publikum tatsächlich vorbehaltlos glaubte. „Dies Ihnen zum Beispiel für den Lohn der Angst Sandra, bleiben Sie bei uns“.

Bazon Brock hat in den vergangenen Jahrzehnten mit Schriften, Ausstellungen, Filmen, Theorieperformances /action teachings die Barbaren als Kulturhelden der Moderne aller Lebensbereiche aufgespürt. In den achtziger Jahren prognostizierte er die Herrschaft der Gottsucherbanden, der Fundamentalisten in Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Ihnen setzte Brock das Programm Zivilisierung der Kulturen entgegen.

Gegen die Heilsversprecher entwickelte er eine Strategie der Selbstfesselung und die Ästhetik des Unterlassens mit dem zentralen Theorem des verbotenen Ernstfalls. Das führt zu einer neuen Geschichtsschreibung, in der auch das zum Ereignis wird, was nicht geschieht, weil man es erfolgreich verhinderte oder zu unterlassen vermochte.

1987 rief Brock in der Universität Wuppertal die Nation der Toten aus, die größte Nation auf Erden, in deren Namen er den Widerruf des 20. Jahrhunderts als experimentelle Geschichtsschreibung betreibt.

Protestanten wissen, es kommt nicht auf gute und vollendete Werke an, sondern auf die Gnade des Himmels. Deswegen etablierte sich Brock von vornherein, seit 1957 als einer der ersten Künstler ohne Werk, aber mit bewegenden Visionen, die von vielen
übernommen wurden; z.B. „Ich inszeniere Ihr Leben – Lebenskunstwerk“ (1967), „Die neuen Bilderkriege – nicht nur sauber, sondern rein“ (1972), „Ästhetik in der Alltagswelt“ (1972), „Zeig Dein liebstes Gut“ (1977), „Berlin – das Troja unseres Lebens und forum germanorum“ (1981), „Wir wollen Gott und damit basta“ (1984), „Kathedralen für den Müll“ (1985), „Kultur diesseits des Ernstfalls“ (1987), „Wir geben das Leben dem Kosmos zurück“ (1991), „Kultur und Strategie, Kunst und Krieg“ (1997). „Hominisierung vor Humanisierung“ (1996), „Moderator, Radikator, Navigator – die Geschichte des Steuerungswissens“ (1996).

Deutsch sein heißt schuldig sein – Bazon versucht seine schwere Entdeutschung mit allen Mitteln in bisher mehr als 1.600 Veranstaltungen von Japan über die USA und Europa nach Israel. Gegen den dabei entstandenen Bekenntnisekel beschloß jetzt der Emeritus und elder stageman des Theorietheaters, sein Leben als Wundergreis zu führen, da Wunderkind zu sein ihm durch Kriegselend, Lagerhaft und Flüchtlingsschicksal verwehrt wurde.

Ewigkeitssuppe | 850.000 Liter des Tänzerurins | im Tiergarten, die wurden Blütenpracht. | Er sah die Toten der Commune in Pappschachteln | gestapelte Puppenkartons im Spielzeugladen. | Die schrieben Poesie des Todes, Wiederholung, Wiederholen. | Dann träumte er vom Kochen mit geheimen Mitteln | Zwerglute, Maulkat, Hebenstreu und unverderblich Triomphen. | Das war gute Mahlzeit des lachenden Chirurgen, | der ihn bis auf die Knochen blamierte.

Die Herausgeberin Anna Zika ist Professorin für Theorie der Gestaltung, FH Bielefeld. Von 1996 bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin um Lehrstuhl für Ästhetik, FB 5, Universität Wuppertal.

Die Gestalterin Gertrud Nolte führt ihre – botschaft für visuelle kommunikation und beratung – in Düsseldorf. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für Graphikdesign und Buchgestaltung

Noch lieferbare Veröffentlichungen von Bazon Brock im DuMont Literatur und Kunst Verlag:

Actionteachingvideo „Wir wollen Gott und damit basta“, 1984;

„Die Macht des Alters“, 1998;

„Die Welt zu Deinen Füßen – den Boden im Blick“, 1999;

„Lock Buch Bazon Brock“, 2000.

Erschienen
01.01.2002

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Zika, Anna

Verlag
DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-8321-7149-5

Umfang
953 S.: Ill.; 25 cm

Einband
Gebunden

Seite 371 im Original

III.27 Humanistischer Schadenzauber

Ein Gespräch mit S. D. Sauerbier

Es gibt sicherlich Wichtigeres als Kunst. Kunst ist nicht alles, aber ohne Kunst ist alles nichts. Gucken wir aber mal über den Tellerrand hinaus. Was sind die Kunstfehler in der heutigen aktuellen Kunst?

Das kann ja nur heißen: Was läßt die Kunst heute so unerheblich erscheinen, bedeutungslos? Es ist ja die Frage, ob es an der Kunst liegt, daß sie eine geringere Rolle spielt als beispielsweise noch Anfang der 80er Jahre, oder ob nicht die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen dieses Abschwächen der Bedeutung erzwungen haben. Die Künstler selber haben sich in den 80er Jahren durch die vollständige Orientierung auf Kunstmarktproduktion einem Großteil des Publikums unerheblich gemacht, nämlich für das Publikum, das Rezeption nicht über Kaufen betreibt, sondern über Argumentieren.

Hast Du nicht selber mal gesagt: Die einzige Aneignungsform im Kapitalismus ist, Kunst zu kaufen? Um 1968 hatte ich den Eindruck, Kunst ist überflüssig geworden, weil unmittelbar Wirklichkeit. Haben wir heute womöglich gar keine Kunst mehr, sondern nur mehr Handelsware?

Ich habe gesagt, daß die großen Käufer sich mit dem Kaufen die Argumentation ersparen. Das heißt: Wer kauft, hat Recht. „Reden Sie nicht lange,“ hieß es, „kaufen Sie oder kaufen Sie nicht?“ Und wenn Du gekauft hast, warst Du für die Galeristen ein seriöser Partner, ansonsten konntest Du so gescheit daherreden, wie Du wolltest, sie haben darauf überhaupt keine Rücksicht genommen. Nach der wirtschaftlichen Rezession ist die Aneignung eben nicht mehr so ohne weiteres über Kauf möglich.

Auch thematisch?

