Eine Essenz

Einen Höhepunkt der Auseinandersetzung um die erkenntnistheoretische Problematik von echten Fälschungen erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg die Lübecker. Als man daran ging, die von Bomben schwer beschädigte Marienkirche am Marktplatz zu sichern und wieder herzustellen, entdeckte man entlang der Chorwände unterhalb des Dachs einige Fresken in sensationell gutem Erhaltungszustand, die man für romanisch hielt. Die Kunstwelt, Ordinarien der Kunstgeschichte, Mediävisten und Ministerpräsidenten pilgerten erwartungsfroh zur Anbetung der Kunstoffenbarung. Zur Feier der Vollendung der Restaurierung richtete man einen großen Festakt aus. Ganz hinten im Festsaal saßen die Handwerker und hörten, wie die Experten auf der Tribüne die einmalige Leistung eines mittelalterlichen Künstlers priesen und die Kirchenvertreter sich über die kulturelle Bedeutung menschlicher wie göttlicher Schöpferkraft ergingen. Schließlich erhob sich einer von den billigen Plätzen und bekannte, daß er sich sehr gewürdigt und geehrt fühle, nach so einer Vergewisserung seines Könnens durch die anwesenden Kapazitäten. Er danke ergebenst, denn er sei der geniale Schöpfer dieser Fresken und heiße Lothar Malskat. Naturgemäß verschwand Malskat für längere Zeit hinter Gefängnisgittern. Er konnte nie nachvollziehen, warum dieselben Kunstwissenschaftler, die zuvor die entdeckten Arbeiten in höchsten Tönen gepriesen hatten, von dem Augenblick seines Bekenntnisses an ihnen jede Bedeutung absprachen. Leider haben die Experten, um ihre Blamage vergessen zu machen, das Malskat’sche Werk eines romanischen Großmeisters mit Hilfe ebenso ahnungsloser Staatsanwälte, Richter und der üblichen Beteiligten an Großtaten von Dummheit verschwinden lassen.
Quelle

Kunst als Evidenzkritik - Erkenntnisstiftung durch wahre Falschheit – Abschnitt in:

Lustmarsch durchs Theoriegelände

Lustmarsch durchs Theoriegelände

Buch · Erschienen: 10.10.2008 · Autor: Brock, Bazon

Hat diese Textstelle markiert:

Bitte melden Sie sich an, um Essenzen zu markieren oder zu bearbeiten.