Das spielte erst mal keine Rolle.

Mit der Commodity Art in die Rezession?

Ich glaube nicht, daß die wirtschaftlichen Auswirkungen in diesen Bereich gehen. Erstens hat sich der Markt verändert. Zweitens sind aber die Künstler in ihrer Art der Reaktion auf den Markt nur noch auf die Linie des Kommerzes eingegangen. Viele haben Kunst für den Bunker bei der Bank gemacht. In der Öffentlichkeit hat sich ein anderes Interesse gebildet, weil immer neue Rekordmeldungen über Absatz und Einzelpreise verbreitet wurden. Daran knüpfte sich das Interesse der Allgemeinheit.

„All is right – nothing left?“ Nur linke Hunde, nichts Rechtes mehr? Was ist Deine Auffassung von „rechts“ in unserer Kultur? Und was ist Deine Auffassung von „reaktionär“?

Rechts und reaktionär ist heute, was auf kultureller, regionaler Autonomie, auf kultureller Einmaligkeit und Eigenständigkeit, auf unserem eigenen Kulturmuster von Volkstanz, Batiken, Kuchenförmchenbacken und Blumenarrangements besteht. Und links ist im Sinne dieser Ableitung alles, was universalistisch, generalistisch ist, was also einen Verhaltenskanon für das Zusammenleben der Menschen aufstellt, dem sich alle zu unterwerfen haben – gleichgültig aus welcher Region oder welcher Kultur sie kommen: das bedeutet, keinen Einspruch von seiten der kulturellen Herkunft, der Religion, der gesellschaftlichen Identitäten erheben zu dürfen. Zivilisatorische Standards haben universell zu gelten.

Wohingegen als rechts und reaktionär sich alles das zerstörerisch auswirkt wie in Jugoslawien, Aserbeidschan usw. Rechts und reaktionär ist, was auf der eigenen kulturellen Einmaligkeit des historischen Gewordenseins, der Sprachgemeinschaft, der Erziehungs-, Hüpf- und Tanzgemeinschaft besteht.

Beziehen wir uns auf einen engeren Bereich von Literatur, etwa auf einen Autor wie Ernst Jünger – „In Stahlgewittern“. Würde eine solche Figur heutzutage reüssieren?

Die haben, von Paul Anton de Lagarde angefangen bis zu Ernst Jünger, allesamt Konjunktur, das ist heute aber auf die Ebene des Fernsehens gerutscht. Der „Stahlgewitter“-Jünger von heute ist der Rambo der Fernsehkultur. Und die Kulturheroen à la Lagarde und der Rembrandt-Deutsche, das sind eben die in den Familienserien auftretenden Menschen mit etwas beschränktem Horizont, es ist das Syndrom des deutschen Schäferhundes …

… des Forstarztes …

… des mißlichen kleinbürgerlichen Wandlungstyps des Deutschen. Den gab’s ja auch in einer anderen Version, sagen wir als Goetheschen Weltbürger. Aber eben mit Verpflichtung: Da mußte man was lernen, sich was aneignen und zivilisatorisches Verhalten trainieren … Auf der Ebene des Fernsehens kann man heute die Typologie der deutschen Kultur- und Kunstgeschichte zwischen Bismarcks Reichsgründung und 1960 sehen. Das ist alles in die Fernseh-Bildergeschichte umgewandelt worden – als sei es von Hollywood bis Eskimonien überall das gleiche … Wo der ganze Idiotenkram beginnt – vielleicht sogar schon 1806 – „Wenn das Franzosenblut vom Messer spritzt …“ Jene in Deutschland ausgefochtenen Auseinandersetzungen sind heute weltweite Auseinandersetzungen.

Wie könnte Verherrlichung von Gewalt zum Gegenstand in der Kunst gemacht werden? Siehst Du eine Chance, in der Kunst Sozialforschung über Verherrlichung von Gewalt zu betreiben?

Das muß die Kunstkritik selber machen.

Verherrlichung von Gewalt gehört heute zur ästhetischen Praxis. Welche Lehren können wir für die politische Praxis ziehen?

Die Aufklärung der Künstler über sich selbst. Die Künstler müßten für eine lange Zeit absehen wollen von der Penetrierung des Marktes als Publizitätsstars. Dann wären sie glaubhaft, wenn sie deklarierten: „Kommen Sie zu uns! Bei uns passiert absolut nichts. Sie werden völlig ungestört in einem Warteraum sitzengelassen. Ab und zu rufen wir Ihnen eine Metapher zu. Wir geben Ihnen noch einen tiefsinnigen Spruch, mit dem Sie bis an Ihr Lebensende denken können …“

So hätten die Künstler eine Chance, sich sowohl aufklärerisch als auch in der Wahrnehmbarkeit vom Markt zu unterscheiden. Solange sie aber herumhecheln, um in die Programme zu kommen, ist mit der Kunst keine Aufklärung über Verherrlichung von Gewalt zu betreiben.

Boecker und Niedecken haben für hundert Leute deren Wunschbilder gemalt. Von den Malern habe ich mir das Signet der BILD-Zeitung in der Manier Lovis Corinths als Wunschbild malen lassen. Würde es heute für Dich einen Sinn machen, Dir eine Reichskriegsflagge als Sujet der Sozialforschung malen zu lassen?

Diese Formen von halbherzigen Affirmationen ohne Übertreibung, ohne Umkippeffekt, die nutzen wenig – eigentlich nur den Intellektuellen, die es ohnehin schon wissen, aber auch auf eine größere Öffentlichkeit kann man mit solchen Mätzchen nicht mehr wirken.

Koketterie mit Faschismus war in der Kunst der 70er und der 80er Jahre zu beobachten, zumindest mit faschistischen Symbolen. Eine ästhetische Strategie, die von Tabus zehrte.

Es war, als Syberberg seinen Hitler-Film machte, ausgesprochen wichtig, daß die Künstler sich der im Rest der Gesellschaft tabuisierten Themen annahmen. Es war aber auch in den offensiveren Formen außerordentlich wichtig, weil klar wurde, daß die Art von Wahnsinn, die wir mit dem Faschismus verbinden, keineswegs von Nationalsozialisten erfunden war. Wir sind den Irrsinn nicht los, indem wir ihn als Nationalsozialismus stigmatisieren.

Wolf Jobst Siedler hat darauf hingewiesen, insbesondere was das Skulpturenprogramm im Berliner Olympiastadion und im Pariser Trocadero angeht.

Bedeutsam ist, daß die deutsche Tragödie nicht auf die Periode von 1933 bis 1945 beschränkt werden kann. Insofern war die Auseinandersetzung der Künstler im bloßen Herbeizitieren des Tabuisierten außerordentlich wichtig.

Soll man Immendorff, den Stalin-Maler, und Lüpertz, den Westwall- und Stahlhelmemaler, etwa bewundern? Ich kann die Großmäuler nicht mal ernst nehmen.

Gegenwärtig ist die bedeutsamste Form der Auseinandersetzung die, den linken Zeitgenossen, den selbsternannten Humanisten, nicht mehr die Möglichkeit zu lassen, alles, was ihnen nicht paßt, als faschistisch zu stigmatisieren, statt zu erkennen, daß sie selber Träger solcher Ideologien sind. Beispielsweise in der typischen Art, sich selbst für humanistisch zu erklären und die anderen für Rassisten.

Das ist die Umkehrung des Motivs von Rassismus im Dritten Reich.

Gib uns bitte ein anschauliches Exempel in der Kunstproduktion!

In der Kunst muß man jemanden wie Hrdlitschka als einen Mann sehen, der mit seiner Art von sozialistischer, realistischer Haltung genau in das verfällt, was er seinen angeblichen Gegnern auf der faschistischen Kunst-Praxis-Ebene von Breker vorwirft.

1964 hast Du am 20. Juli in Aachen im Kopfstand Goebbels’ Sportpalast-Rede rezitiert. Könntest Du Dir heute eine solche Rezitation vorstellen?

Ich wollte das eigentlich zum 40-Jahr-Jubiläum in der Wuppertaler Stadthalle wiederholen. Da wurde mir gesagt, das sei zu gefährlich, weil heute Menschen glauben könnten, man führte das Ding huldigend vor. Als ich damals in Aachen die Rede vorführte, ging es um den Passus „Wollt Ihr ...“, und zwar nicht „... den totalen Krieg“, sondern „die totale Kunst?“.

Meintest Du mit der „totalen Kunst“ als Inszenierung das Totaltheater der Reichsparteitage?

Die totale Kunst war die Unterwerfung des Lebens unter den Anspruch, den Literaten und andere Humanitätsfaxe sich für die Menschheit ausgedacht hatten, nämlich die Unterwerfung unter ein Schönheits- und Gemeinschaftsprogramm, ein Kunstherrschaftsprogramm à la Platon. Denn der totale Krieg ist nichts anderes als die totale Philosophie, die totale Kunst …

Mir ging es darum zu zeigen, daß der totale Krieg das gleiche ist wie die platonische, totale Philosophie als Staatsherrschaft oder die Vorstellung von Joseph Beuys von der Umwandlung der Gesellschaft. Wenn Beuys das gesamte Leben der Gesellschaft …

… als soziale Plastik? …

… total bestimmt hätte oder wenn Jesus Christus die Gelegenheit gehabt hätte, seine Art von Nächstenliebe als totales System der Sozialpraxis durchzusetzen, wäre auch ein KZ herausgekommen.

Im Hinblick auf die Grundfrage erörtere ich immer wieder folgendes: Was passiert eigentlich mit Ideen, mit Erfindungen des menschlichen Setzungsvermögens, der Fantasie, des Denkens, wenn man diese geistigen Produkte als Handlungsanleitungen benutzt etc.? Das Fazit lautet einfach: Jeder, der ein noch so gutes und humanitäres Programm hundertprozentig in die soziale Realität überführt, landet da bei irgendeiner Form von Totalitarismus.

Ich saß mal auf dem Ku’damm in Berlin in einem Theatersessel – „Das Theater ist auf der Straße“ hatte Bazon Brock verkündet. Wenn man heute in einem Theatersessel am Ku’damm säße und es zöge zufällig eine Rudolf-Heß-Gedenkdemonstration vorbei – würdest Du die auch als Teil von „Theater auf der Straße“ akzeptieren?

Es sollte ja erreicht werden, daß das normale Publikum …

… wir waren alle keine „Normalen“ …

… sich selber zu den Hauptakteuren macht und nicht ins Theater geht und sich dort Shakespeare vorführen läßt, was ein großes, bedeutendes Leben ist, was ein effektives Handeln, was ein Durchsetzen von Willen sein soll, sondern das sollten sie selber machen. Der Zuschauerraum sollte zur eigentlichen Aktionsbühne werden, denn das Theater ist ja nur sinnvoll im Hinblick auf die Zuschauer.

Wahrnehmen ist Handlung und nicht Erleiden, selbst wenn es Passion ist.

Ja! Das Publikum mußte lernen, sich selbst in der Rolle der Akteure zu sehen. Und wo ist so etwas besser möglich als auf der Straße?! Da ist jeder in der Rolle, die er auch tatsächlich spielt.

Sind aber theatrale und soziale Rolle nicht different?

Nun mußte man es nur dazu bringen, das, was täglich sich ereignet, mit den Augen zu sehen, wie ein Dramatiker eine extreme Ausnahmesituation à la Shakespeare darstellt. Es mußte erreicht werden, daß man das tägliche Leben als Drama sah.

In Berlin war um 1968 eine Diskussion mit Dir, und Du sagtest zu den Studenten: „Bitte weisen Sie mir eine Rolle zu!“ Man war dazu nicht in der Lage. Jemand schrie: „Wir müssen ihn jetzt endlich festnageln!“ Und Du sagtest: „Ich beantrage, daß Brock sofort gekreuzigt wird.“

Wenn heute eine Rudolf-Heß-Demonstration durch die Straßen marschierte, wäre es in der Tat wichtig, sie so zu betrachten wie Shakespeares Titus Andronicus: Als etwas, das sich der Bedeutung nach auf Dezennien auswirken kann. Wenn man sie als theatralische Demonstration ansieht, gewinnt sie an Bedeutung und Sichtbarkeit. Normalerweise würde einer auf der Straße sagen: „Naja, diese Idioten demonstrieren da. Laß sie doch. Die Schwachsinnigen sterben nie aus.“ Wenn man sie aber wirklich wie eine inszenierte Großkampagne der Konstellation von Parteiungen oder Nationalstaaten sieht, mißt man dem eine andere Bedeutung zu, und man betrachtet die Leute ganz anders. Plötzlich merkt man, daß zu der Art, wie sie gehen, auch ein Gesichtsausdruck, ein Kostüm, eine Haltung, meinetwegen auch ein Haarschnitt gehört, daß das wirklich eine Art von Aktionstypus geworden ist, der nicht zufällig auftritt. Es gibt bestimmte Alltagserscheinungen die sind nicht als etwas über den Tag hinaus Bedeutsames zu erkennen, wenn nicht mit den Augen des geschulten Theaterbesuchers oder Romanlesers.

Wäre das denn der Verfremdungseffekt – auf das Alltagstheater bezogen?

Nein. Es ist gerade kein Verfremdungs-, sondern es ist ein Enthüllungseffekt. Was einem im normalen Alltagsleben entgeht – es ist ja nicht komprimiert auf drei, vier Stunden –: das Sehen von Zusammenhängen … In einem bestimmten Augenblick muß man sie so wahrnehmen, daß sich darin das Ganze verdichtet, der Zusammenhang sichtbar wird. Das gilt für alle politische Wahrnehmbarkeit. Man schätzt einen Minister oder Kanzler ein. Da kann man ja auch nicht sagen: Jetzt warte ich erst mal zehn Jahre ab, sondern geschult mit den Augen des Film- oder Theaterbetrachters oder Literaturlesers interpretiere ich in dem Moment, wo ich ihn sehe, alles an ihm.

Wahrnehmen ist also Interpretieren.

Ich interpretiere oder fasse zusammen oder verknüpfe mit anderem. Bei jener Heß-Demonstration kann ich dann sagen: Es ist keine Zufälligkeit, daß Menschen hier in einer komischen Formation antreten, sondern das ist die große Regie der deutschen Geschichte, die hier eine Art von sichtbar werdender Manifestation zustande bringt.

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt darauf an, sie zu verändern!“ sagte Marx. Adorno setzte dem entgegen: „IG Farben und Krupp haben die Welt verändert. Es kommt darauf an, sie zu interpretieren!“ Würdest Du heute die Adornosche Auffassung eher unterschreiben als die Marxsche?

Aber selbstverständlich!

Und wie würdest Du sie in Bezug auf praktische Konsequenzen ausdeuten?

In Bezug auf praktische Konsequenzen muß man die Erscheinung der Welt überhaupt in irgendeiner Hinsicht für bedeutsam halten können. Was unsere Zeitgenossen auszeichnet, ist ja, daß sie überhaupt nichts mehr für bedeutsam halten, insbesondere weil ihnen das Großartige in negativer Hinsicht ununterbrochen um die Ohren gehauen wird, jeden Tag eine Flugzeugkatastrophe, jeden Tag aufgeschlitzte Leiber, jeden Tag eine erschütternde Entscheidung im Bereich der Medizin oder der Gesetzgebung für Finanzen … Da wird alles in gleichgültiger Weise unbedeutend. Das Problem für die Zeitgenossen ist, überhaupt noch interpretieren, verstehen zu können.

Kunst ist Interpretation von Kultur – ich meine: auch von Unkultur. Wie kann Kunst heute Unkultur interpretieren?

Das ist die Anleitungsaufgabe von Theater und Literatur, wie man noch aus der kleinsten Unerheblichkeit etwas machen, aus dem vermeintlich Ununterschiedenen eine Unterscheidung und damit eine Bedeutung ableiten kann. Insofern ist die Aufgabe der Philosophen tatsächlich zu demonstrieren, wie das, was in der Welt gegeben ist, Bedeutsamkeit für den Beobachter haben kann.

Was ist die praktische Konsequenz für Dich selbst?

Daß ich beispielsweise nicht darauf angewiesen bin, mir jeden Tag irgendein neues Reizmittel zuzuführen in Gestalt von Bildern, Texten oder Konsumartikeln. Praktisches Beispiel ist auch, daß ich in der Lage bin stillzusitzen, daß ich den Aktionsradius nicht wie bei der Freizeitanlage nach Metern oder Kilometern messen muß, indem ich mit den Skiern durch die Berge ziehe, sondern ich kann das wie der Kierkegaardsche Zögling auch in der Fantasie im Zimmer machen. Das ist das allerpraktischste Beispiel, denn in Zukunft kann es nicht Millionen oder Milliarden gestattet sein, ihr Bedeutsammachen der Welt als Skilauf oder Autorennen durchzusetzen. Wir können uns das in der Vorstellung, in der Interpretation, im Verstehensakt interessant machen und müssen’s nicht in der faktischen Veränderung – etwa alle Berge zu Skiabhängen.

Zu Fragen der Interpretation. Kann man sagen, Kunst sei Symptomkunde? Nebenbei gesagt: Symptomkunde wurde früher Semiotik genannt.

Ich glaube nicht, daß die Künstler durch irgendwelche erhöhte Sensibilität früher als andere merken, wohin der Zeitgeist weht, auch nicht, daß die Avantgarde im Sinne des Vorauserspürens oder des Zusammenstückelns von Symptomen zu einem Krankheitsbild besser geschult ist als die Experten im konkreten. Sondern umgekehrt: Die Künste wirken durch ihre Fähigkeit, das Interesse auf Probleme der Menschen zu lenken. Sie erfinden sozusagen Themen, sie fesseln die Aufmerksamkeit, indem sie die Welt als problematisch darstellen. Auch wenn es die Erscheinung als Einzelsymptom für etwas Konkretes gar nicht gibt – man muß ja nicht die Symptome danach abschätzen, daß man hinterher das Urteil fällen kann, wie die Krankheit heißt. Es geht eher darum zu sagen: Wie kommt es zu einer solchen Abweichung vom normalen Funktionieren des Körpers?

Sicher sucht man sich seine Sujets nicht von ungefähr aus, sie werden einem aber auch nicht nur diktiert. Die Frage ist ja immer noch die nach der „Dignität des Falles“. Was ist für Dich würdig, Gegenstand zu sein?

Führung durch Thematisierung anstatt Führung durch avantgardistische Vorausahnung.

Alle indexikalischen Zeichen, Anzeichen, vor allem Indizien sind ja erst in Hinsicht auf Ausdeutung relevant.

Wenn man Symptom einfach im Sinne der Auffälligkeit faßt, dann heißt das ja: Jede Erscheinung, die ich wahrnehmen kann, muß irgendeiner Art von Bedeutung zugeordnet werden. Ich lese alles, was ich sehe, als Zeichen.

Darauf wollte ich hinaus.

Dementsprechend muß ich ein darin Bezeichnetes auffinden – da sehe ich nicht die Künste im Vordergrund, sondern ich sehe sie da als diejenigen, die uns lehren können, daß der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem oder zwischen dem, was wir herkömmlich Ausdruck nennen, und dem Ausgedrückten oder dem, was sich in der Welt gegenständlich vorfindet wie Wörter, Bilder usw. und dem, was wir dabei denken, fühlen, uns vorstellen, ein ganz anderer ist als der eines identischen Symptoms. Ich gehe ja davon aus, daß das Ästhetische gerade die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem ausmacht und nicht die Identität.

Wie steht es da mit der Indifferenz im Sinne von Duchamp?

Indifferenz kann es beim Ästhetischen nicht geben, dann wäre man bei der Totalsimulation. Wenn ich indifferent bin, hantiere ich nur noch mit Zeichen, mit Bildern oder Wörtern – egal, was die bedeuten könnten, was sie einem sagen oder wie ein anderer sie lesen könnte. Im übrigen halte ich die Erfindung dieses Totalsimulationsvorwurfs für eine Selbstverherrlichung von Medienherrschern.

Kunst ist Aufhebung von Geschichte: Inwiefern ist Deine Kunst neben Aufbewahrung auch Kritik und Gegenentwurf? Der Individualanarchist Konrad Bayer erwog die Proklamation des Einmannstaates.

Je mehr Museen, desto mehr Gedächtnis, also desto mehr Vergangenheit kann präsent gemacht werden. Musealisierung gilt als Prinzip der Vergegenwärtigung des Vergangenen. Musealisierung ist eine Form, die Dinge im Gedächtnis festzuhalten – gerade nicht nach dem Vorwurf, den die Leute immer äußern: „Im Museum landet das, in der Versenkung, also in der Abgespaltenheit.“ Sondern es ist die Form des Präsenthaltens. Die langsame Selbstmusealisierung unserer Gesellschaft ist wirklich ein Zeichen für ihr Voranschreiten. Deswegen hasse ich all die Leute, die sagen: „Weg mit dem alten Plunder! Raus damit! Etwas Neues! Zerschlagt doch die Verhältnisse!“ Das Neue ergibt sich von alleine aufgrund unserer physiologischen Funktionsweisen. Unser Gehirn legt uns Vergessen selbst nahe, zwingt es uns auf – kollektiv wie individuell.

„Die Vorhut läßt die Krempe sinken“, schrieb Konrad Bayer, ein Pessimist bester Güte. Wo ist heute die politisch-ästhetische Avantgarde? Was heißt „künstlerisch vorn“? Wo ist die ästhetische Front?

Neuheiten im Sinne von Erfindungen zu wollen – das ist immer verbunden mit Barbarei, nämlich mit Verlust des Gedächtnisses, mit Zerschlagen der Vergangenheit und mit Rückgängigmachen von Fortschritt. Und hat man heute zu Recht die Vorstellung, je fortschrittlicher wir im Hinblick auf unsere Technologien, beispielsweise von Waffen, sind, um so primitiver und rückschrittlicher werden wir eigentlich. Heute ist die ganze Welt mit all den verteilten Atomwaffen ungefähr so gefährlich wie für einen Neandertaler der waffenlose Gang durch die Wiese bei Düsseldorf, also die reine Barbarei.

Da heißt es eben Gedächtnis bilden: Vergegenwärtigung des Vergangenen – als Kulturtechnik bedeutet das Musealisierung, so wie man auch das eigene Leben immer weiter musealisiert, man schreibt langsam seine Biographie, man sieht sein Leben nach Vorstellungen, wie man sie im Theater gewonnen hat, man sieht es sozusagen von außen als einen Zusammenhang. So gilt das eben auch für die Gesellschaft.

Wir haben von Geschichte, vom historischen Prozeß gesprochen. Reden wir doch auch von Gleichzeitigem: Es koexistieren nicht nur sogenannte hohe und niedere Kultur und unterschiedliche Subkulturen in unserer Gesellschaft, sondern auch unterschiedliche Herkunftskulturen. Mehrere Fragen: In welchen Subkulturen bewegst Du Dich, in welcher arbeitest Du, für welche tust Du etwas? Wo kommen in Deiner Arbeit Subkulturen zusammen?

Koexistenz unterschiedlichster Herkünfte und Kulturen ist das Stichwort für Multikultur heute. Meine ganze Gegnerschaft gilt einerseits diesem bisher noch völlig inhaltsleeren Gefasel von Multikultur wie anderseits der prinzipiellen Unmöglichkeit von Multikultur. Ich habe mein Lebtag noch nie einer Sub- oder Teilkultur angehört.

Einspruch, Euer Ehren! Das halte ich für eine plumpe Behauptung, noch nicht mal in Putativnotwehr. Wir zwei beide befinden uns doch im Moment innerhalb eines Subsystems unserer Gesellschaft, das wiederum mit anderen Subsystemen koexistiert.

Nein. Ich habe mich immer einer universalistischen, internationalistischen Tradition verschrieben, so weitgehend sogar, daß ich mir den Vorwurf einhandelte, das sei diktatorisch, als wollte ich allen Leuten die Maximen der Französischen Revolution – auf der Ebene der Organisation von zivilisiertem Leben – einbleuen.

Singst Du auch die Internationale? – Kunst ist Aufbewahrungsort für unerfüllte Forderungen, Hoffnungen und Wünsche. Das gilt für 1968 genauso wie für 1789 und 1989.

Die Internationale war für mich das Zeichen für einen historischen Versuch, so etwas auszudrücken mit den historisch durchaus möglichen Annahmen, daß Internationalisierung und Universalisierung durch das Proletariat entstand, nämlich diejenigen, die keine Basis in ihren Teilkulturen hatten, die nichts besaßen, um sich festzuklammern. Das war damals ein richtiges Konzept. Man konnte sich vorstellen: Wer nicht im Besitz einer kulturellen Eigenständigkeit fixiert ist, neigt um so eher zu universalistischen Geltungen zivilisatorischer Standards.

Das hat sich inzwischen als falsch herausgestellt, weil man dann nicht nur den materiellen Besitz und die symbolische Repräsentanz einer Kultur meinen darf, sondern vor allem die intellektuellen, die geistigen Voraussetzungen, die Fähigkeit zur Urteilsbildung – und die sind ja am rarsten verbreitet. Die Tatsache, daß Leute, die das Projekt der Moderne als Durchsetzung universaler Geltung zivilisatorischer Standards betreiben, eine kleine Minderheit darstellen, bedeutet ja nicht, daß sie eine Subkultur sind.

Ich hatte ein Faible für die Utopie der ästhetischen Unmittelbarkeit zu den Dingen und Ereignissen. Ich sah sie in Stellvertretung für eine Unmittelbarkeit der menschlichen Beziehung in der Gesellschaft, die nicht durch Waren vermittelt sein sollten. Und ich nahm an, das Paradigma sei die zur Schau gestellte Gegenstandsbedeutung. Ich rechne zu Paradebeispielen für Unmittelbarkeit vor allem Ready mades und Objets trouvés. Die Dinge werden zur Schau gestellt und nicht mehr dargestellt. An die Dinge geknüpft sind Gegenstandsbedeutung, auch Erinnerungen und Erfahrungen. Zugleich nahm die allgemeine Vermitteltheit ungemein zu – wie die Bezeichnung schon sagt: in den Medien, und dabei insbesondere an Reklame und Unterhaltung. Sie bieten aber den Rezipienten keinen Unterhalt und vermitteln nicht Arbeit. Gerade die westliche, kapitalistische Form der Vermitteltheit hat sich durchgesetzt. Public Relations sind durch Werbung und Waren vermittelte Beziehungen. Eine paradoxe Form von Unmittelbarkeit mündete in seltsame Formen wie „Kunsttherapie“. Einerseits sollte der Patient ein unmittelbares Verhältnis zum ästhetischen Objekt und damit zu sich selbst bekommen, anderseits wurden die Kunstwerke instrumentalisiert, nämlich zu Zwecken gebraucht, für die sie nimmer gemacht waren. Als hätte Duchamp das geahnt: „Einen Rembrandt als Bügelbrett zu benutzen.“

Eine andere, eine schreckliche Sorte von Unmittelbarkeit ist aber Desymbolisierung, wie sie Alfred Lorenzer charakterisiert hat. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen wurden zunehmend durch unmittelbare Gewalt ausgetragen, etwa bei Stellvertreterkriegen in Fußballstadien und bei Straßenkämpfen bis hin zum Anzünden von Wohnheimen oder Mord an Andersdenkenden. Zunehmend weniger werden Auseinandersetzungen durch Symbole ausgetragen. Wir beobachten Ausbreitung der Gewalttätigkeit sowohl im Alltag wie auch Gewaltdarstellungen in den Medien …

Das ist ganz im Sinne meiner „Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit“. Ästhetik ist die Vermittlung schlechthin und richtet sich gegen die Forderung nach Unmittelbarkeit, ganz in dem Sinne, daß sonst nur der Stärkere übrigbleibt. Der entscheidende Aspekt der falschen Forderung nach Unmittelbarkeit in Liebesbeziehungen, in vielen anderen Erlebnisformen etc. ist ja, daß die Welt sich von selbst erschließt, als sprächen die Kunstwerke, indem ich vor den Bildern meinen Gefühlshosenbund öffne oder die Brust freimache und alles auf mich wirken lasse. Nicht erst seit den 60er Jahren ist damit auch Theoriefeindlichkeit verbunden. Die Leute polemisieren gegen Ästhetik, gegen Philosophie, gegen Wissenschaft überhaupt, indem sie sagen: „Das ist doch alles nur Gerede. Es kommt vor der Kunst darauf an, daß man empfindet!“ Und wenn man dann fragte: „Was empfindet Ihr nun, nachdem ihr stundenlang davor verbracht habt?“, stellte man fest: „Gar nichts, die reine Leere.“

Das ist nicht die Leere im Sinne Cages, Yves Kleins, Manzonis, George Brechts oder Fillious?

Die Leute wollten die Arbeit nicht leisten, sich zu Caspar David Friedrich Kenntnisse und Wissen anzueignen; sie behaupteten, wenn sie draufguckten, würde das Werk aus sich heraus wirken.

Sozusagen magisch?

Unmittelbarkeitsforderung war vor allem eine ideologische Form der Abwehr von Begriffsanstrengung …

… und Mangel an Unlusttoleranz?

Es gab noch eine andere Unmittelbarkeitsforderung: „Zerschlagt die historischen Vermittlungsformen! Zerschlagt die Bürokratien mit ihren Instanzengängen und Dienstwegen!“ Jeder verschafft sich direkten Zugang zum Direktor, zum Kanzler.

Democrazia direttissima à la Beuys?

Das entscheidende Argument, das ich damals gegen die Unmittelbarkeitsfanatiker vorbrachte, welche die Bürokratie als Verhinderung von Entfaltungsmöglichkeiten sahen: Gerade das ist der Sinn der Bürokratie! Wer Unmittelbarkeit fordert, läuft Gefahr, jeden Tag etwas anderes durchsetzen zu wollen. Bürokratie ist dazu da, die spontane Umsetzung jeder Beliebigkeit zu verhindern, um nicht jeden Schwachsinn, der einem am Tag einfällt, am Abend schon Wirklichkeit werden zu lassen …

… um sich auszuleben und sich selbst zu verwirklichen?

Der Journalist steht heute mit seinem Mikrofon vor dem Ereignis, glotzt auf die Leichen und erlaubt sich ein Urteil, das in Wahrheit aber noch eine nachträgliche Verhöhnung des Toten darstellt, weil das Urteil eben nicht über die Anschauungsformen, die sozialen Kompassionsformen, über die historische Erfahrung vermittelt wird.

„Nie wieder Krieg!“ schrieb mir Georg Herold auf einen Doppelbackstein, auf die andere Seite „Nie wieder Käthe Kollwitz!“ Hätte Käthe Kollwitz Erfolg gehabt, hätte sie sich damit überflüssig gemacht. Da dies nicht der Fall ist, ereilte sie dasselbe Schicksal. Welche Chance hat heute der Künstler als Propagator?

Ich bin Optimist aus der Notwendigkeit heraus, etwas Sinnvolles zu tun. Pessimist zu sein, ist nicht sinnvoll, gerade wenn man annimmt, daß ohnehin der Lauf der Dinge statt hat. Deswegen kann ich auch dem Postulat „Nie wieder Krieg“ nichts abgewinnen: Es wird keine Kriege mehr geben? Ich sehe doch: Das ist die normale Art der Auseinandersetzung zwischen Menschen.

Wenn ich das, was der Fall ist, nämlich den Ernstfall, akzeptiere, dann kann ich aufhören, noch irgend etwas zu denken, zu gestalten oder überhaupt etwas zu sagen. Wenn ich noch irgend etwas auf mich Bezogenes in der Welt erkennen will, dann muß ich tatsächlich sagen „Nie wieder Krieg!“ Trotzdem weiß ich, daß das gar nicht eintrifft. Sinnvoll werden Aussagen erst, wenn sie zum Beispiel kontrafaktisch „Nie wieder Krieg!“ besagen. Trotzdem ist das kein Utopismus, denn die Anerkennung der Wirklichkeit bedeutet für mich immer Anerkennung dessen, worauf Menschen sowieso keinen Einfluß haben.

Zur Verständigung: Wie begründest Du Deine Auffassung von Wirklichkeit?

Als eine rein philosophisch notwendige Bestimmung dieses Begriffs. Wirklichkeit hat nur philosophisch einen Sinn, wenn es die Sphäre dessen ist, was mir prinzipiell weder durch Denken noch durch Tun zugänglich ist. Nur dieser Wirklichkeitsbegriff macht Sinn. Wirklichkeit ist die Sphäre, auf die die Menschen mit ihrem Tun und Treiben keinen Einfluß haben. Basta. Das Zurechtzimmern von Wirklichkeit – jeder konstruiert seine Wirklichkeit nach eigenem Bilde –, das ist alles Lügerei und Sichetwasvormachen. Aber die Anerkennung der Wirklichkeit bedeutet ja keineswegs, daß ich mich dem, was da ohnehin der Fall ist, ohne weiteres subsumiere, sonst brauchte ich ja gar nicht zu leben.

Ist jene Behauptung, jeder zimmere sich seine eigene Wirklichkeit selbst zusammen, etwa irrig nach Erkenntnissen der Hirnphysiologie, der Logik oder Lernforschung? Jedenfalls setzt sie sich aber doch als Opinio communis durch.

Die sogenannten Konstruktivisten der Wissenschaftstheorie, die psychologische Ebene hat Watzlawick mit seiner Kohorte dargestellt, den Rest konstruieren jetzt die Herren Schmidt-Wulffen & Co. in Siegen, die radikalen Konstruktivisten. Das ist eine philosophisch schwache Position. Es sind eigentlich die Auffassungen, in denen man das Problem umgeht, das man gerade zu lösen hat. Wenn ich nämlich den totalen Konstruktivismus behaupte, dann gibt es gar keine Probleme mehr. Wenn alles nur eine Frage des Ausgedachtseins ist, habe ich keine Probleme.

Bin ich dann etwa im „bio-adapter“ von Oswald Wiener gelandet?

Ich habe erst Probleme, wenn ich mich als einzelner Mensch wie in der Kollektivität des menschlichen Zusammenlebens Problemen gegenübersehe, die ich nicht lösen kann. Erst wenn ich es mit der Condition humaine, der Wirklichkeit zu tun habe, dann bedeutet dies das Sichauseinandersetzen oder Arbeiten an der Welt überhaupt. Wenn ich alles auf der Ebene der konstruktivistischen Radikalität lasse, dann ist die Welt von vornherein ein Irrenhaus. Das ist die Wissenschaft als psychiatrische Anstalt, und das machen diese Leute uns ja vor.

Die menschliche Kultur ist in einem hohen Maße auf die kontrafaktische Behauptung, vornehmlich als Hoffnung oder als Intervention unter Menschen selbst gedacht. Es kann ja sein, daß die Menschen als naturevolutionäre Produkte Wirklichkeit sind – als Kulturprodukte sind sie kontrafaktische Behauptungen. Jetzt ist für mich das einzige Problem: Wodurch unterscheidet sich die kontrafaktische Behauptung „Nie wieder Krieg!“ von der kontrafaktischen Behauptung eines Carl Schmitt? Darauf die Antwort: Carl Schmitt hat ja keine kontrafaktische Behauptung aufgestellt, sondern die schiere Behauptung der Wirklichkeit, nichts anders als Natur. Das Dritte Reich ist eine immense kontrafaktische Behauptung, der Totalitarismus im Sinne von Tausendjährigkeit oder Ewigkeit.

Wenn ich Ewigkeit postuliere, dann ist das gegen alle Wirklichkeit des Wandels, es ist die kontrafaktische Behauptung par excellence – sie kommt eigentlich der Kultur zu: nämlich etwas ein für allemal als richtig und damit auf Dauer stellen zu wollen. Utopisten aus Realismus, die wissen, daß die Realität ganz anders ist und deshalb nur noch etwas kontrafaktisch behaupten, und anderseits die kontrafaktischen Behauptungen der Verächter bzw. der wirklichen totalitären Draufschläger, der Festnagler oder Kreuziger haben eine unglaubliche Ähnlichkeit und können häufig gar nicht voneinander unterschieden werden von dem, was objektiv behauptet wird. Man sollte seine Anstrengungen stärker darauf richten zu erkennen, daß Kultur als das Kontrafaktische selbst ständig in uns die Neigung darstellt, tausendjährige Wunder auf die gleiche Weise als kulturelle Höchstleistung zu behaupten wie die Forderung nach Friede oder Menschheitsvereinigung …

„Rock gegen Rechts!“ Manchen ist das Hemd näher als der Rock. Rudolf Krämer-Badoni meinte vor Jahren warnen zu müssen: „Vorsicht, gute Menschen von links!“ Natürlich muß man heute sagen: „Vorsicht, schlechte Menschen von rechts!“ Warum sehen sie den politischen Feind immer noch links? – Böhse Onkelz und auf der anderen Seite „gute Tanten“ wie Grönemeyer, Lindenberg? Mutter Theresa singt? Wo siehst Du in der Jugendkultur eine effektive Chance?

Erst einmal darin, daß man den Jugendlichen nicht nachläuft. Wenn ich Jugendlicher wäre, würde ich doch die Gesellschaft heute vorführen bis zum Gehtnichtmehr, wo sich jeder Sozialarbeiter für mich verantwortlich fühlt und wo ich nur sagen muß: „Ich bin gewalttätig, weil’s kein Jugendzentrum gibt“, oder „Ich bin Radaubruder, weil meine Mami mich nicht genügend liebt.“ Die diktieren ihren Psychiatern und den Journalisten ja schon ins Stammbuch: „Schreiben Sie auf: Mein Vater und meine Mutter haben mich als Schlüsselkind erzogen, deswegen randaliere ich jetzt!“ Eine Gesellschaft, die sich in ihrem schlechten Gewissen suhlt und zugleich Jugendkult betreibt, die hat es doch nicht anders verdient.

Jene Jugendlichen wünschen sich ja nichts anderes, als daß sie jemand für so gewalttätig und bedeutsam hält, daß er sie mit Geld zuschüttet und als rohes Ei der Gesellschaft behandelt. Das ist in der Politik doch ganz genauso. Die Regierung lügt wie gedruckt. Die Parteien lassen sich bestechen und schwarz finanzieren. Alles, was die Jugendlichen sich auch wünschen, nehmen sich die Alten. Der Staat kümmert sich einen Dreck um die existierenden Gesetze. Mehr und mehr werden Gesetze gebrochen, siehe Asylbewerber. Um die Brechung der existierenden Gesetze zu umgehen, basteln sie an neuen Gesetzen herum, die sie dann ebenfalls wieder umgehen werden.

Das gilt auch für die Seite der Kritik: „Wir brauchen ein anständiges Einwanderungsgesetz statt eines Asylgesetzes“. Ja um Himmels willen, was macht man mit 500.000 Leuten, die ohne Einwanderungsschein vor der Tür stehen? Es ist dasselbe Problem wie heute mit denen, die keine Asylberechtigung haben. Machtpolitik setzt sich eben durch, alles wird zum eigenen Vorteil ausgenutzt. Und das machen die Jugendlichen nach. Ich finde die gut, die sich in wilden Gesten absetzen und uns jetzt dazu zwingen, tatsächlich über das Bekenntnisgetue hinauszugehen. Es kann ja nicht bei den Lichterketten bleiben, das sind doch nur vorübergehend erklärbare Entlastungsversuche. Das Gebrülle wird sich fortsetzen. Und hier jaulen sie uns die Ohren voll: „Mörderbanden gegen Asylanten.“ Mit höchster Legitimation durch die in den Sportstadien antretenden Politiker usw. findet seit 15 Jahren andauernde Randale statt, das ist genauso eine Brutalisierung mit Feuerwerkskörpern und Schlägereien – geradezu genossen als Höhepunkte der Fankultur. Wie sonst in der Gesellschaft sind die Politiker mit Lippenbekenntnissen dagegen angetreten. Während auf den Rängen Gewalttätigkeiten stattfinden, für viele Sinn der Veranstaltungen, sagt aber die Kommerzialisierung des Sports tatsächlich nichts anderes.

Das alles enthüllt sich jetzt durch die Mörder rechter Herkunft genauso in der Jugendkultur wie in der Politik und in der Wirtschaft. Was soll denn jemand denken, wenn über -zig Jahre die Industrie Waffen an irgendeinen Hansel in Afrika schickt, damit der die eigenen Leute im Bürgerkrieg erledigen kann? Wo als industrie-kulturelle Leistungen unserer Waffenproduzenten Bürgerkriege dargestellt werden, lügen sie einem doch die Hucke voll. Ich finde es so peinlich, wie sich unsere Waffenfabrikanten als gute Unternehmer im Interesse ihrer Angestellten darstellen. Was bei der Unternehmung herauskommt, die produzierten Waffen im Einsatz, die wollen sie nicht sehen.

Das ist die typische Art, das Problem nicht sehen zu wollen. Deshalb war ich ganz radikal gegen dieses Humanitätsgejaule der Typen, die das Desaster systematisch als Geschäfts- und Parteiunternehmung betreiben. Solange auf der Politik- und Sportebene nichts anderes stattfindet, sind die Ereignisse in Mölln oder Rostock genau der Ausdruck dessen, was diese Gesellschaft will, der Ausdruck ihres Selbstverständnisses, und zwar mit höchster Billigung. Dagegen mit Lichterketten anzutreten – das zeugt von perfider Moral, indem man die anderen als Rassisten stigmatisiert und sich selbst in den Himmel hebt.

Solange die Humanitätsapostel sich von anderen absetzen anstatt zu erkennen, daß sie ja selbst zur Gesellschaft gehören, die da in Mölln oder Rostock Steine schmeißt, die da brandstiftet, so lange halte ich das für die schiere Heuchelei. Es ist typisch für Deutsche, aus Unterwürfigkeit, aus Arschkriecherei, aus genau den schlechten Eigenschaften, die uns die Welt vorwirft, sich als die besseren Menschen darzustellen gegenüber den schlechten, als die humanitär gesonnenen gegenüber dem Mob …

Das Peinlichste, was ich je erlebt habe!

Bazon Brock als Peggy Guggenheim, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon Brock als Peggy Guggenheim, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon Brock als Peggy Guggenheim, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981Film von Werner Nekes zur Westkunst, Düsseldorf 1981.
Bazon Brock als Peggy Guggenheim, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981Film von Werner Nekes zur Westkunst, Düsseldorf 1981.
Bazon als Peggy Guggenheim, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon als Peggy Guggenheim, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon Brock als  Jean Dubuffet, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon Brock als Jean Dubuffet, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon Brock als Jean Dubuffet, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.
Bazon Brock als Jean Dubuffet, in „Peggy und die anderen oder: Wer trägt die Avantgarde“, Bild: Film von Werner Nekes und Bazon Brock zur Ausstellung „Westkunst“, Köln 1981.

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